Enrico Berlinguer ist eine Schlüsselfigur der politischen Geschichte Italiens. Von 1972 bis 1984 war er Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, der größten in einem westlichen Land. Er gilt als Vater des »Eurokommunismus«. Wie kam es, dass Berlinguer diese neue Konzeption eines demokratischen Kommunismus entwickelte und damit neue Wege ging? Worin liegt Berlinguers Bedeutung heute?Die italienische Journalistin und Schriftstellerin Chiara Valentini zeichnet dazu dicht und fesselnd ein umfassendes, gut dokumentiertes Porträt. Sie berichtet über bislang unbekannte menschliche und politische Dimensionen und beschreibt die Ideen, Leidenschaften, Fehler und Erfolge dieses großen Europäers. Im Zentrum seiner Idee des Eurokommunismus standen die Themen Demokratie als universeller Wert, Unabhängigkeit von Moskau, Eintreten für die europäische Einigung, Einsatz für den Weltfrieden und die damalige »Dritte Welt«, Betonung der »moralischen Frage« in der Politik bis hin zu dem Versuch, gegensätzliche Welten zu integrieren, insbesondere im Zuge des angestrebten »historischen Kompromisses« zwischen Kommunisten und christdemokratischen Katholiken.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Matthias Rüb ist nicht unempfänglich für das Charisma, das den italienischen Kommunistenführer Enrico Berlinguer einst umgab, diese besondere Mischung aus Revolte und Melancholie. Dabei scheinen ihm die zurückhaltenden, bürgerlichen, vielleicht auch sozialdemokratischen Züge des späteren Berlinguer deutlich mehr zu behagen als der stalinistische Eifer seiner Jugend. Wie die italienische Journalistin in ihrer Biografie das Leben des KPI-Chefs erzählt, findet der Rezensent anschaulich und nachvolziehbar und in der deutschen Übersetzung auch gut kommentiert. Beeindruckt hat ihn Berlinguers Einsicht in den real existierenden Kommunismus der Sowjetunion, wie er zitiert: "Erstens, die Wahrheit sagt man so selten wie möglich. Zweitens, die Landwirtschaft funktioniert nicht. Drittens, es gelingt nie, das Papier von den Karamellbonbons abzuziehen."
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2022Das Karamellbonbonpapier-Theorem
Eine Biographie des "eigenartigen Genossen" Enrico Berlinguer, der vor hundert Jahren geboren wurde
Bei seiner letzten Reise in die große Sowjetunion, aus Anlass der Beerdigung von Partei- und Staatschef Juri Andropow im Februar 1984, sagte Enrico Berlinguer, damals seit immerhin zwölf Jahren Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), denkwürdige Sätze über den real existierenden Kommunismus: "Erstens, die Wahrheit sagt man so selten wie möglich. Zweitens, die Landwirtschaft funktioniert nicht. Drittens, es gelingt nie, das Papier von den Karamellbonbons abzuziehen."
Die Sätze, im Trauerzug in Moskau zwei mitgereisten Genossen aus Italien zugeraunt, sind eine Lebensbilanz, so bitter wie ironisch. Wenige Monate später erlitt Berlinguer, bei einem Wahlkampfauftritt in Padua, auf der Rednerbühne vor Tausenden Zuhörern, eine Hirnblutung. Am 11. Juni 1984, nach vier Tagen im Koma, starb Enrico Berlinguer. Er wurde 62 Jahre alt. An den Trauerfeierlichkeiten zwei Tage darauf in Rom nahmen 1,5 Millionen Menschen teil. Moskau schickte zur Beerdigung des italienischen Genossen das für Sowjetverhältnisse junge Politbüromitglied Michail Gorbatschow.
Berlinguer und Gorbatschow waren sich erstmals 1972 in Turin begegnet, bei einem Kulturfestival der Parteizeitung "L'Unità". Es wird berichtet, Berlinguer und Gorbatschow hätten sich auf Anhieb gut verstanden, bei späteren gelegentlichen Treffen ebenfalls. Sollte es in der Hölle oder im Himmel eine Abteilung für ehrenhaft gescheiterte Kommunisten geben, dann sitzen dort Enrico und Michail zum endlosen Gespräch beisammen: über die grundsätzlich mögliche, hienieden aber nie erreichte Vereinbarkeit von Demokratie und Kommunismus.
Berlinguer formulierte für sich und seine Partei folgenden Leitsatz: "Wir müssen Konservative und Revolutionäre sein." Wie er diese widersprüchliche Formel in seinem politischen Wirken, vom Beitritt zur KPI 1943 bis zum Aufstieg an die Spitze der größten kommunistischen Partei in einem westlichen Land 1972, mit Sinn und Leben zu erfüllen suchte, hat die italienische Journalistin Chiara Valentini in ihrer Biographie beschrieben. Valentini, 1944 geboren, hat in ihrer Laufbahn mehrfach Interviews mit dem KPI-Chef geführt. Sie macht kein Hehl aus ihrer Wertschätzung für diesen so untypischen Genossen. Dessen Leben erzählt sie chronologisch, dazu in einem Gestus, als hätte sie miterlebt, worüber sie berichtet. In Italien erschien das Buch 2014. Die vorzügliche Übersetzung ist mit einem Anmerkungsapparat für deutschsprachige Leser, einem kommentierten Personenverzeichnis und einer Zeittafel versehen. Damit wird die erste auf Deutsch erschienene Monographie über diese große Gestalt der italienischen und europäischen Geschichte, über deren Wirken von der Nachkriegszeit bis zu den Spätjahren des Kalten Krieges zugleich zum Kompendium und Nachschlagewerk.
Geboren wird Berlinguer am 25. Mai 1922 in Sassari auf Sardinien, als Spross einer aristokratisch-großbürgerlichen Familie, die zumal väterlicherseits Politik im Blut hat. Der Großvater war ein Weggefährte von Garibaldi und Mazzini, der Vater ein berühmter Rechtsanwalt, Journalist und für die Republikanische Partei aktiv. Die Mutter entstammte einer Dynastie von Wissenschaftlern. Das Elternhaus atmete den Geist progressiven Bürgertums, ist sozusagen grundimmunisiert gegen Mussolinis Faschismus. In der Bibliothek des Vaters fand Enrico die Klassiker der Literatur und der Philosophie, vom unkonventionellen Onkel Ettore wurden ihm die Bücher des russischen Anarchisten Michail Bakunin zugesteckt. Mag sein, dass der frühe Tod der geliebten Mutter - sie starb an den Folgen einer Hirnhautentzündung, als Enrico 14 Jahre alt war - schon dem Halbwüchsigen jenen schwermütig-schüchternen Charakterzug gab, der den Politiker prägte und ihm sein besonderes Charisma verlieh. In einer seiner wenigen autobiographischen Aufzeichnungen berichtete Berlinguer später, er erinnere sich intensiv "an ein Gefühl der Rebellion", das ihn als Junge erfüllt habe: "Ich protestierte gegen alles: die Religion, den Staat, Schlagwörter und gesellschaftliche Gewohnheiten." So war im Heranwachsenden schon angelegt, was diesen "eigenartigen Genossen" später auszeichnete: die Verbindung von Rebellion und Melancholie, die nur auf den ersten Blick eine unglückliche war.
1940 begann Berlinguer das Jurastudium an der Universität seiner Heimatstadt, 1943 erfolgte der Beitritt zur KPI. Die erste "praktische" Erfahrung als politischer Aktivist war die Teilnahme an den sogenannten Brotaufständen auf Sardinien von 1944. Berlinguer wurde verhaftet und verbrachte 100 Tage im Gefängnis. Nach Kriegsende ging er nach Rom, dort von KPI-Chef Palmiro Togliatti, einem Schulfreund des Vaters, protegiert, und wurde bald zum Generalsekretär der Jugendfront. Als Stalin im März 1953 starb, schreibt Berlinguer einen Nachruf mit dem Titel: "Wir haben unseren größten Freund verloren."
Wie aus dem stalinistischen Kader und Apologeten der Diktatur des Proletariats über die Jahre ein demokratischer Sozialist wird, der die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts verurteilt; der in Italien den "historischen Kompromiss" mit den Christdemokraten unter Aldo Moro sucht und den Primat der Demokratie postuliert; der den Eurokommunismus ersinnt und die KPI zur zweitstärksten Volkspartei Italiens macht; der von Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Olof Palme, Bruno Kreisky, Felipe Gonzáles und François Mitterrand als Dialogpartner geschätzt wird; der nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 endgültig den "strappo" (Riss) mit Moskau vollzieht; der den Machismo zu überwinden trachtet und als visionärer Moralist den Schulterschluss der europäischen Linken mit dem globalen Süden sucht - dies alles schildert Valentini ausführlich und anschaulich. "Sein ganzes Leben lang wird die Suche nach der Auflösung der Quadratur des Kreises zwischen Kommunismus und Demokratie das große Unterfangen von Enrico Berlinguer sein", resümiert die Biographin zutreffend.
Wegen seiner Ehrlichkeit und Bescheidenheit wurde dieser Politiker, dem die geballte Faust als Gruß der Gesinnungsgenossen immer missfiel, auch von seinen Widersachern respektiert und geschätzt. Das "annus mirabilis" 1989, den Zusammenbruch des real existierenden Kommunismus in Europa hat Berlinguer nicht mehr erlebt. Schon lange vor seinem plötzlichen Tod im Jahre 1984 hatte er sich faktisch zum Sozialdemokraten gewandelt. Denn der konservative Revolutionär wusste, dass man nur in einer Demokratie die Wahrheit sagen kann. Und dass nur die Marktwirtschaft garantiert, dass die Landwirtschaft funktioniert und sich das Karamellbonbon vom Papier löst. MATTHIAS RÜB
Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa.
J.H.W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 2022. 480 S., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Biographie des "eigenartigen Genossen" Enrico Berlinguer, der vor hundert Jahren geboren wurde
Bei seiner letzten Reise in die große Sowjetunion, aus Anlass der Beerdigung von Partei- und Staatschef Juri Andropow im Februar 1984, sagte Enrico Berlinguer, damals seit immerhin zwölf Jahren Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), denkwürdige Sätze über den real existierenden Kommunismus: "Erstens, die Wahrheit sagt man so selten wie möglich. Zweitens, die Landwirtschaft funktioniert nicht. Drittens, es gelingt nie, das Papier von den Karamellbonbons abzuziehen."
Die Sätze, im Trauerzug in Moskau zwei mitgereisten Genossen aus Italien zugeraunt, sind eine Lebensbilanz, so bitter wie ironisch. Wenige Monate später erlitt Berlinguer, bei einem Wahlkampfauftritt in Padua, auf der Rednerbühne vor Tausenden Zuhörern, eine Hirnblutung. Am 11. Juni 1984, nach vier Tagen im Koma, starb Enrico Berlinguer. Er wurde 62 Jahre alt. An den Trauerfeierlichkeiten zwei Tage darauf in Rom nahmen 1,5 Millionen Menschen teil. Moskau schickte zur Beerdigung des italienischen Genossen das für Sowjetverhältnisse junge Politbüromitglied Michail Gorbatschow.
Berlinguer und Gorbatschow waren sich erstmals 1972 in Turin begegnet, bei einem Kulturfestival der Parteizeitung "L'Unità". Es wird berichtet, Berlinguer und Gorbatschow hätten sich auf Anhieb gut verstanden, bei späteren gelegentlichen Treffen ebenfalls. Sollte es in der Hölle oder im Himmel eine Abteilung für ehrenhaft gescheiterte Kommunisten geben, dann sitzen dort Enrico und Michail zum endlosen Gespräch beisammen: über die grundsätzlich mögliche, hienieden aber nie erreichte Vereinbarkeit von Demokratie und Kommunismus.
Berlinguer formulierte für sich und seine Partei folgenden Leitsatz: "Wir müssen Konservative und Revolutionäre sein." Wie er diese widersprüchliche Formel in seinem politischen Wirken, vom Beitritt zur KPI 1943 bis zum Aufstieg an die Spitze der größten kommunistischen Partei in einem westlichen Land 1972, mit Sinn und Leben zu erfüllen suchte, hat die italienische Journalistin Chiara Valentini in ihrer Biographie beschrieben. Valentini, 1944 geboren, hat in ihrer Laufbahn mehrfach Interviews mit dem KPI-Chef geführt. Sie macht kein Hehl aus ihrer Wertschätzung für diesen so untypischen Genossen. Dessen Leben erzählt sie chronologisch, dazu in einem Gestus, als hätte sie miterlebt, worüber sie berichtet. In Italien erschien das Buch 2014. Die vorzügliche Übersetzung ist mit einem Anmerkungsapparat für deutschsprachige Leser, einem kommentierten Personenverzeichnis und einer Zeittafel versehen. Damit wird die erste auf Deutsch erschienene Monographie über diese große Gestalt der italienischen und europäischen Geschichte, über deren Wirken von der Nachkriegszeit bis zu den Spätjahren des Kalten Krieges zugleich zum Kompendium und Nachschlagewerk.
Geboren wird Berlinguer am 25. Mai 1922 in Sassari auf Sardinien, als Spross einer aristokratisch-großbürgerlichen Familie, die zumal väterlicherseits Politik im Blut hat. Der Großvater war ein Weggefährte von Garibaldi und Mazzini, der Vater ein berühmter Rechtsanwalt, Journalist und für die Republikanische Partei aktiv. Die Mutter entstammte einer Dynastie von Wissenschaftlern. Das Elternhaus atmete den Geist progressiven Bürgertums, ist sozusagen grundimmunisiert gegen Mussolinis Faschismus. In der Bibliothek des Vaters fand Enrico die Klassiker der Literatur und der Philosophie, vom unkonventionellen Onkel Ettore wurden ihm die Bücher des russischen Anarchisten Michail Bakunin zugesteckt. Mag sein, dass der frühe Tod der geliebten Mutter - sie starb an den Folgen einer Hirnhautentzündung, als Enrico 14 Jahre alt war - schon dem Halbwüchsigen jenen schwermütig-schüchternen Charakterzug gab, der den Politiker prägte und ihm sein besonderes Charisma verlieh. In einer seiner wenigen autobiographischen Aufzeichnungen berichtete Berlinguer später, er erinnere sich intensiv "an ein Gefühl der Rebellion", das ihn als Junge erfüllt habe: "Ich protestierte gegen alles: die Religion, den Staat, Schlagwörter und gesellschaftliche Gewohnheiten." So war im Heranwachsenden schon angelegt, was diesen "eigenartigen Genossen" später auszeichnete: die Verbindung von Rebellion und Melancholie, die nur auf den ersten Blick eine unglückliche war.
1940 begann Berlinguer das Jurastudium an der Universität seiner Heimatstadt, 1943 erfolgte der Beitritt zur KPI. Die erste "praktische" Erfahrung als politischer Aktivist war die Teilnahme an den sogenannten Brotaufständen auf Sardinien von 1944. Berlinguer wurde verhaftet und verbrachte 100 Tage im Gefängnis. Nach Kriegsende ging er nach Rom, dort von KPI-Chef Palmiro Togliatti, einem Schulfreund des Vaters, protegiert, und wurde bald zum Generalsekretär der Jugendfront. Als Stalin im März 1953 starb, schreibt Berlinguer einen Nachruf mit dem Titel: "Wir haben unseren größten Freund verloren."
Wie aus dem stalinistischen Kader und Apologeten der Diktatur des Proletariats über die Jahre ein demokratischer Sozialist wird, der die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts verurteilt; der in Italien den "historischen Kompromiss" mit den Christdemokraten unter Aldo Moro sucht und den Primat der Demokratie postuliert; der den Eurokommunismus ersinnt und die KPI zur zweitstärksten Volkspartei Italiens macht; der von Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Olof Palme, Bruno Kreisky, Felipe Gonzáles und François Mitterrand als Dialogpartner geschätzt wird; der nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 endgültig den "strappo" (Riss) mit Moskau vollzieht; der den Machismo zu überwinden trachtet und als visionärer Moralist den Schulterschluss der europäischen Linken mit dem globalen Süden sucht - dies alles schildert Valentini ausführlich und anschaulich. "Sein ganzes Leben lang wird die Suche nach der Auflösung der Quadratur des Kreises zwischen Kommunismus und Demokratie das große Unterfangen von Enrico Berlinguer sein", resümiert die Biographin zutreffend.
Wegen seiner Ehrlichkeit und Bescheidenheit wurde dieser Politiker, dem die geballte Faust als Gruß der Gesinnungsgenossen immer missfiel, auch von seinen Widersachern respektiert und geschätzt. Das "annus mirabilis" 1989, den Zusammenbruch des real existierenden Kommunismus in Europa hat Berlinguer nicht mehr erlebt. Schon lange vor seinem plötzlichen Tod im Jahre 1984 hatte er sich faktisch zum Sozialdemokraten gewandelt. Denn der konservative Revolutionär wusste, dass man nur in einer Demokratie die Wahrheit sagen kann. Und dass nur die Marktwirtschaft garantiert, dass die Landwirtschaft funktioniert und sich das Karamellbonbon vom Papier löst. MATTHIAS RÜB
Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa.
J.H.W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 2022. 480 S., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main