Der Mensch als Spezies hat sich in seiner relativ kurzen Geschichte die Erde untertan gemacht. Was hat ihn
vor rund 40 000 Jahren zu diesem großen Sprung nach vorn befähigt und ihn von seinen nächsten Verwandten im
Tierreich, den Schimpansen, so weit entfernt, im Guten wie im Bösen? Offensichtlich sein besonders funktionierendes
Gehirn und seine Sprache, die einen besonders geformten Sprechapparat voraussetzt. Doch der Mensch ist
deswegen noch kein höheres Wesen, das der allgemeinen Lebensevolution entlaufen wäre, sondern er ist weiterhin
mit seinem tierischen Erbe verbunden. Diese evolutionären Bindungen weist der Autor, »der beste auf dem Gebiet
der Evolutionsbiologie« (Edward O. Wilson), in großer Detailfülle nach, und er tut dies auf so spannende und
unterhaltsame Weise, daß der immense Wissensstoff leicht "verdaulich" wie ein guter Kriminalroman ist - wie ein
Kriminalroman auch deswegen, weil der Autor die Schattenseiten menschlicher Existenz, vom Völkermord bis zur
Umweltzerstörung, nicht ausspart.
vor rund 40 000 Jahren zu diesem großen Sprung nach vorn befähigt und ihn von seinen nächsten Verwandten im
Tierreich, den Schimpansen, so weit entfernt, im Guten wie im Bösen? Offensichtlich sein besonders funktionierendes
Gehirn und seine Sprache, die einen besonders geformten Sprechapparat voraussetzt. Doch der Mensch ist
deswegen noch kein höheres Wesen, das der allgemeinen Lebensevolution entlaufen wäre, sondern er ist weiterhin
mit seinem tierischen Erbe verbunden. Diese evolutionären Bindungen weist der Autor, »der beste auf dem Gebiet
der Evolutionsbiologie« (Edward O. Wilson), in großer Detailfülle nach, und er tut dies auf so spannende und
unterhaltsame Weise, daß der immense Wissensstoff leicht "verdaulich" wie ein guter Kriminalroman ist - wie ein
Kriminalroman auch deswegen, weil der Autor die Schattenseiten menschlicher Existenz, vom Völkermord bis zur
Umweltzerstörung, nicht ausspart.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.1995Die Todsünden des dritten Schimpansen
Jared Diamonds düsterer evolutionsbiologischer Ausblick in die Zukunft des Menschen
Von unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, unterscheiden wir uns lediglich in 1,6 Prozent der Erbanlagen. Nach den Gepflogenheiten der zoologischen Systematik gehörte der Mensch daher in dieselbe Gattung wie die beiden Schimpansenarten. Es ist erst sieben Millionen Jahre her, daß sich die Wege des Menschen von diesen Affen trennten; eine kurze Zeitspanne in den Zeiträumen der Evolution. Und doch liegen, so scheint es, Welten zwischen den Schimpansen und uns Menschen. Jared Diamond nennt uns den "dritten Schimpansen", um an unseren Ursprung zu erinnern. Aber der dritte Schimpanse wird nach allem, was die Geschichte lehrt, keine Rücksicht auf die beiden Verwandten nehmen; sowenig, wie er Rücksicht auf die eigenen Artgenossen genommen hat und nimmt.
Hat es der "dritte Schimpanse" deshalb so weit gebracht? In der Menschwerdung steckt mehr als der bloße Vorgang der anatomischen Veränderung vom weitgehend vierfüßigen Menschenaffen zum zweibeinig sich fortbewegenden Menschen. Diamond faßt in einem ersten Abschnitt den durch Fossilfunde schon recht gut belegten Weg zum Menschen in exemplarischer Kürze zusammen. Das bildet die Basis für die weiteren Überlegungen. Doch sie handeln gerade nicht von der Größe und Einzigartigkeit des Menschen als "Krone der Schöpfung". Dazu ist auch mehr als geschrieben worden.
Es sind gerade die dunklen Seiten unseres Menschseins, die dieses Buch ins Licht der evolutionsbiologischen Forschung rückt. Jared Diamond ist Biologe und Mediziner. Umfangreiche Erfahrungen in der Feldforschung in Neuguinea und viele neue Befunde zu den biologisch-medizinischen Eigenarten und Eigentümlichkeiten des Menschseins verbindet er zu einem faszinierenden Bild unserer Art. Seine Fragen richten sich auf das Warum. Warum unterscheidet sich unser Sexualverhalten so sehr von dem der anderen Menschenaffen? Weshalb entwickelte sich bei der Frau der verborgene Eisprung, der die Tage ihrer Fruchtbarkeit verschleiert? Warum entstand als biologische Einzigartigkeit die Menopause? Weshalb nimmt der Mensch so bedenkenlos schädliche und giftige Stoffe zu sich, obwohl alle Erfahrung dagegenspricht? Was treibt ihn in die Sucht und Drogenabhängigkeit?
In medizinischen Lehrbüchern wird man vergeblich Antworten auf diese Fragen suchen. Nach Diamond reichen die Wurzeln tief zurück in die Vergangenheit. Viele höherentwickelte Tiere signalisieren ihre Leistungsfähigkeit und ihre individuelle Überlegenheit, indem sie sich akuten Gefahren aussetzen. Der israelische Biologe Amoz Zahavi kam als erster auf die Idee, es könnte sich beim verlängerten Schwanz des Pfauenhahns oder bei den anderen ornamentalen, "nutzlosen" Bildungen, wie sie vor allem die Männchen entwickeln und womit sie ihren Weibchen zu imponieren versuchen, um das Zurschaustellen eines Handikaps handeln. Diamond meint, die Suchtfalle, in die viele hineingeraten, funktioniere ähnlich. Der jugendliche Raucher will ausdrücken, wie gesund und leistungsfähig er ist, daß er den Rauch verträgt. Auch die Kunst, die häufig mehr als jedes andere Merkmal des Menschen als seine alleinige Besonderheit hervorgehoben wird, hat ihre Parallelen im Tierreich. Wer einmal in den dichten Wäldern Neuguineas das prachtvolle Werk eines Laubenvogels mit eigenen Augen gesehen hat, wird kaum mehr daran zweifeln, daß auch die Werke von Tieren hohen künstlerischen Rang besitzen können.
Den kulturellen und geistigen Schöpfungen steht das Böse in seinen mannigfaltigen Ausprägungen gegenüber. Der Mensch lebte sicher nie in paradiesischer Friedlichkeit mit seinen anderen Mitbewohnern zusammen. Mit dem Aufstieg des "dritten Schimpansen" zur beherrschenden Lebensform auf der Erde wurde eine sich bis in unsere Zeit ausweitende Kettenreaktion in Gang gesetzt, die Verwüstung und Vernichtung mit sich brachte. Das gegenwärtige, vom Menschen ausgelöste Artensterben ist beispiellos und kosmischen Katastrophen vergleichbar, die vor Jahrmillionen große Teile der Artenvielfalt vernichtet hatten. Und innerhalb der eigenen Art erwies sich der Mensch unablässig als des Menschen Wolf.
Wie in der biblischen Geschichte vom Hirten Kain, dessen Opfer nicht beachtet wird, und seinem Bruder Abel, dem Ackerbauern, der gefällig aufgenommen wurde und daher in jähem Zorn von Kain erschlagen wird, wird von Diamond als Hauptursache der Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Natur, aber auch zwischen den Menschen selbst, die Landwirtschaft namhaft gemacht. Bei sorgfältiger Untersuchung des "großen Sprungs" vom Sammler- und Jägerdasein zum Seßhaftwerden und zur Landwirtschaft kommt er zu dem Schluß: "Für die meisten Menschen brachte die Landwirtschaft Infektionskrankheiten, Fehlernährung und eine verkürzte Lebenserwartung. Zu den allgemeinen Veränderungen zählte, daß sich das Los der Frau verschlechterte und die Klassengesellschaft begründet wurde. Mehr als jeder andere Meilenstein entlang dem Pfad vom Schimpansen- zum Menschentum vereint die Landwirtschaft untrennbar die Ursachen für unseren Aufstieg und Niedergang."
Mit vielen Beispielen illustriert er diese Einschätzung: "Im Widerspruch zur landläufigen Meinung, die im Mais eine der Segnungen der neuen Welt sieht, war diese Pflanze in Wirklichkeit eine Katastrophe vom Standpunkt der Volksgesundheit." Auch aus dem Blickwinkel der Naturerhaltung, könnte man hinzufügen. Kein Wunder, daß Diamond im Ausblick auf die Zukunft der Menschheit vernichtend urteilt: "War die Vergangenheit ein Goldenes Zeitalter der Unwissenheit, so ist die Gegenwart ein Eisernes Zeitalter vorsätzlicher Blindheit." Daß er es zum Schluß dennoch schafft, Optimismus zu verbreiten, läßt sich möglicherweise nur damit erklären, daß Biologen professionelle Optimisten sind. Denn sie haben es mit dem Leben zu tun.
Mitunter fragt sich der Leser aber, ob eigentlich diese oder jene Eigenart des Menschen wirklich zwingend aus der evolutionsbiologischen Exposition hervorgeht. Die Begründung, die der einführende Teil liefert, reicht offensichtlich nicht aus. Deshalb wird Diamond sicher der Vorwurf gemacht werden, biologistisch zu sein. Doch solcher Kritik kann er sich stellen. Sein Buch über den Menschen hat Volker Englich recht treffend aus dem Amerikanischen übersetzt. In seiner Art ist es einzigartig. JOSEF H. REICHHOLF
Jared Diamond: "Der dritte Schimpanse". Evolution und Zukunft des Menschen. Aus dem Amerikanischen von Volker Englich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994. 499 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jared Diamonds düsterer evolutionsbiologischer Ausblick in die Zukunft des Menschen
Von unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, unterscheiden wir uns lediglich in 1,6 Prozent der Erbanlagen. Nach den Gepflogenheiten der zoologischen Systematik gehörte der Mensch daher in dieselbe Gattung wie die beiden Schimpansenarten. Es ist erst sieben Millionen Jahre her, daß sich die Wege des Menschen von diesen Affen trennten; eine kurze Zeitspanne in den Zeiträumen der Evolution. Und doch liegen, so scheint es, Welten zwischen den Schimpansen und uns Menschen. Jared Diamond nennt uns den "dritten Schimpansen", um an unseren Ursprung zu erinnern. Aber der dritte Schimpanse wird nach allem, was die Geschichte lehrt, keine Rücksicht auf die beiden Verwandten nehmen; sowenig, wie er Rücksicht auf die eigenen Artgenossen genommen hat und nimmt.
Hat es der "dritte Schimpanse" deshalb so weit gebracht? In der Menschwerdung steckt mehr als der bloße Vorgang der anatomischen Veränderung vom weitgehend vierfüßigen Menschenaffen zum zweibeinig sich fortbewegenden Menschen. Diamond faßt in einem ersten Abschnitt den durch Fossilfunde schon recht gut belegten Weg zum Menschen in exemplarischer Kürze zusammen. Das bildet die Basis für die weiteren Überlegungen. Doch sie handeln gerade nicht von der Größe und Einzigartigkeit des Menschen als "Krone der Schöpfung". Dazu ist auch mehr als geschrieben worden.
Es sind gerade die dunklen Seiten unseres Menschseins, die dieses Buch ins Licht der evolutionsbiologischen Forschung rückt. Jared Diamond ist Biologe und Mediziner. Umfangreiche Erfahrungen in der Feldforschung in Neuguinea und viele neue Befunde zu den biologisch-medizinischen Eigenarten und Eigentümlichkeiten des Menschseins verbindet er zu einem faszinierenden Bild unserer Art. Seine Fragen richten sich auf das Warum. Warum unterscheidet sich unser Sexualverhalten so sehr von dem der anderen Menschenaffen? Weshalb entwickelte sich bei der Frau der verborgene Eisprung, der die Tage ihrer Fruchtbarkeit verschleiert? Warum entstand als biologische Einzigartigkeit die Menopause? Weshalb nimmt der Mensch so bedenkenlos schädliche und giftige Stoffe zu sich, obwohl alle Erfahrung dagegenspricht? Was treibt ihn in die Sucht und Drogenabhängigkeit?
In medizinischen Lehrbüchern wird man vergeblich Antworten auf diese Fragen suchen. Nach Diamond reichen die Wurzeln tief zurück in die Vergangenheit. Viele höherentwickelte Tiere signalisieren ihre Leistungsfähigkeit und ihre individuelle Überlegenheit, indem sie sich akuten Gefahren aussetzen. Der israelische Biologe Amoz Zahavi kam als erster auf die Idee, es könnte sich beim verlängerten Schwanz des Pfauenhahns oder bei den anderen ornamentalen, "nutzlosen" Bildungen, wie sie vor allem die Männchen entwickeln und womit sie ihren Weibchen zu imponieren versuchen, um das Zurschaustellen eines Handikaps handeln. Diamond meint, die Suchtfalle, in die viele hineingeraten, funktioniere ähnlich. Der jugendliche Raucher will ausdrücken, wie gesund und leistungsfähig er ist, daß er den Rauch verträgt. Auch die Kunst, die häufig mehr als jedes andere Merkmal des Menschen als seine alleinige Besonderheit hervorgehoben wird, hat ihre Parallelen im Tierreich. Wer einmal in den dichten Wäldern Neuguineas das prachtvolle Werk eines Laubenvogels mit eigenen Augen gesehen hat, wird kaum mehr daran zweifeln, daß auch die Werke von Tieren hohen künstlerischen Rang besitzen können.
Den kulturellen und geistigen Schöpfungen steht das Böse in seinen mannigfaltigen Ausprägungen gegenüber. Der Mensch lebte sicher nie in paradiesischer Friedlichkeit mit seinen anderen Mitbewohnern zusammen. Mit dem Aufstieg des "dritten Schimpansen" zur beherrschenden Lebensform auf der Erde wurde eine sich bis in unsere Zeit ausweitende Kettenreaktion in Gang gesetzt, die Verwüstung und Vernichtung mit sich brachte. Das gegenwärtige, vom Menschen ausgelöste Artensterben ist beispiellos und kosmischen Katastrophen vergleichbar, die vor Jahrmillionen große Teile der Artenvielfalt vernichtet hatten. Und innerhalb der eigenen Art erwies sich der Mensch unablässig als des Menschen Wolf.
Wie in der biblischen Geschichte vom Hirten Kain, dessen Opfer nicht beachtet wird, und seinem Bruder Abel, dem Ackerbauern, der gefällig aufgenommen wurde und daher in jähem Zorn von Kain erschlagen wird, wird von Diamond als Hauptursache der Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Natur, aber auch zwischen den Menschen selbst, die Landwirtschaft namhaft gemacht. Bei sorgfältiger Untersuchung des "großen Sprungs" vom Sammler- und Jägerdasein zum Seßhaftwerden und zur Landwirtschaft kommt er zu dem Schluß: "Für die meisten Menschen brachte die Landwirtschaft Infektionskrankheiten, Fehlernährung und eine verkürzte Lebenserwartung. Zu den allgemeinen Veränderungen zählte, daß sich das Los der Frau verschlechterte und die Klassengesellschaft begründet wurde. Mehr als jeder andere Meilenstein entlang dem Pfad vom Schimpansen- zum Menschentum vereint die Landwirtschaft untrennbar die Ursachen für unseren Aufstieg und Niedergang."
Mit vielen Beispielen illustriert er diese Einschätzung: "Im Widerspruch zur landläufigen Meinung, die im Mais eine der Segnungen der neuen Welt sieht, war diese Pflanze in Wirklichkeit eine Katastrophe vom Standpunkt der Volksgesundheit." Auch aus dem Blickwinkel der Naturerhaltung, könnte man hinzufügen. Kein Wunder, daß Diamond im Ausblick auf die Zukunft der Menschheit vernichtend urteilt: "War die Vergangenheit ein Goldenes Zeitalter der Unwissenheit, so ist die Gegenwart ein Eisernes Zeitalter vorsätzlicher Blindheit." Daß er es zum Schluß dennoch schafft, Optimismus zu verbreiten, läßt sich möglicherweise nur damit erklären, daß Biologen professionelle Optimisten sind. Denn sie haben es mit dem Leben zu tun.
Mitunter fragt sich der Leser aber, ob eigentlich diese oder jene Eigenart des Menschen wirklich zwingend aus der evolutionsbiologischen Exposition hervorgeht. Die Begründung, die der einführende Teil liefert, reicht offensichtlich nicht aus. Deshalb wird Diamond sicher der Vorwurf gemacht werden, biologistisch zu sein. Doch solcher Kritik kann er sich stellen. Sein Buch über den Menschen hat Volker Englich recht treffend aus dem Amerikanischen übersetzt. In seiner Art ist es einzigartig. JOSEF H. REICHHOLF
Jared Diamond: "Der dritte Schimpanse". Evolution und Zukunft des Menschen. Aus dem Amerikanischen von Volker Englich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994. 499 S., geb., 49,80 DM.
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