Fjodor M. Dostojewski: Der Doppelgänger Lesefreundlicher Großdruck in 16-pt-Schrift Großformat, 210 x 297 mm Berliner Ausgabe, 2019 Durchgesehener Neusatz mit einer Biographie des Autors bearbeitet und eingerichtet von Theodor Borken Erstdruck: Februar 1846 in der Zeitschrift »Vaterländische Annalen«. Hier in der Übersetzung von Hermann Röhl, Leipzig, Insel Verlag, 1921. Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Jacob Jordaens, Zwei Studien des Kopfes von Abraham Grapheus, 1621. Gesetzt aus der Minion Pro, 16 pt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2021Doppelt gerannt schnellt besser
Zum zweihundertsten Geburtstag Fjodor Dostojewskis ist sein "Doppelgänger" erstmals aus der Urfassung ins Deutsche übersetzt worden
Mit der Viertelstunde Ruhm ist es so eine Sache. Erst hochgejazzt, dann fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel - davon wüsste auch Fjodor Dostojewski (1821 bis 1881) ein Lied zu singen. Nach seinem gefeierten Debüt ("Arme Leute") finden im Kreis des Kritikers Wissarion Belinski die ersten Kapitel des neuen Romans "Der Doppelgänger" Anklang, doch mit der Veröffentlichung wendet sich das Blatt. Belinski, gleichsam der Direktor der "natürlichen Schule", bekrittelt den Mangel an Sozialkritik und den zu starken Einfluss E. T. A. Hoffmanns. Das Fantastische, so watscht er den vermeintlichen Eleven ab, habe seinen Platz im Irrenhaus, nicht in der Literatur. Dostojewski schäumt vor gekränkter Eitelkeit - und gönnt sich womöglich zwanzig Jahre später ganz pennälerhaft seine kleine Rache, indem er den Schluss umschreibt: Der Protagonist Goljadkin fährt zwar immer noch in Begleitung seines Arztes an einen unbekannten Ort. Die Fassung letzter Hand bricht jedoch nicht mit einem Blick auf den armen Mann in seinem Wahn ab, nein, ihn erwartet nun eine Unterkunft auf Staatskosten . . .
Damit habe Dostojewski den Schluss "enträtselt", behauptet Alexander Nitzberg im Nachwort zu seiner Übersetzung des "Ur-Doppelgängers", und auch weitere Änderungen seien "stets auf Kosten der Komplexität" erfolgt. Gestrichen wurden jedoch lediglich die sehr langen Kapitelüberschriften und einige Passagen gegen Ende. Insgesamt geht es um 20 Seiten. Zwei Kapitel werden zusammengefasst, der Text erhält deutlich mehr Absätze. Der kleine Beamte Goljadkin träumt aber unverändert von einer Ehe mit der Tochter seines Vorgesetzten samt anschließendem Karrieresprung. Zunächst lässt sich das Vorhaben recht gut an, dann gerät es ins Stocken. Als er abgewiesen wird, steigert sich seine manisch-depressive Dauerbespiegelung ins Bodenlose, und er nimmt einen Doppelgänger wahr. Dieser wohnt vorübergehend bei ihm und macht die Karriere, die er selbst anstrebt. Daraufhin erklärt er ihn zu seinem Erzfeind. Die Ereignisse überschlagen sich, er landet in bereits erwähnter Kutsche . . . Die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden russischen Fassungen sind nicht so groß wie die stilistischen zwischen den einzelnen deutschen Übersetzungen.
Wer Nitzberg kennt, weiß um seine Eigenheiten. Wenn im "Doppelgänger" öfter das Personalpronomen "ich" fehlt, dann nicht, weil der Protagonist nur noch im "wir" vorkommt, sondern weil der Übersetzer daran Gefallen findet. Zu seinen Vorlieben zählen ferner Austriazismen ("heuer"), der Gedankenstrich zur Markierung der direkten Rede sowie eine unorthodoxe Abführung derselben: "fragte unschlüssig Herr Goljadkin." Spiegeln ältere Übersetzungen nicht die sprachliche Bandbreite des Originals wider, wird ihnen Glättung vorgeworfen. Für Nitzberg muss dagegen Aufrauung festgehalten werden. Er setzt mehr Signale als im Original vorhanden, sodass an manchen Stellen der sprachliche Schilderwald den Blick auf den Inhalt nimmt. Das russische "maska" bedeutet tatsächlich das, was die Umschrift vermuten lässt, nämlich "Maske", wird von Nitzberg aber als "Larve" übersetzt, die dann fallen gelassen werden muss. Ein "Kapitel" wird zum "Hauptstück", ein "weil" zum "sintemalen", eine "Angelegenheit" zur "Chose". Notfalls muss eine Anmerkung her, damit man ja "beim fröhlichen Pokulieren" sitzt, nicht "bei einem Glas Wein" ("sa bokalom wina").
Auch garantiert syntaktische Treue keine Wirkungstreue. "Ein Sack voll Mehl, fiel Herr Goljadkin herab von der Droschke und rollte dahin, im Moment des Fall, vollkommen zu Recht, begreifend, dass sein unnötiges Schmollen sehr unpassend war und an alledem allein sein unnötiges Schmollen schuld war." Dostojewski selbst hat den Schluss gekürzt, Hermann Röhl für seine Übersetzung behutsam die Syntax verändert: "Herr Goljadkin fiel wie ein Mehlsack aus der Droschke und rollte ein Stückchen davon, wobei er sich im Augenblick des Falles ganz mit Recht sagte, daß er sehr zur Unzeit so sehr in Erregung geraten sei." Was Nitzberg gut gelingt, ist, trotz der Redundanzen das Tempo zu halten. Seine Lösungen übertreffen da teilweise die von Röhl oder E. K. Rahsin, deren Übersetzungen aber nach wie vor eine echte Konkurrenz darstellen, allemal mit den Illustrationen von Alfred Kubin.
Diese Redundanzen taugen im Übrigen kaum zur Charakterisierung Goljadkins, denn auch der auktoriale Erzähler neigt zu Wiederholungen, von Dostojewski selbst ganz zu schweigen. Seine große Kunst besteht freilich darin, mit diesem Mittel einerseits einen rauschhaften Ton zu erzeugen, andererseits unzuverlässige Erzähler zu gestalten. Markant gelingt ihm das in den "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" sowie in einigen Kurzgeschichten; als Icherzählungen und häufig als Ein-Personen-Texte stellen sie komplexe Charakterstudien dar, während im "Doppelgänger" durch das Ineinanderfließen von Erzähler und Protagonist echte Fantastik entsteht: Häufig lässt sich kaum entscheiden, ob etwas überhaupt geschehen ist. Die Frage, wann Goljadkins Wahnsinn einsetzt, ist noch immer nicht geklärt und mehr denn je eine probate Übung im genauen Beobachten sowie im Verifizieren einer Quelle.
"Der Doppelgänger" ist ein wunderbarer Kurzroman, voller Sprach- und Situationskomik. Dostojewski war keineswegs der Schluderer, als der er oft hingestellt wird, doch hat er nur diesen Text nach Jahren noch einmal überarbeitet. Mal hielt er ihn selbst für sein Chef d'OEuvre, mal fand er ihn gänzlich missglückt. Gelegentlich wollte er Goljadkin "politisieren", was ohne Frage Belinski gefallen hätte, der da allerdings schon tot war. Daher gerät hier der Autor selbst in den Verdacht der "Unzuverlässigkeit", denn sein gesamtes Werk ist der Schule von Wahn, Wunsch und Wirklichkeit verpflichtet. Primus der natürlichen Schule war er nie.
Bevor Goljadkin seinen Doppelgänger zum ersten Mal wahrnimmt, will er tot sein, aus purer Scham sein Ich auslöschen. Dieser Wunsch wird ihm prompt durch Persönlichkeitsverdoppelung erfüllt. Im Zeitalter digitaler Identitätenvermehrung erhält die Szene einen ganz neuen Dreh. Allein dafür lohnt der Griff zum Buch. CHRISTIANE PÖHLMANN.
Fjodor Dostojewski: "Der Doppelgänger". Roman.
Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg.
Verlag Galiani, Berlin 2021. 336 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum zweihundertsten Geburtstag Fjodor Dostojewskis ist sein "Doppelgänger" erstmals aus der Urfassung ins Deutsche übersetzt worden
Mit der Viertelstunde Ruhm ist es so eine Sache. Erst hochgejazzt, dann fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel - davon wüsste auch Fjodor Dostojewski (1821 bis 1881) ein Lied zu singen. Nach seinem gefeierten Debüt ("Arme Leute") finden im Kreis des Kritikers Wissarion Belinski die ersten Kapitel des neuen Romans "Der Doppelgänger" Anklang, doch mit der Veröffentlichung wendet sich das Blatt. Belinski, gleichsam der Direktor der "natürlichen Schule", bekrittelt den Mangel an Sozialkritik und den zu starken Einfluss E. T. A. Hoffmanns. Das Fantastische, so watscht er den vermeintlichen Eleven ab, habe seinen Platz im Irrenhaus, nicht in der Literatur. Dostojewski schäumt vor gekränkter Eitelkeit - und gönnt sich womöglich zwanzig Jahre später ganz pennälerhaft seine kleine Rache, indem er den Schluss umschreibt: Der Protagonist Goljadkin fährt zwar immer noch in Begleitung seines Arztes an einen unbekannten Ort. Die Fassung letzter Hand bricht jedoch nicht mit einem Blick auf den armen Mann in seinem Wahn ab, nein, ihn erwartet nun eine Unterkunft auf Staatskosten . . .
Damit habe Dostojewski den Schluss "enträtselt", behauptet Alexander Nitzberg im Nachwort zu seiner Übersetzung des "Ur-Doppelgängers", und auch weitere Änderungen seien "stets auf Kosten der Komplexität" erfolgt. Gestrichen wurden jedoch lediglich die sehr langen Kapitelüberschriften und einige Passagen gegen Ende. Insgesamt geht es um 20 Seiten. Zwei Kapitel werden zusammengefasst, der Text erhält deutlich mehr Absätze. Der kleine Beamte Goljadkin träumt aber unverändert von einer Ehe mit der Tochter seines Vorgesetzten samt anschließendem Karrieresprung. Zunächst lässt sich das Vorhaben recht gut an, dann gerät es ins Stocken. Als er abgewiesen wird, steigert sich seine manisch-depressive Dauerbespiegelung ins Bodenlose, und er nimmt einen Doppelgänger wahr. Dieser wohnt vorübergehend bei ihm und macht die Karriere, die er selbst anstrebt. Daraufhin erklärt er ihn zu seinem Erzfeind. Die Ereignisse überschlagen sich, er landet in bereits erwähnter Kutsche . . . Die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden russischen Fassungen sind nicht so groß wie die stilistischen zwischen den einzelnen deutschen Übersetzungen.
Wer Nitzberg kennt, weiß um seine Eigenheiten. Wenn im "Doppelgänger" öfter das Personalpronomen "ich" fehlt, dann nicht, weil der Protagonist nur noch im "wir" vorkommt, sondern weil der Übersetzer daran Gefallen findet. Zu seinen Vorlieben zählen ferner Austriazismen ("heuer"), der Gedankenstrich zur Markierung der direkten Rede sowie eine unorthodoxe Abführung derselben: "fragte unschlüssig Herr Goljadkin." Spiegeln ältere Übersetzungen nicht die sprachliche Bandbreite des Originals wider, wird ihnen Glättung vorgeworfen. Für Nitzberg muss dagegen Aufrauung festgehalten werden. Er setzt mehr Signale als im Original vorhanden, sodass an manchen Stellen der sprachliche Schilderwald den Blick auf den Inhalt nimmt. Das russische "maska" bedeutet tatsächlich das, was die Umschrift vermuten lässt, nämlich "Maske", wird von Nitzberg aber als "Larve" übersetzt, die dann fallen gelassen werden muss. Ein "Kapitel" wird zum "Hauptstück", ein "weil" zum "sintemalen", eine "Angelegenheit" zur "Chose". Notfalls muss eine Anmerkung her, damit man ja "beim fröhlichen Pokulieren" sitzt, nicht "bei einem Glas Wein" ("sa bokalom wina").
Auch garantiert syntaktische Treue keine Wirkungstreue. "Ein Sack voll Mehl, fiel Herr Goljadkin herab von der Droschke und rollte dahin, im Moment des Fall, vollkommen zu Recht, begreifend, dass sein unnötiges Schmollen sehr unpassend war und an alledem allein sein unnötiges Schmollen schuld war." Dostojewski selbst hat den Schluss gekürzt, Hermann Röhl für seine Übersetzung behutsam die Syntax verändert: "Herr Goljadkin fiel wie ein Mehlsack aus der Droschke und rollte ein Stückchen davon, wobei er sich im Augenblick des Falles ganz mit Recht sagte, daß er sehr zur Unzeit so sehr in Erregung geraten sei." Was Nitzberg gut gelingt, ist, trotz der Redundanzen das Tempo zu halten. Seine Lösungen übertreffen da teilweise die von Röhl oder E. K. Rahsin, deren Übersetzungen aber nach wie vor eine echte Konkurrenz darstellen, allemal mit den Illustrationen von Alfred Kubin.
Diese Redundanzen taugen im Übrigen kaum zur Charakterisierung Goljadkins, denn auch der auktoriale Erzähler neigt zu Wiederholungen, von Dostojewski selbst ganz zu schweigen. Seine große Kunst besteht freilich darin, mit diesem Mittel einerseits einen rauschhaften Ton zu erzeugen, andererseits unzuverlässige Erzähler zu gestalten. Markant gelingt ihm das in den "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" sowie in einigen Kurzgeschichten; als Icherzählungen und häufig als Ein-Personen-Texte stellen sie komplexe Charakterstudien dar, während im "Doppelgänger" durch das Ineinanderfließen von Erzähler und Protagonist echte Fantastik entsteht: Häufig lässt sich kaum entscheiden, ob etwas überhaupt geschehen ist. Die Frage, wann Goljadkins Wahnsinn einsetzt, ist noch immer nicht geklärt und mehr denn je eine probate Übung im genauen Beobachten sowie im Verifizieren einer Quelle.
"Der Doppelgänger" ist ein wunderbarer Kurzroman, voller Sprach- und Situationskomik. Dostojewski war keineswegs der Schluderer, als der er oft hingestellt wird, doch hat er nur diesen Text nach Jahren noch einmal überarbeitet. Mal hielt er ihn selbst für sein Chef d'OEuvre, mal fand er ihn gänzlich missglückt. Gelegentlich wollte er Goljadkin "politisieren", was ohne Frage Belinski gefallen hätte, der da allerdings schon tot war. Daher gerät hier der Autor selbst in den Verdacht der "Unzuverlässigkeit", denn sein gesamtes Werk ist der Schule von Wahn, Wunsch und Wirklichkeit verpflichtet. Primus der natürlichen Schule war er nie.
Bevor Goljadkin seinen Doppelgänger zum ersten Mal wahrnimmt, will er tot sein, aus purer Scham sein Ich auslöschen. Dieser Wunsch wird ihm prompt durch Persönlichkeitsverdoppelung erfüllt. Im Zeitalter digitaler Identitätenvermehrung erhält die Szene einen ganz neuen Dreh. Allein dafür lohnt der Griff zum Buch. CHRISTIANE PÖHLMANN.
Fjodor Dostojewski: "Der Doppelgänger". Roman.
Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg.
Verlag Galiani, Berlin 2021. 336 S., geb., 24,- Euro.
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