Endlich mal wieder ein richtig schöner englischer Krimi, dachte ich mir, als ich vor einer Zugfahrt im Zeitungsladen stand. So wie wir es von Cyril Hare oder Agatha Christie kennen: Ein Mordfall als Rätsel, das aufgeklärt wird von einer ebenso liebenswerten wie überraschend zielstrebigen kleinen
Gesellschaft ausgeprägter Charaktere. Diese Miss Marple heißt Joyce und ist eine pensionierte…mehrEndlich mal wieder ein richtig schöner englischer Krimi, dachte ich mir, als ich vor einer Zugfahrt im Zeitungsladen stand. So wie wir es von Cyril Hare oder Agatha Christie kennen: Ein Mordfall als Rätsel, das aufgeklärt wird von einer ebenso liebenswerten wie überraschend zielstrebigen kleinen Gesellschaft ausgeprägter Charaktere. Diese Miss Marple heißt Joyce und ist eine pensionierte Krankenschwester. Sie lebt in einer Alten-Residenz für Reiche, in der man normalerweise keine pensionierten Krankenschwestern findet. (Sie muss sich gut verheiratet haben.) Bald nach ihrem Einzug lernt sie die Mitglieder des Mordclubs kennen.
Elizabeth, zum Beispiel
Sie kauft Pennys Shampoo immer in dem Laden in Coopers Chase. „Zwischendurch war es aus dem Sortiment genommen, aber Elizabeth hat der Geschäftsleitung einen Besuch abgestattet, und jetzt führen sie es wieder.“ Na, da wissen wir Bescheid.
Elizabeth ist nicht nur energisch, sie ist auch mit allen Wassern gewaschen als ehemalige Geheimagentin: Für mich als Leserin ist es aber beruhigend zu wissen, so eine kompetente Person an meiner Seite zu wissen.
Die lieben Altchen
So findet sich der ermittelnde Kriminalpolizist Chris Hudson – er bügelt seine Hemden nie und verschiebt das richtige Leben auf die Zeit, wenn er ein paar Kilo abgenommen haben wird – nach dem ersten Viertel des Buches in einer Verhörsituation wieder, die es in sich hat: Eingeklemmt zwischen Miss Marple Joyce und Ibrahim, dem pensionierten Psychiater, sitzt er auf einem Zweisitzer-Sofa, bewegungsunfähig gemacht durch eine Tasse zu heißen Tee, ohne Gelegenheit, sie irgendwo abzustellen. Die alten Leute um ihn herum schwatzen munter über selbst gebackenen Kuchen und die aktuellen TV-Krimiserien. Keinen Augenblick kommt Chris auf die Idee, dass er es ist, der hier ausgehorcht werden soll.
Aber dann haben sie doch irgendwie Mitleid mit ihm, und er bekommt einen eigenen Stuhl.
Die Bösen
Und so ähnlich ist es mit dem ganzen Buch: So schlimm ist es dann auch wieder nicht. OK, es kommen ein paar Leute um, und es gibt auch ein paar richtig böse Menschen wie Ian Ventham, den Investor mit krimineller Vergangenheit: Er will nichts anderes als Geld machen und noch mehr Geld machen. Aber die meisten anderen sind inzwischen irgendwie geläutert, haben das Drogengeld und auch sich selbst reingewaschen und sind zu ehrenwerten Bürgern mutiert. Das ist doch wohl in Ordnung, oder?
Leben am Abgrund
Das hohe Alter ist ein Thema, das das ganze Buch durchzieht: Da sind die ganz Fitten, allen voran
Elizabeth, und diejenigen die „auf der Kippe“ stehen wie ihr Mann Peter. Oder Penny Gray: Die ehemalige Kriminalkommissarin war mal Mitglied im Club und ist nun in Willows gelandet, wo sie ohne Bewusstsein liegt und gepflegt wird. Mitunter durchzieht eine Dimension leisen Grauens das Buch, eines Fantasy-Romans würdig. Nur wissen alle, dass der große Held nicht kommen wird, der die Bewohner vor ihrem unwiederbringlichen Schicksal bewahren wird: Der Abgrund ist irgendwo weiter vorne im Nebel. Niemand weiß, wann er ihn erreichen und wie steil der Fall sein wird.
Verwicklungen
Die Kapitel sind kurz, die Sätze auch. Die Geschichte kommt sehr sachlich, als Bericht daher – und steckt voller Witz und Ironie: Das ist eine ihrer Stärken. Teils wird sie von Joyce in ihrem Tagebuch erzählt, dann wieder aus der Perspektive zahlreicher anderer Personen. Fast ebenso zahlreich sind die „red herrings“ – falsche Fährten. Sie durchziehen das Gewebe der Geschichte. Alle Verdächtigungen werden nach und nach aufgelöst, kein loser Faden bleibt hängen, alles ist interessant und dann doch irgendwie nicht so schlimm, und so richtig in Gefahr kommt eigentlich niemand. Ich finde es sehr angenehm, dass nicht dauernd irgendwelches Blut spritzt und Knochen brechen. Dass Elizabeth und Joyce ihre kleinen grauen Zellen anstrengen und zum Schluss alles gut ausgeht oder zumindest als gut ausgehend erzählt wird.
Und die nächste Folge deutet sich ja dann auch schon an; es ist also nicht sehr wahrscheinlich, dass Elizabeth so bald dement wird.
Fazit
Die Charaktere sind gut entwickelt; sie kommen als ganzer, bunter Blumenstrauß daher: Von ihnen lebt die Geschichte. Der Plot ist genauso bunt und manchmal verwirrend. Es gibt immer wieder neue Verdächtige, und kaum hat man sich an sie gewöhnt, sind sie schon wieder aus dem Rennen. Das Ganze ist spannend, vergnüglich zu lesen – und lässt mich einigermaßen unbefriedigt zurück. So nett kann es also zugehen in der Welt von Mord und Totschlag? Es gibt Wein und Kuchen, und alles löst sich in Wohlgefallen auf?