Die Erkenntnisse der Hirn- und Bewusstseinsforschung zeigen für Thomas Metzinger, dass unser Selbst" ein Konstrukt unseres Gehirns ist. Was bedeutet das für unser Menschenbild? Brauchen wir neben der Neuroethik eine Bewusstseinsethik? Wir stellen uns unser Selbst" als etwas Eigenständiges vor, als einen Kern, der wir im Innersten sind. In seinem Buch Der Ego-Tunnel zeigt der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger dagegen: Dieses Selbst" existiert gar nicht. Das bewusst erlebte Ich wird lediglich von unserem Gehirn erzeugt, und was wir wahrnehmen, ist nichts als ein virtuelles Selbst in einer virtuellen Realität". Zum Beleg liefert Metzinger eine Vielzahl von Beobachtungen aus den Neuro- und Kognitionswissenschaften. So haben manche Menschen, denen von Geburt an ein Arm oder Bein fehlt, oft dennoch die Empfindung, diese Gliedmaßen tatsächlich zu besitzen. Oder es ist - mit Hilfe moderner Technik - sogar möglich, das elementare Ichgefühl in ein computergeneriertes dreidimensionales Bild des eigenen Körpers im Cyberspace hineinzuversetzen. Wenn es stimmt, dass unser erlebtes Ichgefühl eine Schöpfung unserer Hirnfunktionen ist und dass sich unsere subjektive Wirklichkeit bald immer genauer manipulieren lässt, dann wirft dies drängende Fragen auf: Gibt es überhaupt so etwas wie eine Seele und einen freien Willen? Werden auch Roboter bald Selbstbewusstsein besitzen? Thomas Metzinger führt den Leser in die moderne Bewusstseinsforschung ein und macht ihn mit den für die Diskussionen der Zukunft wichtigen Fragen vertraut. In einer Zeit, in der Hirnforschung, Kognitionswissenschaften und Neuroethik so kontrovers diskutiert werden wie einst die Evolutionstheorie, eröffnet Der Ego-Tunnel einen ebenso faszinierenden wie fundierten Zugang zur geheimnisvollen Welt des menschlichen Geistes.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009Im Ego-Tunnel sind die Lichter an
Was sich in unseren Köpfen abspielt, wird Zug um Zug immer besser bekannt: Der Philosoph Thomas Metzinger nimmt die Einsichten von Hirnforschern und Psychologen zum Ausgangspunkt für eine neue Philosophie des Selbst.
Von Helmut Mayer
Sie lesen gerade die Besprechung eines Buchs, in dem es um eine neurowissenschaftlich informierte Theorie des Bewusstseins geht. Sind Sie sich Ihrer Lektüre bewusst? Eine merkwürdige Frage, werden Sie vielleicht sagen. In gewissem Sinn, natürlich. Schließlich schlafen Sie nicht, und wir wollen annehmen, dass Ihnen im Moment auch nicht jene Form des automatisch fortlaufenden Lesens unterläuft, derer man erst gewahr wird, wenn man aus seiner Unaufmerksamkeit erwacht und bemerkt, den Sinn der gelesenen Sätze gar nicht erfasst zu haben.
Andererseits verfällt man nicht gleich darauf, die Bewusstheit einer solchen Tätigkeit eigens hervorzuheben. Es sei denn, es gilt besondere Umstände zu unterstreichen. Beim Steuern eines Autos auf einer vertrauten Strecke etwa werden die meisten Ihrer damit verknüpften Handlungen ziemlich automatisch ablaufen, ohne Ihrer besonderen Aufmerksamkeit zu bedürfen. Aber es könnte Sinn haben, zu betonen, dass Sie ein bestimmtes neues Plakat ganz bewusst wahrgenommen haben: Sie haben Ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet und können sich an diesen Umstand und seinen Kontext auch erinnern.
Auf der Spur solcher Betrachtungen unserer alltäglichen Verwendungen des Wortes "bewusst" ließe sich Bewusstsein als Form der Aufmerksamkeit verstehen: auf Gegenstände oder Abläufe in der Welt genauso wie auf unsere eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und Erinnerungen. Und neurowissenschaftlich wäre dann herauszubekommen, was eigentlich welche Neuronenverbände in unserem Gehirn dabei so alles machen, damit es mit bewussten mentalen Aktivitäten und ihrer Verkettung zu mentalen Geschichten klappt.
Und hinter allen Simulationen doch noch irgendeine Welt.
Diese neuronale Basis von Bewusstheit - unter Philosophen des Geistes und Hirnforschern als "neural correlate of consciousness" (NCC) debattiert - hat Thomas Metzinger als Kern einer neurowissenschaftlichen Erforschung des Phänomens Bewusstsein im Blick. Und der in Mainz lehrende Philosoph, bereits eine bekannte Figur auf dem Parkett der Philosophie des Geistes, prognostiziert auch gleich, dass es in den nächsten Jahrzehnten gelingen werde, dieses NCC für einzelne bewusste Aktivitäten genauso wie für Bewusstseinserlebnisse in ihrer Gesamtheit herauszufinden. Was damit an Einsichten zu erwarten und wie es konzeptuell zu fassen ist, soll der theoretische Rahmen vor Augen führen, den er mit seiner "Philosophie des Selbst" entwirft.
Dass er dabei denkbar grundsätzlich vorgeht, machen gleich zu Beginn die Fragen klar, die der Autor beantworten will: "Weshalb gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat? Wer ist es, der Ihre Gefühle fühlt, wer genau ist es, der Ihre Träume träumt? Wer ist der Handelnde, der das Tun tut, was ist die Entität, die ihre eigenen Gedanken denkt? Warum ist Ihre bewusste Wirklichkeit Ihre bewusste Wirklichkeit?"
Worauf man gleich die Gegenfragen stellen möchte: Gibt es denn ein "Erlebnis", das niemand hat? Wer sollte meine Gedanken denken und meine Gefühle fühlen als eben ich? Und wessen Wirklichkeit sollte meine Wirklichkeit - was immer damit genauer gemeint sein soll - denn sein? Aber Metzinger möchte eben, Grammatik hin oder her, noch weiter hinunter, zu einer tieferliegenden Beschreibungsweise auf der Ebene neuronaler Netzwerke.
Dabei verfährt er einerseits durchaus nüchtern, weit entfernt jedenfalls von jenen Kollegen auf neurophilosophischem Terrain, die für eine solide wissenschaftliche Behandlung des Phänomens Bewusstsein schwer überwindbare oder auch prinzipiell gezogene Grenzen sehen. Keine Rede also davon, dass wir angesichts von "subjektiven", nur aus der Perspektive der ersten Person zugänglichen Empfindungsqualitäten und -inhalten vor abgründigen "Erklärungslücken" stünden oder eine als unumgehbar gedachte Konvertierung von objektiv konstatierter Neuronenaktivität in subjektives mentales Erleben einen unauflöslichen Knoten bezeichnen würde. Bewusstsein ist kein abgründiges Rätsel, sondern Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, die freilich nicht auf gebahnten Wegen läuft.
Dass es ohne Neuronenaktivität nicht zu haben ist, darauf wird man sich aber einigen können. Für eine nähere Charakterisierung der NCCs hält es Metzinger mit der Hypothese, dass bewusste Akte dann zustande kommen, wenn verteilte und funktional hinreichend unterschiedliche Neuronengruppen für kurze Zeit eine Art Arbeitsgemeinschaft bilden und dabei ein kohärentes Aktivitätsmuster erzeugen, das sich vom übrigen neuronalen Geschehen abhebt.
Eine Abfolge von solchen Clustern entspräche dann aufeinanderfolgenden Bewusstseinszuständen. Wobei natürlich zu beachten ist, dass keine übergeordnete Instanz Regie führt, welche verteilte Neuronengemeinschaft sich als nächstes für einen Auftritt durchsetzt, sondern sich das neuronale Theater beständig auf verschiedenen Ebenen selbst neu organisiert. Die geforderte funktionale Differenzierung der Neuronennetze bei gleichzeitiger Kohärenz ihrer Aktivität soll dabei grundlegende Eigenschaften von Bewusstsein widerspiegeln: den simultanen und flexiblen Zugriff auf verschiedene Arten von Inhalten, die als Teile eines umfassenden Ganzen erscheinen - nämlich der einen bewusst wahrgenommenen Welt, dessen Zentrum derjenige ist, in dessen Kopf das neuronale Theater abläuft.
Und ein drittes Element kommt für Metzinger noch hinzu, nämlich die einer philosophischen Tradition entnommene Bestimmung von Bewusstsein als Form höherstufigen Wissens. Neurowissenschaftlich übersetzt würde daraus eine Form simultaner Metadarstellung der neuronalen Verarbeitungsmechanismen von Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen hinauslaufen. Wobei man aber gleich hinzufügen kann, dass die heiklen Fragen ohnehin bereits bei den "einfachen" Repräsentationen beginnen.
Denn bei solchen begrifflichen Schritten, die nicht bloß technische Kürzel der Hirnforscher fortschreiben sollen, geht es bereits um den Übergang von einer neurowissenschaftlichen Bottom-up-Perspektive zum hoch ansetzenden Erklärungsrahmen, in den die Aufschlüsse der Neurowissenschaftler und Psychologen über die konstruktiven Mechanismen unserer Selbst- und Weltwahrnehmung sich integrieren lassen sollen.
Die zentrale Einsicht, auf die er dabei baut, lautet: Das neuronale Geschehen simuliert ein Selbst sowie die ihm erschlossene Welt, einschließlich der Verkörperung dieses Selbst. Woraus ersichtlich wird, dass wir gar keinen direkten Zugang zu dieser Welt und nicht einmal zu unserem eigenen Körper haben, denn es handelt sich im einen wie im anderen Fall lediglich um Konstrukte des neuronalen Theaters. Um niedrigdimensionale interne Schattendarstellungen einer viel reicheren äußeren Welt und um ein Modell des eigenen gefühlten Körpers, das sich unter geschickt gewählten Versuchsbedingungen als recht modifizierbar entpuppt.
Und weil wahrnehmen heißt, im Medium dieser neuronalen Simulationsleistungen wahrzunehmen, erklärt das auch, warum uns diese Simulationen entgehen und wir einfach "die" Welt zu sehen und "diesen" unseren Körper zu fühlen glauben - bis uns die Experimente der Psychologen und Hirnforscher in philosophisch grundsätzlicher Beleuchtung ein Licht aufstecken, das uns zumindest zur indirekten Einsicht in die wahren Verhältnisse bringt. Dann erkennen wir, dass in Organismen mit hinlänglich komplexem Nervensystem ein innerer Bewusstseinstunnel erzeugt wird, dessen Inhalt in unserem Fall das "Ego" ist. Obwohl wir natürlich nicht in diesem Tunnel, sondern der Tunnel selbst sind, der genauer gesagt auch gar kein Tunnel ist und keine zweidimensionale Oberfläche hat, die etwas oder gar uns einschlösse, sondern eben Teil des Schattentheaters, dessen Selbstund Weltwahrnehmung hervorzubringen offenbar von evolutionärem Vorteil bei der vorausschauenden Steuerung unseres Körpers war.
Ohne philosophische Abgründigkeiten und schiefe Bilder geht es bei Metzinger also nicht ab. Metaphysischer Thrill muss sein, samt so schillernden Fragen wie: Was wäre mit einem leeren Bewusstseintunnel? Oder mit sich verzweigenden Ego-Tunnels? Obwohl man stattdessen lieber die Frage aufwerfen möchte, wie denn eigentlich der direkte Kontakt zur Wirklichkeit und zu meinem Körper auszusehen hätte, der von der Simulation ersetzt wird. Vielleicht ein Kontakt ohne alle neuronale Verarbeitung? Oder ein Kontakt, der eine wirklich gute Abbildung statt einer bloß schattenhaften böte? Aber eine solche auszumachen, dazu fehlen uns notwendigerweise die Kriterien. Man darf an ein hübsches Beispiel von Jorge Louis Borges denken: Eine Landkarte ist sicher ärmer an Informationen als das kartierte Land. Man kann sie anreichern, sogar maximal, indem man sie schlussendlich deckungsgleich mit dem Land selbst macht. Nur ist das dann keine Abbildung mehr, sondern der Gegenstand selbst. Und was der "Gegenstand selbst" im Fall der Wahrnehmung sein soll, also eigentlich ohne Wahrnehmung, davon haben wir naturgemäß keinen blassen Schimmer.
So kommen bei Metzingers Integration neurowissenschaftlicher Befunde zu einer übergreifenden "Vision" merkwürdige Übertreibungen zustande. Obwohl er bei der Darstellung der Experimente selbst in der Regel durchaus nüchtern verfährt, selbst wenn seine Prognosen über zu erwartende neurowissenschaftliche Durchbrüche bei der Identifizierung unserer Bewusstseinszustände natürlich überschwänglich ausfallen. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie sich die Forschung auf die Spur der verschiedenen neuronalen Module setzt - nicht selten immer noch über das Studium von funktionalen Ausfällen nach Läsionen des Gehirns -, deren Zusammenarbeit zu den untersuchten mentalen Leistungen führt.
Ob sich damit am Ende zeigen lässt, wie der Autor es anvisiert, dass wir eigentlich gar kein Selbst haben, hängt ganz davon ab, was wir uns da eigentlich immer vorgestellt haben sollen. Im Zweifelsfall gilt anscheinend: immer das Gegenteil von dem, was neurowissenschaftliche Aufklärung gerade anzubringen hat. Es ist ein Spiel, bei dem gern vergessen wird, dass Neudefinitionen unseres einschlägigen Vokabulars nicht ohne weiteres zu haben sind, weil Letzteres schließlich erklärt werden soll.
Ein Plädoyer für die Drogen von morgen.
Trotzdem wird die fortschreitende Neurowissenschaft, da liegt Metzinger richtig, uns veränderte Formen der Selbstbeschreibung bringen. Seine eigene Darstellung zeigt aber auch, wie man das verstehen sollte: nicht als endliche wissenschaftliche Enthüllung unseres inneren Wesens, sondern als Herstellung neuer Selbstverhältnisse durch den immer besser gelingenden direkten Zugriff auf Bewusstseinszustände. Wo Metzinger von den absehbaren Möglichkeiten handelt, mit zielgenau entwickelten Pharmaka und Drogen unsere Stimmungslagen, psychischen Dispositionen, Verhaltensweisen und kognitiven Fähigkeiten zu modulieren, wird das greifbar. Die neuen Formen von Selbsttechnologien werden die meisten bisherigen Varianten als aufwendige Umwege dastehen lassen. Der Ansatzpunkt sind nun die neurochemischen Vorgänge in unseren Köpfen, die auf immer feiner abgestimmte Art verändert werden können, um zu erreichen, was wir wollen: "Wachheit, Konzentration, emotionale Stabilität und Ausstrahlung".
Diese Entwicklung hat schon begonnen, und Verbote von nicht medizinisch indizierten Verwendungen werden ziemlich nutzlos sein. Metzinger setzt dagegen ein eindrucksvolles Plädoyer für die Freigabe von bewusstseinsverändernden Drogen, die nicht mehr wegen gesundheitsschädlicher Suchtfolgen auf den Index gesetzt werden können. Und eine "Bewusstseinsethik", wie sie der Autor stattdessen ins Spiel bringt, könnte auch den Blick dafür schärfen, dass die Grenzen zwischen "natürlichen" und "künstlichen" Verfahren der Selbstgestaltung immer weiter verschwimmen werden. Für solche Diagnosen brauchte es allerdings nicht unbedingt eine neue Philosophie des Selbst. Nüchterner wäre es ohnehin, die philosophischen Wolken, die über neurowissenschaftliches Terrain ziehen, zu ein paar Tröpfchen gediegener Methoden- und Sprachbetrachtung zu kondensieren. Aber viel Thrill hat das natürlich nicht - ganz im Gegensatz zu Metzingers Blick auf die Neurowissenschaften und unsere Zukunft. Und Überraschungen werden wir uns ja sicher noch einige bereiten.
Thomas Metzinger: "Der Ego-Tunnel". Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Aus dem Englischen vom Autor und Thorsten Schmidt. Berlin Verlag, Berlin 2009. 384 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was sich in unseren Köpfen abspielt, wird Zug um Zug immer besser bekannt: Der Philosoph Thomas Metzinger nimmt die Einsichten von Hirnforschern und Psychologen zum Ausgangspunkt für eine neue Philosophie des Selbst.
Von Helmut Mayer
Sie lesen gerade die Besprechung eines Buchs, in dem es um eine neurowissenschaftlich informierte Theorie des Bewusstseins geht. Sind Sie sich Ihrer Lektüre bewusst? Eine merkwürdige Frage, werden Sie vielleicht sagen. In gewissem Sinn, natürlich. Schließlich schlafen Sie nicht, und wir wollen annehmen, dass Ihnen im Moment auch nicht jene Form des automatisch fortlaufenden Lesens unterläuft, derer man erst gewahr wird, wenn man aus seiner Unaufmerksamkeit erwacht und bemerkt, den Sinn der gelesenen Sätze gar nicht erfasst zu haben.
Andererseits verfällt man nicht gleich darauf, die Bewusstheit einer solchen Tätigkeit eigens hervorzuheben. Es sei denn, es gilt besondere Umstände zu unterstreichen. Beim Steuern eines Autos auf einer vertrauten Strecke etwa werden die meisten Ihrer damit verknüpften Handlungen ziemlich automatisch ablaufen, ohne Ihrer besonderen Aufmerksamkeit zu bedürfen. Aber es könnte Sinn haben, zu betonen, dass Sie ein bestimmtes neues Plakat ganz bewusst wahrgenommen haben: Sie haben Ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet und können sich an diesen Umstand und seinen Kontext auch erinnern.
Auf der Spur solcher Betrachtungen unserer alltäglichen Verwendungen des Wortes "bewusst" ließe sich Bewusstsein als Form der Aufmerksamkeit verstehen: auf Gegenstände oder Abläufe in der Welt genauso wie auf unsere eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und Erinnerungen. Und neurowissenschaftlich wäre dann herauszubekommen, was eigentlich welche Neuronenverbände in unserem Gehirn dabei so alles machen, damit es mit bewussten mentalen Aktivitäten und ihrer Verkettung zu mentalen Geschichten klappt.
Und hinter allen Simulationen doch noch irgendeine Welt.
Diese neuronale Basis von Bewusstheit - unter Philosophen des Geistes und Hirnforschern als "neural correlate of consciousness" (NCC) debattiert - hat Thomas Metzinger als Kern einer neurowissenschaftlichen Erforschung des Phänomens Bewusstsein im Blick. Und der in Mainz lehrende Philosoph, bereits eine bekannte Figur auf dem Parkett der Philosophie des Geistes, prognostiziert auch gleich, dass es in den nächsten Jahrzehnten gelingen werde, dieses NCC für einzelne bewusste Aktivitäten genauso wie für Bewusstseinserlebnisse in ihrer Gesamtheit herauszufinden. Was damit an Einsichten zu erwarten und wie es konzeptuell zu fassen ist, soll der theoretische Rahmen vor Augen führen, den er mit seiner "Philosophie des Selbst" entwirft.
Dass er dabei denkbar grundsätzlich vorgeht, machen gleich zu Beginn die Fragen klar, die der Autor beantworten will: "Weshalb gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat? Wer ist es, der Ihre Gefühle fühlt, wer genau ist es, der Ihre Träume träumt? Wer ist der Handelnde, der das Tun tut, was ist die Entität, die ihre eigenen Gedanken denkt? Warum ist Ihre bewusste Wirklichkeit Ihre bewusste Wirklichkeit?"
Worauf man gleich die Gegenfragen stellen möchte: Gibt es denn ein "Erlebnis", das niemand hat? Wer sollte meine Gedanken denken und meine Gefühle fühlen als eben ich? Und wessen Wirklichkeit sollte meine Wirklichkeit - was immer damit genauer gemeint sein soll - denn sein? Aber Metzinger möchte eben, Grammatik hin oder her, noch weiter hinunter, zu einer tieferliegenden Beschreibungsweise auf der Ebene neuronaler Netzwerke.
Dabei verfährt er einerseits durchaus nüchtern, weit entfernt jedenfalls von jenen Kollegen auf neurophilosophischem Terrain, die für eine solide wissenschaftliche Behandlung des Phänomens Bewusstsein schwer überwindbare oder auch prinzipiell gezogene Grenzen sehen. Keine Rede also davon, dass wir angesichts von "subjektiven", nur aus der Perspektive der ersten Person zugänglichen Empfindungsqualitäten und -inhalten vor abgründigen "Erklärungslücken" stünden oder eine als unumgehbar gedachte Konvertierung von objektiv konstatierter Neuronenaktivität in subjektives mentales Erleben einen unauflöslichen Knoten bezeichnen würde. Bewusstsein ist kein abgründiges Rätsel, sondern Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, die freilich nicht auf gebahnten Wegen läuft.
Dass es ohne Neuronenaktivität nicht zu haben ist, darauf wird man sich aber einigen können. Für eine nähere Charakterisierung der NCCs hält es Metzinger mit der Hypothese, dass bewusste Akte dann zustande kommen, wenn verteilte und funktional hinreichend unterschiedliche Neuronengruppen für kurze Zeit eine Art Arbeitsgemeinschaft bilden und dabei ein kohärentes Aktivitätsmuster erzeugen, das sich vom übrigen neuronalen Geschehen abhebt.
Eine Abfolge von solchen Clustern entspräche dann aufeinanderfolgenden Bewusstseinszuständen. Wobei natürlich zu beachten ist, dass keine übergeordnete Instanz Regie führt, welche verteilte Neuronengemeinschaft sich als nächstes für einen Auftritt durchsetzt, sondern sich das neuronale Theater beständig auf verschiedenen Ebenen selbst neu organisiert. Die geforderte funktionale Differenzierung der Neuronennetze bei gleichzeitiger Kohärenz ihrer Aktivität soll dabei grundlegende Eigenschaften von Bewusstsein widerspiegeln: den simultanen und flexiblen Zugriff auf verschiedene Arten von Inhalten, die als Teile eines umfassenden Ganzen erscheinen - nämlich der einen bewusst wahrgenommenen Welt, dessen Zentrum derjenige ist, in dessen Kopf das neuronale Theater abläuft.
Und ein drittes Element kommt für Metzinger noch hinzu, nämlich die einer philosophischen Tradition entnommene Bestimmung von Bewusstsein als Form höherstufigen Wissens. Neurowissenschaftlich übersetzt würde daraus eine Form simultaner Metadarstellung der neuronalen Verarbeitungsmechanismen von Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen hinauslaufen. Wobei man aber gleich hinzufügen kann, dass die heiklen Fragen ohnehin bereits bei den "einfachen" Repräsentationen beginnen.
Denn bei solchen begrifflichen Schritten, die nicht bloß technische Kürzel der Hirnforscher fortschreiben sollen, geht es bereits um den Übergang von einer neurowissenschaftlichen Bottom-up-Perspektive zum hoch ansetzenden Erklärungsrahmen, in den die Aufschlüsse der Neurowissenschaftler und Psychologen über die konstruktiven Mechanismen unserer Selbst- und Weltwahrnehmung sich integrieren lassen sollen.
Die zentrale Einsicht, auf die er dabei baut, lautet: Das neuronale Geschehen simuliert ein Selbst sowie die ihm erschlossene Welt, einschließlich der Verkörperung dieses Selbst. Woraus ersichtlich wird, dass wir gar keinen direkten Zugang zu dieser Welt und nicht einmal zu unserem eigenen Körper haben, denn es handelt sich im einen wie im anderen Fall lediglich um Konstrukte des neuronalen Theaters. Um niedrigdimensionale interne Schattendarstellungen einer viel reicheren äußeren Welt und um ein Modell des eigenen gefühlten Körpers, das sich unter geschickt gewählten Versuchsbedingungen als recht modifizierbar entpuppt.
Und weil wahrnehmen heißt, im Medium dieser neuronalen Simulationsleistungen wahrzunehmen, erklärt das auch, warum uns diese Simulationen entgehen und wir einfach "die" Welt zu sehen und "diesen" unseren Körper zu fühlen glauben - bis uns die Experimente der Psychologen und Hirnforscher in philosophisch grundsätzlicher Beleuchtung ein Licht aufstecken, das uns zumindest zur indirekten Einsicht in die wahren Verhältnisse bringt. Dann erkennen wir, dass in Organismen mit hinlänglich komplexem Nervensystem ein innerer Bewusstseinstunnel erzeugt wird, dessen Inhalt in unserem Fall das "Ego" ist. Obwohl wir natürlich nicht in diesem Tunnel, sondern der Tunnel selbst sind, der genauer gesagt auch gar kein Tunnel ist und keine zweidimensionale Oberfläche hat, die etwas oder gar uns einschlösse, sondern eben Teil des Schattentheaters, dessen Selbstund Weltwahrnehmung hervorzubringen offenbar von evolutionärem Vorteil bei der vorausschauenden Steuerung unseres Körpers war.
Ohne philosophische Abgründigkeiten und schiefe Bilder geht es bei Metzinger also nicht ab. Metaphysischer Thrill muss sein, samt so schillernden Fragen wie: Was wäre mit einem leeren Bewusstseintunnel? Oder mit sich verzweigenden Ego-Tunnels? Obwohl man stattdessen lieber die Frage aufwerfen möchte, wie denn eigentlich der direkte Kontakt zur Wirklichkeit und zu meinem Körper auszusehen hätte, der von der Simulation ersetzt wird. Vielleicht ein Kontakt ohne alle neuronale Verarbeitung? Oder ein Kontakt, der eine wirklich gute Abbildung statt einer bloß schattenhaften böte? Aber eine solche auszumachen, dazu fehlen uns notwendigerweise die Kriterien. Man darf an ein hübsches Beispiel von Jorge Louis Borges denken: Eine Landkarte ist sicher ärmer an Informationen als das kartierte Land. Man kann sie anreichern, sogar maximal, indem man sie schlussendlich deckungsgleich mit dem Land selbst macht. Nur ist das dann keine Abbildung mehr, sondern der Gegenstand selbst. Und was der "Gegenstand selbst" im Fall der Wahrnehmung sein soll, also eigentlich ohne Wahrnehmung, davon haben wir naturgemäß keinen blassen Schimmer.
So kommen bei Metzingers Integration neurowissenschaftlicher Befunde zu einer übergreifenden "Vision" merkwürdige Übertreibungen zustande. Obwohl er bei der Darstellung der Experimente selbst in der Regel durchaus nüchtern verfährt, selbst wenn seine Prognosen über zu erwartende neurowissenschaftliche Durchbrüche bei der Identifizierung unserer Bewusstseinszustände natürlich überschwänglich ausfallen. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie sich die Forschung auf die Spur der verschiedenen neuronalen Module setzt - nicht selten immer noch über das Studium von funktionalen Ausfällen nach Läsionen des Gehirns -, deren Zusammenarbeit zu den untersuchten mentalen Leistungen führt.
Ob sich damit am Ende zeigen lässt, wie der Autor es anvisiert, dass wir eigentlich gar kein Selbst haben, hängt ganz davon ab, was wir uns da eigentlich immer vorgestellt haben sollen. Im Zweifelsfall gilt anscheinend: immer das Gegenteil von dem, was neurowissenschaftliche Aufklärung gerade anzubringen hat. Es ist ein Spiel, bei dem gern vergessen wird, dass Neudefinitionen unseres einschlägigen Vokabulars nicht ohne weiteres zu haben sind, weil Letzteres schließlich erklärt werden soll.
Ein Plädoyer für die Drogen von morgen.
Trotzdem wird die fortschreitende Neurowissenschaft, da liegt Metzinger richtig, uns veränderte Formen der Selbstbeschreibung bringen. Seine eigene Darstellung zeigt aber auch, wie man das verstehen sollte: nicht als endliche wissenschaftliche Enthüllung unseres inneren Wesens, sondern als Herstellung neuer Selbstverhältnisse durch den immer besser gelingenden direkten Zugriff auf Bewusstseinszustände. Wo Metzinger von den absehbaren Möglichkeiten handelt, mit zielgenau entwickelten Pharmaka und Drogen unsere Stimmungslagen, psychischen Dispositionen, Verhaltensweisen und kognitiven Fähigkeiten zu modulieren, wird das greifbar. Die neuen Formen von Selbsttechnologien werden die meisten bisherigen Varianten als aufwendige Umwege dastehen lassen. Der Ansatzpunkt sind nun die neurochemischen Vorgänge in unseren Köpfen, die auf immer feiner abgestimmte Art verändert werden können, um zu erreichen, was wir wollen: "Wachheit, Konzentration, emotionale Stabilität und Ausstrahlung".
Diese Entwicklung hat schon begonnen, und Verbote von nicht medizinisch indizierten Verwendungen werden ziemlich nutzlos sein. Metzinger setzt dagegen ein eindrucksvolles Plädoyer für die Freigabe von bewusstseinsverändernden Drogen, die nicht mehr wegen gesundheitsschädlicher Suchtfolgen auf den Index gesetzt werden können. Und eine "Bewusstseinsethik", wie sie der Autor stattdessen ins Spiel bringt, könnte auch den Blick dafür schärfen, dass die Grenzen zwischen "natürlichen" und "künstlichen" Verfahren der Selbstgestaltung immer weiter verschwimmen werden. Für solche Diagnosen brauchte es allerdings nicht unbedingt eine neue Philosophie des Selbst. Nüchterner wäre es ohnehin, die philosophischen Wolken, die über neurowissenschaftliches Terrain ziehen, zu ein paar Tröpfchen gediegener Methoden- und Sprachbetrachtung zu kondensieren. Aber viel Thrill hat das natürlich nicht - ganz im Gegensatz zu Metzingers Blick auf die Neurowissenschaften und unsere Zukunft. Und Überraschungen werden wir uns ja sicher noch einige bereiten.
Thomas Metzinger: "Der Ego-Tunnel". Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Aus dem Englischen vom Autor und Thorsten Schmidt. Berlin Verlag, Berlin 2009. 384 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein kluges und gewichtiges Buch. Was der Leser in diesem Buch erfährt, kann ihm helfen, sich selbst und die Welt etwas besser zu verstehen." -- Süddeutsche Zeitung
"Dieses Buch zu lesen ist ein bereicherndes Erlebnis." -- Die Zeit
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zu den Fragen, die Thomas Metzinger als Philosoph des Bewusstseins stellt, gehört zentral die nach dem neuronalen Korrelat des Bewusstseins. Aber auch eine Frage wie diese: "Weshalb gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat?" Die Antwort darauf fällt kompliziert aus, im Kern aber lässt sich wohl sagen, dass unser Selbst für Metzinger nicht mehr als die Simulation ist, die das neuronale Geschehen auf die Bühne bringt - aber so, dass wir uns und die Welt um uns "direkt" wahrzunehmen scheinen. Heraus kommt für Metzinger, dass "wir eigentlich gar kein Selbst haben" - das allerdings ist nach Ansicht des Rezensenten Helmut Mayer eine These, von der überhaupt einmal erst geklärt werden müsste, was sie sagt. Eine der Konsequenzen, die der Philosoph aus seiner Forschung zieht, lautet: Freigabe psychoaktiver Substanzen da, wo sie keinen gesundheitlichen Schaden hervorrufen. Also auch: Ja zum Bewusstseins-Selbst-Management (inklusive angeschlossener Ethik). Etwas großspurig findet Mayer das alles. Dass er es nicht ernst nimmt, wird man wohl dennoch nicht sagen können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es dürfte in den letzten Jahren kaum ein Buch eines deutschen Philosophen gegeben haben, das auch international so viel diskutiert wie dieses. Thomas Metzingers 'Der Ego Tunnel' beinhaltet eine Menge Sprengstoff. In Sachen Bewusstseinsforschung ein Muss - und ein Vergnügen, es zu lesen!« 3sat 20141002