Michel Leiris wird hier als diskrete Schlüsselfigur einer anderen literarischen Moderne neu lesbar gemacht. Sie wendet sich der Ethnologie zu, um ihre Schreib- und Lebensspiele im Lichte fremdkultureller Praktiken zu reflektieren.Michel Leiris (1901-1990) war beides, Surrealist und Ethnologe. Als Grenzgänger und Dissident in zwei Welten, der literarischen und der wissenschaftlichen, wurde er zu einem frühen Kritiker des Kolonialismus und des europäischen Literaturverständnisses, das er durch Sprachexperimente und radikale Selbstanalysen außer Kraft setzen wollte.Das Buch präsentiert Leiris im künstlerischen und intellektuellen Kräftefeld des Surrealismus, der Vorlesungen von Marcel Mauss, des Musée d`ethnographie du Trocadéro, der Zeitschrift Documents und des Collège de Sociologie (1937-1939). Als er während der Mission Dakar-Djibouti (1931-1933) erlebt, wie Andere sich entgrenzen,stellt Leiris eine Reversibilität zwischen eigenen und fremden Fremderfahrungen her: Seine Auffassung von »Poesie« und »Autobiographie« entfaltet er fortan in einem Dialog mit der Geheimsprache der Dogon und dem äthiopischen zar-Kult.Irene Albers verfolgt diese ethnologische Poetik, die bis in die Weltliteraturprojekte der Nachkriegszeit sowie die bis heute weiterwirkenden Karibik-Diskurse reicht, an denen Leiris sich früh beteiligte. Ihre Studie ist ein Beitrag zu aktuellen Diskussionen über literarischen Primitivismus, Weltliteratur, Heteronomieästhetik und symmetrisierende Revisionen der Moderne.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2018Raubkunst war ihm ganz geläufig
Wo sich Literatur, Avantgardekunst und Ethnologie verknüpfen: Irene Albers führt auf anregende Weise durch das Werk von Michel Leiris.
Seit der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz vor mehr als dreißig Jahren Kulturen zu "selbstgesponnenen Bedeutungsgeweben" erklärte, die wie literarische Texte ausgelegt werden könnten, sind Ethnologie und Literaturwissenschaft eine Symbiose eingegangen. Mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Theorien klärten Ethnologen sich über ihre eigenen Textstrategien auf. Im Gegenzug konnten sich Literaturwissenschaftler neue Forschungsfelder erschließen, die weiter über den Kernbereich ihres Faches hinausgingen. Ein Spross dieser von einigen Ethnologen allerdings auch als übergriffig empfundenen Liebesbeziehung ist in Deutschland die Kulturwissenschaft, der es gelang, ihr altes DDR-Erbe abzustreifen und sich im akademischen Fächerkanon fest zu etablieren. Von dieser Entwicklung her gesehen ist es nur folgerichtig, dass kulturelle Grenzgänger, die sich schon immer zwischen den Genres und Disziplinen bewegt haben, heute eine Neubewertung erfahren.
Zu ihnen zählt auch der französische Schriftsteller und Ethnologe Michel Leiris, zu dessen Werk die Berliner Literaturwissenschaftlerin Irene Albers ein nicht nur vom Umfang her gesehen gewichtiges Buch vorgelegt hat. Allein der überbordende Anmerkungsteil zeigt, dass ihr kein Artikel zu Leiris und seinem unmittelbaren Umfeld entgangen sein dürfte. Sie nutzt dieses Wissen, um sich ihrem Gegenstand kontextualisierend wie eine Ethnologin zu nähern, und gewinnt ihm dadurch zahlreiche neue Aspekte ab.
Albers beginnt dort, wo Werkbiographien gewöhnlich enden: mit der Rezeption. Zu Recht weist sie auf die großen Verdienste von Hans-Jürgen Heinrichs hin, der Leiris durch seine Editionen in Deutschland bekannt machte, als er in Frankreich fast schon vergessen war; in die französische Klassikerreihe der Bibliothèque de la Pléiade wurde er erst vor vier Jahren aufgenommen. Überhaupt scheinen seine literarischen Erben, zu denen Albers auch Hubert Fichte und Yoko Tawada zählt, eher bei uns als in seinem Heimatland zu finden zu sein. Dabei ist gerade sein Lebensweg charakteristisch für die enge Verbindung von Literatur, künstlerischer Avantgarde und Ethnographie, die für die Anfangsphase der akademischen Ethnologie in Frankreich charakteristisch ist.
1901 in Paris geboren, schloss Leiris sich der surrealistischen Bewegung bereits in frühen Jahren an und gehörte seit 1924 zum Kreis um André Breton, mit dem er die grundsätzliche Oppositionshaltung gegenüber der eigenen Gesellschaft teilte. Sie war bei ihm allerdings mehr als ein nur leises "Unbehagen in der Kultur". Seinem Abscheu vor der Zivilisation, die er einmal mit dem "dünnen, grünlichen Film" vergleicht, der "die Oberfläche stehender Gewässer überzieht", korrespondierte sein lebenslanger Wunsch, ein anderer zu sein. Anschaulich schildert Irene Albers den exzessiven Lebensstil des gerade einmal Dreiundzwanzigjährigen, der sich - fast ständig alkoholisiert - in das Pariser Nachtleben mit seinen afroamerikanischen Blues-Sängerinnen, Jazzclubs und Revues Nègres stürzt. Seine "Negrophilie" ist nach Albers freilich nur die Kehrseite seines "Antiokzidentalismus". Er engagiert sich gegen den Kolonialismus und erregt mit einer demonstrativen Veranstaltung zur Unterstützung des nordafrikanischen Freiheitskämpfers Abd el-Krim einen ersten Skandal. Auch sein erstes Interesse für die Ethnologie rührt aus dieser Zeit. 1929 kommt es zum Bruch mit Breton, dessen politisch-doktrinärer Stil ihm wie auch einigen anderen Abtrünnigen wie Georges Bataille oder André Masson immer weniger behagt. Gemeinsam gruppieren sie sich um die 1929 neugegründete Zeitschrift "Documents". Neben surrealistischen Texten und Collagen veröffentlicht das zur "Kriegsmaschine gegen vorgeprägte Meinungen" deklarierte Organ auch ethnographische Abhandlungen. Sie stammen von Angehörigen des nur zwei Jahre zuvor an der Sorbonne von Marcel Mauss, Paul Rivet und Lucien Lévy-Bruhl gegründeten Institut d'Ethnologie. Auch Mauss selbst steuert einen Beitrag bei. Die kurzlebige Zeitschrift wird so zum ersten Begegnungsort zwischen Surrealisten und Ethnologen. Den imaginären Gegenwelten des Surrealismus korrespondieren die realen Gegenwelten, denen Ethnographen im subsaharischen Afrika, in den Urwäldern Südamerikas oder in der Inselwelt Ozeaniens begegnen.
Dem engeren Kreis um die Zeitschrift schließt sich 1930 auch Marcel Griaule an, Marcel Mauss' begabtester Schüler. Gerade von einem Aufenthalt in Äthiopien zurückgekehrt, macht er sich noch im selben Jahr an die Vorbereitung einer neuen Forschungsreise, der Dakar-Djibouti-Expedition, die als Initialunternehmen der französischen Ethnologie in die Wissenschaftsgeschichte eingehen wird. Leiris befreundet sich mit Griaule und nimmt sein Angebot an, ihn als Archivar und Sekretär zu begleiten. Schon was in der Vorbereitungsphase geschieht, mutet absurd an. Der Antikolonialismus scheint vergessen. Die Organisatoren biedern sich bei den staatlichen Behörden an, um Mittel für ein Vorhaben zu erhalten, von dem sie behaupten, es würde nicht nur der Wissenschaft, sondern auch den Kolonialverwaltungen dienen. Zugleich versuchen sie, durch einen medienwirksamen Schaukampf des afroamerikanischen Boxers Al Brown auch private Geldgeber zu gewinnen.
1934 veröffentlicht Leiris "Phantom Afrika", sein Tagebuch über den Verlauf der zweijährigen Forschungsreise quer durch Afrika. Damit löst er einen weiteren Skandal aus, der den bis dahin wenig bekannten Autor schnell berühmt machen sollte. Rücksichtslos gegenüber seinen Mitreisenden, berichtet er über deren koloniales Gehabe, ihren arroganten Umgang mit den Einheimischen und die fragwürdigen Praktiken, mit denen sie sich in den Besitz der von ihnen begehrten "Sammelstücke" setzten. Doch macht er auch vor der eigenen Person nicht halt. Seine Befragungsmethoden vergleicht er mit Polizeiverhören, auch in sich selbst erkennt er den "Kolonialherren", während er sich gleichzeitig in wilden Ausbruchs- und erotischen Phantasien ergeht. Seine Sehnsüchte und Wünsche bleiben freilich unerfüllt. "Mein exotischer Wahn ist zu Ende", so heißt es auf einer der letzten Seiten seines Reisetagebuchs.
Zurück in Paris, nimmt sein Leben eine unerwartete Wende. Trotz seiner Desillusionierung beschließt er, Ethnologie zu studieren und die auf der Reise gesammelten Beobachtungen systematisch auszuwerten. Das Metier des Schriftstellers, in dessen Werken sich das eigene Selbst immer mehr in den Vordergrund schiebt, gibt er dennoch nicht auf. "Mannesalter", die 1939 erschienene Vorstufe zu seiner erst 1976 abgeschlossenen vierbändigen Autobiographie "Die Spielregel", gilt auch heute noch als eines seiner wichtigsten Werke. Zu gleichen Zeit arbeitet er an seiner sprachwissenschaftlichen Abhandlung über die Geheimsprache der Dogon, die er 1948 an der Sorbonne als akademische Qualifikationsschrift einreicht. Zehn Jahre später folgt sein Buch über die theatralischen Aspekte eines äthiopischen Besessenheitskults. Hinter dem radikalen Subjektivismus seines schriftstellerischen Werks und dem Objektivismus seiner ethnographischen Abhandlungen möchte man kaum denselben Autor vermuten. Der Trennung in Inhalt und Stil entspricht auch eine räumliche. Während er für seine ethnologischen Arbeiten tagsüber seine Büro im Musée de l'Homme aufsucht, in dem er später fest angestellt sein wird, verfasst er seine literarischen Schriften in einer kleinen Schreibecke des ehelichen Schlafzimmers.
Hat man sich Irene Albers' sachkundiger Führung durch Michel Leiris' Werk erst einmal anvertraut, ist man immer wieder überrascht davon, wie viel in ihm bereits vorweggenommen ist: die radikale Kolonialismuskritik; die Frage, wie sich der subjektive Standpunkt des Beobachters auf Auswahl und Deutung seiner Daten auswirkt; die Entdeckung der "inversen Ethnographie" in den Maskentänzen und Besessenheitskulten der Kolonisierten. Und die verschiedenen "Kehren", die in den letzten zwanzig Jahren die Kulturwissenschaften geprägt haben: der "linguistic turn", für den Leiris' Arbeit über die Geheimsprache der Dogon steht, die "performative Wende", die in seiner Abhandlung über den äthiopischen Zar-Kult bereits präfiguriert ist. Und natürlich auch die gegenwärtige Raubkunstdebatte, in der er so häufig als Kronzeuge angerufen wird.
KARL-HEINZ KOHL
Irene Albers: "Der diskrete Charme der Anthropologie". Michel Leiris' ethnologische Poetik.
Konstanz University Press/ Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 904 S., Abb., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo sich Literatur, Avantgardekunst und Ethnologie verknüpfen: Irene Albers führt auf anregende Weise durch das Werk von Michel Leiris.
Seit der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz vor mehr als dreißig Jahren Kulturen zu "selbstgesponnenen Bedeutungsgeweben" erklärte, die wie literarische Texte ausgelegt werden könnten, sind Ethnologie und Literaturwissenschaft eine Symbiose eingegangen. Mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Theorien klärten Ethnologen sich über ihre eigenen Textstrategien auf. Im Gegenzug konnten sich Literaturwissenschaftler neue Forschungsfelder erschließen, die weiter über den Kernbereich ihres Faches hinausgingen. Ein Spross dieser von einigen Ethnologen allerdings auch als übergriffig empfundenen Liebesbeziehung ist in Deutschland die Kulturwissenschaft, der es gelang, ihr altes DDR-Erbe abzustreifen und sich im akademischen Fächerkanon fest zu etablieren. Von dieser Entwicklung her gesehen ist es nur folgerichtig, dass kulturelle Grenzgänger, die sich schon immer zwischen den Genres und Disziplinen bewegt haben, heute eine Neubewertung erfahren.
Zu ihnen zählt auch der französische Schriftsteller und Ethnologe Michel Leiris, zu dessen Werk die Berliner Literaturwissenschaftlerin Irene Albers ein nicht nur vom Umfang her gesehen gewichtiges Buch vorgelegt hat. Allein der überbordende Anmerkungsteil zeigt, dass ihr kein Artikel zu Leiris und seinem unmittelbaren Umfeld entgangen sein dürfte. Sie nutzt dieses Wissen, um sich ihrem Gegenstand kontextualisierend wie eine Ethnologin zu nähern, und gewinnt ihm dadurch zahlreiche neue Aspekte ab.
Albers beginnt dort, wo Werkbiographien gewöhnlich enden: mit der Rezeption. Zu Recht weist sie auf die großen Verdienste von Hans-Jürgen Heinrichs hin, der Leiris durch seine Editionen in Deutschland bekannt machte, als er in Frankreich fast schon vergessen war; in die französische Klassikerreihe der Bibliothèque de la Pléiade wurde er erst vor vier Jahren aufgenommen. Überhaupt scheinen seine literarischen Erben, zu denen Albers auch Hubert Fichte und Yoko Tawada zählt, eher bei uns als in seinem Heimatland zu finden zu sein. Dabei ist gerade sein Lebensweg charakteristisch für die enge Verbindung von Literatur, künstlerischer Avantgarde und Ethnographie, die für die Anfangsphase der akademischen Ethnologie in Frankreich charakteristisch ist.
1901 in Paris geboren, schloss Leiris sich der surrealistischen Bewegung bereits in frühen Jahren an und gehörte seit 1924 zum Kreis um André Breton, mit dem er die grundsätzliche Oppositionshaltung gegenüber der eigenen Gesellschaft teilte. Sie war bei ihm allerdings mehr als ein nur leises "Unbehagen in der Kultur". Seinem Abscheu vor der Zivilisation, die er einmal mit dem "dünnen, grünlichen Film" vergleicht, der "die Oberfläche stehender Gewässer überzieht", korrespondierte sein lebenslanger Wunsch, ein anderer zu sein. Anschaulich schildert Irene Albers den exzessiven Lebensstil des gerade einmal Dreiundzwanzigjährigen, der sich - fast ständig alkoholisiert - in das Pariser Nachtleben mit seinen afroamerikanischen Blues-Sängerinnen, Jazzclubs und Revues Nègres stürzt. Seine "Negrophilie" ist nach Albers freilich nur die Kehrseite seines "Antiokzidentalismus". Er engagiert sich gegen den Kolonialismus und erregt mit einer demonstrativen Veranstaltung zur Unterstützung des nordafrikanischen Freiheitskämpfers Abd el-Krim einen ersten Skandal. Auch sein erstes Interesse für die Ethnologie rührt aus dieser Zeit. 1929 kommt es zum Bruch mit Breton, dessen politisch-doktrinärer Stil ihm wie auch einigen anderen Abtrünnigen wie Georges Bataille oder André Masson immer weniger behagt. Gemeinsam gruppieren sie sich um die 1929 neugegründete Zeitschrift "Documents". Neben surrealistischen Texten und Collagen veröffentlicht das zur "Kriegsmaschine gegen vorgeprägte Meinungen" deklarierte Organ auch ethnographische Abhandlungen. Sie stammen von Angehörigen des nur zwei Jahre zuvor an der Sorbonne von Marcel Mauss, Paul Rivet und Lucien Lévy-Bruhl gegründeten Institut d'Ethnologie. Auch Mauss selbst steuert einen Beitrag bei. Die kurzlebige Zeitschrift wird so zum ersten Begegnungsort zwischen Surrealisten und Ethnologen. Den imaginären Gegenwelten des Surrealismus korrespondieren die realen Gegenwelten, denen Ethnographen im subsaharischen Afrika, in den Urwäldern Südamerikas oder in der Inselwelt Ozeaniens begegnen.
Dem engeren Kreis um die Zeitschrift schließt sich 1930 auch Marcel Griaule an, Marcel Mauss' begabtester Schüler. Gerade von einem Aufenthalt in Äthiopien zurückgekehrt, macht er sich noch im selben Jahr an die Vorbereitung einer neuen Forschungsreise, der Dakar-Djibouti-Expedition, die als Initialunternehmen der französischen Ethnologie in die Wissenschaftsgeschichte eingehen wird. Leiris befreundet sich mit Griaule und nimmt sein Angebot an, ihn als Archivar und Sekretär zu begleiten. Schon was in der Vorbereitungsphase geschieht, mutet absurd an. Der Antikolonialismus scheint vergessen. Die Organisatoren biedern sich bei den staatlichen Behörden an, um Mittel für ein Vorhaben zu erhalten, von dem sie behaupten, es würde nicht nur der Wissenschaft, sondern auch den Kolonialverwaltungen dienen. Zugleich versuchen sie, durch einen medienwirksamen Schaukampf des afroamerikanischen Boxers Al Brown auch private Geldgeber zu gewinnen.
1934 veröffentlicht Leiris "Phantom Afrika", sein Tagebuch über den Verlauf der zweijährigen Forschungsreise quer durch Afrika. Damit löst er einen weiteren Skandal aus, der den bis dahin wenig bekannten Autor schnell berühmt machen sollte. Rücksichtslos gegenüber seinen Mitreisenden, berichtet er über deren koloniales Gehabe, ihren arroganten Umgang mit den Einheimischen und die fragwürdigen Praktiken, mit denen sie sich in den Besitz der von ihnen begehrten "Sammelstücke" setzten. Doch macht er auch vor der eigenen Person nicht halt. Seine Befragungsmethoden vergleicht er mit Polizeiverhören, auch in sich selbst erkennt er den "Kolonialherren", während er sich gleichzeitig in wilden Ausbruchs- und erotischen Phantasien ergeht. Seine Sehnsüchte und Wünsche bleiben freilich unerfüllt. "Mein exotischer Wahn ist zu Ende", so heißt es auf einer der letzten Seiten seines Reisetagebuchs.
Zurück in Paris, nimmt sein Leben eine unerwartete Wende. Trotz seiner Desillusionierung beschließt er, Ethnologie zu studieren und die auf der Reise gesammelten Beobachtungen systematisch auszuwerten. Das Metier des Schriftstellers, in dessen Werken sich das eigene Selbst immer mehr in den Vordergrund schiebt, gibt er dennoch nicht auf. "Mannesalter", die 1939 erschienene Vorstufe zu seiner erst 1976 abgeschlossenen vierbändigen Autobiographie "Die Spielregel", gilt auch heute noch als eines seiner wichtigsten Werke. Zu gleichen Zeit arbeitet er an seiner sprachwissenschaftlichen Abhandlung über die Geheimsprache der Dogon, die er 1948 an der Sorbonne als akademische Qualifikationsschrift einreicht. Zehn Jahre später folgt sein Buch über die theatralischen Aspekte eines äthiopischen Besessenheitskults. Hinter dem radikalen Subjektivismus seines schriftstellerischen Werks und dem Objektivismus seiner ethnographischen Abhandlungen möchte man kaum denselben Autor vermuten. Der Trennung in Inhalt und Stil entspricht auch eine räumliche. Während er für seine ethnologischen Arbeiten tagsüber seine Büro im Musée de l'Homme aufsucht, in dem er später fest angestellt sein wird, verfasst er seine literarischen Schriften in einer kleinen Schreibecke des ehelichen Schlafzimmers.
Hat man sich Irene Albers' sachkundiger Führung durch Michel Leiris' Werk erst einmal anvertraut, ist man immer wieder überrascht davon, wie viel in ihm bereits vorweggenommen ist: die radikale Kolonialismuskritik; die Frage, wie sich der subjektive Standpunkt des Beobachters auf Auswahl und Deutung seiner Daten auswirkt; die Entdeckung der "inversen Ethnographie" in den Maskentänzen und Besessenheitskulten der Kolonisierten. Und die verschiedenen "Kehren", die in den letzten zwanzig Jahren die Kulturwissenschaften geprägt haben: der "linguistic turn", für den Leiris' Arbeit über die Geheimsprache der Dogon steht, die "performative Wende", die in seiner Abhandlung über den äthiopischen Zar-Kult bereits präfiguriert ist. Und natürlich auch die gegenwärtige Raubkunstdebatte, in der er so häufig als Kronzeuge angerufen wird.
KARL-HEINZ KOHL
Irene Albers: "Der diskrete Charme der Anthropologie". Michel Leiris' ethnologische Poetik.
Konstanz University Press/ Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 904 S., Abb., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»ein nicht nur vom Umfang her gesehen gewichtiges Buch.« (Karl-Heinz Kohl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.09.2018) »Es handelt sich (...) um ein sehr lesbares Buch, in dessen 900 Seiten man regelrecht versinken kann.« (Peter Braun, Anthropos, 2020.2)