Ein spannender Thriller in Wien 1945
Ein fesselnder Roman über Freundschaft, Korruption und Verbrechen - bekannt auch durch die spannende Verfilmung mit Orson Welles.
»Er hegte nicht mehr den geringsten Zweifel, daß ein Mord geschehen war. Warum sonst hätten sie ihn über den Zeitpunkt des Todes angelogen? Sie wollten mit ihren Geldgeschenken und der Flugkarte die einzigen zwei Freunde, die Harry in Wien hatte, zum Schweigen bringen. Und der dritte Mann? Wer war dieser dritte Mann?«
Wien 1945. Russen, Amerikaner, Franzosen und Briten haben die Stadt gemeinsam besetzt. Vor dem Hintergrund der Ruinen blühen die dunklen Geschäfte. Rollo Martins, der Jugendfreund von Harry Lime, steht vor einem Rätsel. War Harry der skrupellose Kopf einer Schieberbande?
Ein fesselnder Roman über Freundschaft, Korruption und Verbrechen - bekannt auch durch die spannende Verfilmung mit Orson Welles.
»Er hegte nicht mehr den geringsten Zweifel, daß ein Mord geschehen war. Warum sonst hätten sie ihn über den Zeitpunkt des Todes angelogen? Sie wollten mit ihren Geldgeschenken und der Flugkarte die einzigen zwei Freunde, die Harry in Wien hatte, zum Schweigen bringen. Und der dritte Mann? Wer war dieser dritte Mann?«
Wien 1945. Russen, Amerikaner, Franzosen und Briten haben die Stadt gemeinsam besetzt. Vor dem Hintergrund der Ruinen blühen die dunklen Geschäfte. Rollo Martins, der Jugendfreund von Harry Lime, steht vor einem Rätsel. War Harry der skrupellose Kopf einer Schieberbande?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2016Peter Pans Penicillin
Mehr als nur das Buch zum Film: Graham Greenes Roman „Der dritte Mann“ ist jetzt
in einer schlanken Neuübersetzung von Nikolaus Stingl wieder greifbar
VON LOTHAR MÜLLER
Zuerst kam der Film. Ende August 1949 fand die englische Premiere in London statt, Anfang Februar 1950 die amerikanische in New York. Auf den Leinwänden drehte sich das Riesenrad über den Ruinen Wiens, Schatten glitten über Hauswände, Joseph Cotton suchte die Wahrheit über den Unfalltod seines Freundes Harry Lime, und dann, es waren schon mehr als sechzig Filmminuten vergangen, stand das Gespenst plötzlich leibhaftig in einem Hauseingang, und der Lichtschein aus einem geöffneten Fenster erhellte für einen kurzen Augenblick sein Gesicht mit dem unwiderstehlichen jungenhaften Lächeln.
Erst als Orson Welles schon durch die Kanalisation hastete, sich seine Finger – in Wahrheit waren es die des Regisseurs Carol Reed – durch das dunkle Gitter in den Himmel reckten und die Zithermelodie von Anton Karas die Charts stürmte, erschien der Roman von Graham Greene. Das Vorwort des Autors begann mit dem Satz: „Der dritte Mann wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern nur, um gesehen zu werden.“ Wohl kein zweiter Roman ist so sehr Buch zum Film wie dieser. Greene hatte ihn als Anlauf zu dem Drehbuch verfasst, das der britische, aus Ungarn stammende Produzent Alexander Korda von ihm haben wollte. Kordas Wunsch: ein Film über Wien zur Zeit des Viermächtestatus. Eine Idee, die Greene schon vor Jahren – im Blick auf London – notiert hatte, kam nun zum Tragen: Ein Ich-Erzähler begegnet auf der Straße einem vermeintlich toten Freund.
Einen Roman, der nur dazu da ist, „gesehen“, aber nicht, gelesen zu werden, gibt es nicht. Dieser verschwand nicht in dem Drehbuch, das Greene in enger Zusammenarbeit mit Carol Reed daraus machte, er blieb, was er war: Literatur. Der Zsolnay Verlag hat nun dankenswerterweise bei Nikolaus Stingl eine Neuübersetzung in Auftrag gegeben. Die alte von Fritz Burger, die erstmals 1951 bei Artemis in Zürich erschien, hat das Rentenalter erreicht.
In den Dialogen, den Schilderungen des schneebedeckten Zentralfriedhofs, der Ruinen und Bars, und natürlich im Showdown in der Kanalisation orientiert sich der Roman an dem Film, zu dem er werden will. Aber wie so oft trügt auch hier die Metapher vom „filmischen Erzählen“. Es gibt hier keine unmittelbare Gegenwart, die eine Kamera erfassen könnte, Ich-Erzähler ist der britische Besatzungsoffizier Major Calloway (im Film: Trevor Howard), alles, was er berichtet, hat er „aus meinen Akten und aus dem, was Martins mir erzählt hat, so gut es ging rekonstruiert“.
Martins, der abgebrannte Verfasser von Western, heißt hier noch „Rollo“, erst sein Darsteller Joseph Cotton, der den Namen absolut albern fand, sorgte dafür, dass er in „Holly Martins“ umgetauft wurde. Der Spannungsautor bringt nicht nur als Amateurdetektiv Licht ins Dunkel der Penicillin-Schiebereien, er ist zugleich Held der beiden anderen Handlungsstränge. „Der dritte Mann“ ist Thriller, Liebesgeschichte und Literatursatire in einem.
Wie im Film, tritt der Groschenheft-Western – ein „amerikanisches“ Genre, das sich am Film orientiert – gegen den avancierten modernen englischen Roman in Gestalt von James Joyce und Virginia Woolf an, im Roman ist das eine veritable Verwechslungskomödie. Der Thriller kann nicht mit den Filmideen des Regisseurs Carol Reed konkurrieren – von ihm, nicht aus Greenes Roman, stammt die geniale Idee, die Katze um die Füße des noch unsichtbaren Harry Lime herumstreichen zu lassen.
Aber es gibt starke Akzente, die nur der Roman setzt. Etwa, wenn er die Penicillin-Schieberei mit dem Satz kommentiert „Eine Schieberbande funktioniert ganz ähnlich wie eine totalitäre Partei.“ Oder wenn er Harry Lime in eine literarische Traditionslinie stellt, die vom „Dr. Faustus“ Christopher Marlowes bis zu Peter Pan reicht: „Er ist nie erwachsen geworden. Marlowes Teufel hatten Knallfrösche am Schwanz befestigt: Das Böse war wie Peter Pan – es brachte die schreckliche und erschreckende Gabe ewiger Jugend mit sich.“
Die berühmtesten Sätze des Films finden sich nicht im Roman. Harry Limes höhnischen Kontrast, der dreißig Jahre Krieg, Terror, Mord und Blutvergießen unter den Borgias, die Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance hervorbrachten, und der 500 Jahre brüderlicher Liebe, Demokratie und Frieden in der Schweiz, aus denen die Kuckucksuhr hervorging, hat Orson Welles auf dem Set eingebracht.
„Die als Thriller getarnte Geschichte einer unglücklichen, einer missratenen Liebe“, von der Hanns Zischler im Nachwort spricht, verdankt im Film ihren grandiosen, eisig-sprachlosen Schluss Carol Reed. In Greenes Roman hängt sich Harry Limes Geliebte Anna Schmidt schließlich doch in Rollo Martins’ Arm ein. „One never knows when the blow may fall.“ So lautet der berühmte Anfangssatz des Romans. Schade, dass Nikolaus Stingl ausgerechnet hier von seiner Grundidee abweicht, die alte, deutsche Fassung durch Verschlankung dem Original näherzubringen: „Man muss immer drauf gefasst sein, dass etwas Unvorhergesehenes passiert.“ Das ist schwächer als: „Man weiß nie, wann das Schicksal zum Streich ausholen wird.“ Der Streich mag antiquiert klingen. Um das Schicksal geht es aber schon.
Kein zweiter Roman ist so
sehr Buch zum Film, ohne doch
in ihm zu verschwinden
Graham Greene: Der dritte Mann. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 160 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mehr als nur das Buch zum Film: Graham Greenes Roman „Der dritte Mann“ ist jetzt
in einer schlanken Neuübersetzung von Nikolaus Stingl wieder greifbar
VON LOTHAR MÜLLER
Zuerst kam der Film. Ende August 1949 fand die englische Premiere in London statt, Anfang Februar 1950 die amerikanische in New York. Auf den Leinwänden drehte sich das Riesenrad über den Ruinen Wiens, Schatten glitten über Hauswände, Joseph Cotton suchte die Wahrheit über den Unfalltod seines Freundes Harry Lime, und dann, es waren schon mehr als sechzig Filmminuten vergangen, stand das Gespenst plötzlich leibhaftig in einem Hauseingang, und der Lichtschein aus einem geöffneten Fenster erhellte für einen kurzen Augenblick sein Gesicht mit dem unwiderstehlichen jungenhaften Lächeln.
Erst als Orson Welles schon durch die Kanalisation hastete, sich seine Finger – in Wahrheit waren es die des Regisseurs Carol Reed – durch das dunkle Gitter in den Himmel reckten und die Zithermelodie von Anton Karas die Charts stürmte, erschien der Roman von Graham Greene. Das Vorwort des Autors begann mit dem Satz: „Der dritte Mann wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern nur, um gesehen zu werden.“ Wohl kein zweiter Roman ist so sehr Buch zum Film wie dieser. Greene hatte ihn als Anlauf zu dem Drehbuch verfasst, das der britische, aus Ungarn stammende Produzent Alexander Korda von ihm haben wollte. Kordas Wunsch: ein Film über Wien zur Zeit des Viermächtestatus. Eine Idee, die Greene schon vor Jahren – im Blick auf London – notiert hatte, kam nun zum Tragen: Ein Ich-Erzähler begegnet auf der Straße einem vermeintlich toten Freund.
Einen Roman, der nur dazu da ist, „gesehen“, aber nicht, gelesen zu werden, gibt es nicht. Dieser verschwand nicht in dem Drehbuch, das Greene in enger Zusammenarbeit mit Carol Reed daraus machte, er blieb, was er war: Literatur. Der Zsolnay Verlag hat nun dankenswerterweise bei Nikolaus Stingl eine Neuübersetzung in Auftrag gegeben. Die alte von Fritz Burger, die erstmals 1951 bei Artemis in Zürich erschien, hat das Rentenalter erreicht.
In den Dialogen, den Schilderungen des schneebedeckten Zentralfriedhofs, der Ruinen und Bars, und natürlich im Showdown in der Kanalisation orientiert sich der Roman an dem Film, zu dem er werden will. Aber wie so oft trügt auch hier die Metapher vom „filmischen Erzählen“. Es gibt hier keine unmittelbare Gegenwart, die eine Kamera erfassen könnte, Ich-Erzähler ist der britische Besatzungsoffizier Major Calloway (im Film: Trevor Howard), alles, was er berichtet, hat er „aus meinen Akten und aus dem, was Martins mir erzählt hat, so gut es ging rekonstruiert“.
Martins, der abgebrannte Verfasser von Western, heißt hier noch „Rollo“, erst sein Darsteller Joseph Cotton, der den Namen absolut albern fand, sorgte dafür, dass er in „Holly Martins“ umgetauft wurde. Der Spannungsautor bringt nicht nur als Amateurdetektiv Licht ins Dunkel der Penicillin-Schiebereien, er ist zugleich Held der beiden anderen Handlungsstränge. „Der dritte Mann“ ist Thriller, Liebesgeschichte und Literatursatire in einem.
Wie im Film, tritt der Groschenheft-Western – ein „amerikanisches“ Genre, das sich am Film orientiert – gegen den avancierten modernen englischen Roman in Gestalt von James Joyce und Virginia Woolf an, im Roman ist das eine veritable Verwechslungskomödie. Der Thriller kann nicht mit den Filmideen des Regisseurs Carol Reed konkurrieren – von ihm, nicht aus Greenes Roman, stammt die geniale Idee, die Katze um die Füße des noch unsichtbaren Harry Lime herumstreichen zu lassen.
Aber es gibt starke Akzente, die nur der Roman setzt. Etwa, wenn er die Penicillin-Schieberei mit dem Satz kommentiert „Eine Schieberbande funktioniert ganz ähnlich wie eine totalitäre Partei.“ Oder wenn er Harry Lime in eine literarische Traditionslinie stellt, die vom „Dr. Faustus“ Christopher Marlowes bis zu Peter Pan reicht: „Er ist nie erwachsen geworden. Marlowes Teufel hatten Knallfrösche am Schwanz befestigt: Das Böse war wie Peter Pan – es brachte die schreckliche und erschreckende Gabe ewiger Jugend mit sich.“
Die berühmtesten Sätze des Films finden sich nicht im Roman. Harry Limes höhnischen Kontrast, der dreißig Jahre Krieg, Terror, Mord und Blutvergießen unter den Borgias, die Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance hervorbrachten, und der 500 Jahre brüderlicher Liebe, Demokratie und Frieden in der Schweiz, aus denen die Kuckucksuhr hervorging, hat Orson Welles auf dem Set eingebracht.
„Die als Thriller getarnte Geschichte einer unglücklichen, einer missratenen Liebe“, von der Hanns Zischler im Nachwort spricht, verdankt im Film ihren grandiosen, eisig-sprachlosen Schluss Carol Reed. In Greenes Roman hängt sich Harry Limes Geliebte Anna Schmidt schließlich doch in Rollo Martins’ Arm ein. „One never knows when the blow may fall.“ So lautet der berühmte Anfangssatz des Romans. Schade, dass Nikolaus Stingl ausgerechnet hier von seiner Grundidee abweicht, die alte, deutsche Fassung durch Verschlankung dem Original näherzubringen: „Man muss immer drauf gefasst sein, dass etwas Unvorhergesehenes passiert.“ Das ist schwächer als: „Man weiß nie, wann das Schicksal zum Streich ausholen wird.“ Der Streich mag antiquiert klingen. Um das Schicksal geht es aber schon.
Kein zweiter Roman ist so
sehr Buch zum Film, ohne doch
in ihm zu verschwinden
Graham Greene: Der dritte Mann. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 160 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2016Harry Lime ist gar nicht tot
Der Welterfolg des Films "Der dritte Mann" stellte Graham Greenes gleichnamigen Roman in den Schatten. Jetzt liegt dieser auf Deutsch vor - und offenbart im Vergleich zum Drehbuch mehr Witz, Weichheit und Selbstironie.
Literaturverfilmungen halten oft dem Vergleich mit den Büchern nicht stand, die sie als Ausgangsmaterial benutzen und den Notwendigkeiten des Mediums entsprechend modellieren, dem Zeitgeschmack entsprechend verändern, verbiegen, glätten oder auch ganz brav wie in einem Kahn nur unfallfrei und devot von einem (dem Buch) zum anderen Ufer (dem Film) zu transportieren suchen. Die Enttäuschung bei denen, die ein Buch lieben, ist fast immer schon im ersten Bild des Films, dem es zugrunde liegt, zementiert.
Wie aber sieht es umgekehrt aus? Wie liest sich ein Roman, dem ein Film vorausging? Noch dazu ein Film, der wie ein Massiv in der Nachkriegsfilmgeschichte steht, weil der grandios zum Diabolischen begabte Koloss Orson Welles darin die Figur spielt, um die sich alles dreht? In dem die wunderbare Alida Valli mit vor innerer und äußerer Kälte hochgezogenen Schultern aus dem verschneiten Bild läuft, als liege ihr Ziel jenseits der Welt? Und in dem eine Zithermelodie eine erzählende Rolle einnimmt? Es handelt sich, natürlich, um den "Dritten Mann". Der Film kam 1949 heraus. Der Roman 1950.
Graham Greene hatte das Drehbuch zu dem Film von Carol Reed geschrieben, und Graham Greene ist es auch, von dem der gleichnamige Roman stammt. Aber der Roman entstand nur, damit daraus der Film würde, weil Greene eine Geschichte nicht von vornherein als Drehbuch ("diese stumpfsinnige Kurzschrift") konzipieren konnte. "Man bringt", schreibt er in seiner Vormerkung zu dem Roman, "den ersten Schöpfungsakt nicht in Drehbuchform zustande."
So musste er, selbst wenn der Auftrag von dem Filmproduzenten Alexander Korda kam und auf ein Drehbuch lautete wie im Fall des "Dritten Manns", erst einmal eine Geschichte in Form einer Erzählung oder eines Romans schreiben, aus dem er dann das Drehbuch herausschneiden konnte - in einem kollektiven Akt, so beschreibt er es, an dem sowohl Reed wie auch Orson Welles beteiligt waren. Greene bezeichnet daher seinen "Dritten Mann" als ein Buch, das "nicht gelesen, sondern gesehen werden" sollte. Und dann kam es doch auf den Buchmarkt, wurde gelesen und übersetzt und schießlich vergessen. Nun liegt es in der eleganten Neuübersetzung von Nikolaus Stingl auf Deutsch vor. Lohnt die Lektüre? Brauchen wir das?
Ja, schon. Nicht, weil wir vergessen hätten, dass Harry Lime, die Figur, um die alles kreist, gar nicht tot ist, obwohl etwa vier Fünftel der Geschichte davon ausgehen. Nicht, weil wir nicht mehr wüssten, wie die vier Besatzungsmächte nach Kriegsende das zerstörte Wien zwischen sich aufgeteilt hatten und wie der Personen- und Warenverkehr zwischen den Sektoren von hin und her huschenden Gestalten in der Dunkelheit vonstatten ging, die nur die Reflektion schütterer Beleuchtung im Schnee ein wenig brach. Wir erinnern uns ganz ohne Buch daran, mit welcher Skrupellosigkeit Harry Lime seine Schiebereien mit verschnittenem Penicillin rechtfertigte, haben noch den Ausdruck enttäuschter lebenslanger Liebe auf dem Gesicht von Joseph Cotton als Westernautor Holly Martins vor Augen, als er der Machenschaften seines alten Jugendfreunds Harry Lime gewahr wird, der ihn immer nur benutzt hat. Für all dies brauchen wir das Buch (in dem Holly Martins Rollo heißt) nicht.
Aber um über das Schreiben, um über die Entstehung von Figuren, von Atmosphäre, von Erzählstruktur etwas zu erfahren, dafür brauchen wir diesen Roman unbedingt. Denn der literarische Überschuss, den Greene produziert hat, obwohl er doch eigentlich nur ein Buch zum Sehen schrieb, ist erheblich. Wobei der Überschuss Sätze wie dieser sind, die in einem Film kaum ihre Entsprechung finden können: "Martins spürte den leisen Stich der Entbehrlichkeit, als er an der Bustür stand und zusah, wie der Schnee so dünn und sanft herabschwebte, dass die großen Verwehungen zwischen den zerstörten Gebäuden eine Anmutung von Dauerhaftigkeit besaßen, als wären sie nicht die Folge dieses mageren Geriesels, sondern lägen für alle Zeiten oberhalb der Linie ewigen Schnees." Die Enttäuschung Rollos über seinen Jugendfreund klingt bei Greene so: "Jede Erinnerung - Nachmittage im hohen Gras, die verbotenen Jagden auf dem Brickworth Common, die Träume, die Spaziergänge, jedes gemeinsame Erlebnis - wurde gleichzeitig kontaminiert, wie die Erde einer atomar verseuchten Stadt. Man konnte sie nicht mehr lange gefahrlos betreten." Und über das Gesicht von Anna Schmidt schreibt er: "Es war kein schönes Gesicht - das war das Problem. Es war ein Gesicht, mit dem man leben kann, tagein, tagaus. Ein Gesicht zum Tragen."
Wer Alida Valli vor Augen hat, wird über diese Beschreibung staunen, denn ihr Gesicht ist von einiger Schönheit. Aber wer begreifen will, warum Rollo Martins, der mit Frauen in jeder Stadt, an jedem Flughafen und über jeder Bar zu tun hat, hier zurückhaltend ist und etwas spürt, das er Liebe nennt (und das unerwidert bleibt), erfährt aus diesen Sätzen, die im Film niemand spricht, warum die Beziehung der beiden auch anders hätte enden können, als sie es tat. Und im Buch übrigens auch anders endet als im Film. Weicher.
Aus dem Buch zum Sehen wurde also nichts. "Der dritte Mann" ist ein eigenständiger Roman, mit einer anderen Erzählperspektive (nicht Holly/Rollo ist der Erzähler hier, sondern Major Calloway) und einem Witz, der im Film deutlich zurückgefahren wurde. Dieser Witz speist sich nicht nur aus den Gegensätzen zwischen Engländern und Amerikanern, die auch im Film Teil der Geschichte sind, sondern aus der Gegenüberstellung von hoher und niederer Literatur - die Verwechselung von Holly/Rollo, dem Westernautor, mit einem britischen Romanautor gleichen Namens nimmt deutlich mehr Platz ein, und die Herablassung, die Rollo der britischen Moderne gegenüber zeigt, ist zum Schießen. Es ist eine Selbstreflexion Greenes, der sich hier über seinen Status als Unterhaltungsschriftsteller lustig macht. Und dabei ein Buch schreibt, das es gar nicht geben sollte, weil aus ihm ein Drehbuch wurde und dann ein Film und damit sein Zweck erfüllt sein sollte.
VERENA LUEKEN
Graham Greene: "Der dritte Mann". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 160 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Welterfolg des Films "Der dritte Mann" stellte Graham Greenes gleichnamigen Roman in den Schatten. Jetzt liegt dieser auf Deutsch vor - und offenbart im Vergleich zum Drehbuch mehr Witz, Weichheit und Selbstironie.
Literaturverfilmungen halten oft dem Vergleich mit den Büchern nicht stand, die sie als Ausgangsmaterial benutzen und den Notwendigkeiten des Mediums entsprechend modellieren, dem Zeitgeschmack entsprechend verändern, verbiegen, glätten oder auch ganz brav wie in einem Kahn nur unfallfrei und devot von einem (dem Buch) zum anderen Ufer (dem Film) zu transportieren suchen. Die Enttäuschung bei denen, die ein Buch lieben, ist fast immer schon im ersten Bild des Films, dem es zugrunde liegt, zementiert.
Wie aber sieht es umgekehrt aus? Wie liest sich ein Roman, dem ein Film vorausging? Noch dazu ein Film, der wie ein Massiv in der Nachkriegsfilmgeschichte steht, weil der grandios zum Diabolischen begabte Koloss Orson Welles darin die Figur spielt, um die sich alles dreht? In dem die wunderbare Alida Valli mit vor innerer und äußerer Kälte hochgezogenen Schultern aus dem verschneiten Bild läuft, als liege ihr Ziel jenseits der Welt? Und in dem eine Zithermelodie eine erzählende Rolle einnimmt? Es handelt sich, natürlich, um den "Dritten Mann". Der Film kam 1949 heraus. Der Roman 1950.
Graham Greene hatte das Drehbuch zu dem Film von Carol Reed geschrieben, und Graham Greene ist es auch, von dem der gleichnamige Roman stammt. Aber der Roman entstand nur, damit daraus der Film würde, weil Greene eine Geschichte nicht von vornherein als Drehbuch ("diese stumpfsinnige Kurzschrift") konzipieren konnte. "Man bringt", schreibt er in seiner Vormerkung zu dem Roman, "den ersten Schöpfungsakt nicht in Drehbuchform zustande."
So musste er, selbst wenn der Auftrag von dem Filmproduzenten Alexander Korda kam und auf ein Drehbuch lautete wie im Fall des "Dritten Manns", erst einmal eine Geschichte in Form einer Erzählung oder eines Romans schreiben, aus dem er dann das Drehbuch herausschneiden konnte - in einem kollektiven Akt, so beschreibt er es, an dem sowohl Reed wie auch Orson Welles beteiligt waren. Greene bezeichnet daher seinen "Dritten Mann" als ein Buch, das "nicht gelesen, sondern gesehen werden" sollte. Und dann kam es doch auf den Buchmarkt, wurde gelesen und übersetzt und schießlich vergessen. Nun liegt es in der eleganten Neuübersetzung von Nikolaus Stingl auf Deutsch vor. Lohnt die Lektüre? Brauchen wir das?
Ja, schon. Nicht, weil wir vergessen hätten, dass Harry Lime, die Figur, um die alles kreist, gar nicht tot ist, obwohl etwa vier Fünftel der Geschichte davon ausgehen. Nicht, weil wir nicht mehr wüssten, wie die vier Besatzungsmächte nach Kriegsende das zerstörte Wien zwischen sich aufgeteilt hatten und wie der Personen- und Warenverkehr zwischen den Sektoren von hin und her huschenden Gestalten in der Dunkelheit vonstatten ging, die nur die Reflektion schütterer Beleuchtung im Schnee ein wenig brach. Wir erinnern uns ganz ohne Buch daran, mit welcher Skrupellosigkeit Harry Lime seine Schiebereien mit verschnittenem Penicillin rechtfertigte, haben noch den Ausdruck enttäuschter lebenslanger Liebe auf dem Gesicht von Joseph Cotton als Westernautor Holly Martins vor Augen, als er der Machenschaften seines alten Jugendfreunds Harry Lime gewahr wird, der ihn immer nur benutzt hat. Für all dies brauchen wir das Buch (in dem Holly Martins Rollo heißt) nicht.
Aber um über das Schreiben, um über die Entstehung von Figuren, von Atmosphäre, von Erzählstruktur etwas zu erfahren, dafür brauchen wir diesen Roman unbedingt. Denn der literarische Überschuss, den Greene produziert hat, obwohl er doch eigentlich nur ein Buch zum Sehen schrieb, ist erheblich. Wobei der Überschuss Sätze wie dieser sind, die in einem Film kaum ihre Entsprechung finden können: "Martins spürte den leisen Stich der Entbehrlichkeit, als er an der Bustür stand und zusah, wie der Schnee so dünn und sanft herabschwebte, dass die großen Verwehungen zwischen den zerstörten Gebäuden eine Anmutung von Dauerhaftigkeit besaßen, als wären sie nicht die Folge dieses mageren Geriesels, sondern lägen für alle Zeiten oberhalb der Linie ewigen Schnees." Die Enttäuschung Rollos über seinen Jugendfreund klingt bei Greene so: "Jede Erinnerung - Nachmittage im hohen Gras, die verbotenen Jagden auf dem Brickworth Common, die Träume, die Spaziergänge, jedes gemeinsame Erlebnis - wurde gleichzeitig kontaminiert, wie die Erde einer atomar verseuchten Stadt. Man konnte sie nicht mehr lange gefahrlos betreten." Und über das Gesicht von Anna Schmidt schreibt er: "Es war kein schönes Gesicht - das war das Problem. Es war ein Gesicht, mit dem man leben kann, tagein, tagaus. Ein Gesicht zum Tragen."
Wer Alida Valli vor Augen hat, wird über diese Beschreibung staunen, denn ihr Gesicht ist von einiger Schönheit. Aber wer begreifen will, warum Rollo Martins, der mit Frauen in jeder Stadt, an jedem Flughafen und über jeder Bar zu tun hat, hier zurückhaltend ist und etwas spürt, das er Liebe nennt (und das unerwidert bleibt), erfährt aus diesen Sätzen, die im Film niemand spricht, warum die Beziehung der beiden auch anders hätte enden können, als sie es tat. Und im Buch übrigens auch anders endet als im Film. Weicher.
Aus dem Buch zum Sehen wurde also nichts. "Der dritte Mann" ist ein eigenständiger Roman, mit einer anderen Erzählperspektive (nicht Holly/Rollo ist der Erzähler hier, sondern Major Calloway) und einem Witz, der im Film deutlich zurückgefahren wurde. Dieser Witz speist sich nicht nur aus den Gegensätzen zwischen Engländern und Amerikanern, die auch im Film Teil der Geschichte sind, sondern aus der Gegenüberstellung von hoher und niederer Literatur - die Verwechselung von Holly/Rollo, dem Westernautor, mit einem britischen Romanautor gleichen Namens nimmt deutlich mehr Platz ein, und die Herablassung, die Rollo der britischen Moderne gegenüber zeigt, ist zum Schießen. Es ist eine Selbstreflexion Greenes, der sich hier über seinen Status als Unterhaltungsschriftsteller lustig macht. Und dabei ein Buch schreibt, das es gar nicht geben sollte, weil aus ihm ein Drehbuch wurde und dann ein Film und damit sein Zweck erfüllt sein sollte.
VERENA LUEKEN
Graham Greene: "Der dritte Mann". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 160 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lohnt es sich noch, Graham Greenes Roman "Der dritte Mann" trotz der legendären Verfilmung zu lesen?, fragt Verena Lueken. Definitiv, fährt die Kritikerin fort: Und zwar nicht nur wegen der brillanten Neuübersetzung durch Nikolaus Stingl, sondern vor allem, weil das eigentlich nur als Vorarbeit zum Drehbuch gedachte Werk einen wunderbaren Einblick in das Schreiben, die Figurenkonzeption, Atmosphäre und Erzählstruktur gewährt, erklärt die Rezensentin. Sie liest hier Sätze, deren sprachlicher Kunst der Film gar nicht gerecht werden kann. Darüber hinaus freut sich Lueken, dass die Beziehung zwischen Anna Schmidt und Holly Martins im Buch sanfter endet als im Film. Nicht zuletzt entdeckt die Kritikerin in diesem eigenständigen Buch einen ganz besonderen Witz und eine erstaunliche Portion Selbstironie Graham Greenes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Die ausgezeichnete Neuübersetzung seines hierzulande berühmtesten Werks "Der dritte Mann" ist ein guter Anlass, Greene neu zu entdecken." Marcus Müntefering, Spiegel online, 14.03.16
"'Der dritte Mann', man muss es voller Wehmut sagen, entstammt einer Zeit, als es noch die großen Erzählungen gab, die ziemlich raffiniert als kleine schmutzige Geschichten daherkamen." Jochen Schimmang, taz, 10.05.16
"'Der dritte Mann', man muss es voller Wehmut sagen, entstammt einer Zeit, als es noch die großen Erzählungen gab, die ziemlich raffiniert als kleine schmutzige Geschichten daherkamen." Jochen Schimmang, taz, 10.05.16