Wien, im Jahr des Herrn 1753. Ein junger Bursche aus der Provinz tritt als Lehrling in die Dienste des Uhrmachers Servasius Weisz. Er ist überaus begabt, aber seit der Kindheit ein Sonderling. All sein Streben zielt darauf ab, Welt und Leben zu fassen und neu zu erschaffen nach den Gesetzen der Mechanik. Als er sich in die Grafentochter Amalia verliebt, kommt es zu einer furchtbaren Tragödie, die ihn zur Flucht aus Wien zwingt. Er tritt in das Heer des preußischen Königs ein und zieht unter neuem Namen als Jacob Kainer in den Krieg. Im Lazarett macht er die Bekanntschaft eines geheimnisvollen Marquis, der beeindruckt ist von seinen handwerklichen Fähigkeiten. Der Marquis nimmt Jacob mit nach Paris, wo er ihm im Kampf gegen seine fortschreitende Krankheit beistehen soll. Gemeinsam suchen sie in den Schriften der Gelehrten und mit den Mitteln des Experiments nach der Triebfeder des menschlichen Leibes. Doch als ihre wissenschaftlichen Anstrengungen keinen Sieg über die Vergänglichkeit bringen, verschreibt sich der Marquis dunkleren Künsten - und das Schicksal nimmt seinen unerbittlichen Lauf.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.09.2023Im Räderwerk des Lebens
Thomas Willmann veröffentlicht mit „Der eiserne Marquis“ seinen zweiten Roman nach „Das finstere Tal“
München – Dieser Roman ist eine Reise. Über gute 900 Seiten. Durch das 18. Jahrhundert. Von einem kleinen Städtchen nach Wien, durch den Siebenjährigen Krieg nach Paris. Von der Geburt bis in den Wahnsinn. Denn so beginnt alles: mit einem Ich-Erzähler, an dem die Ratten schnüffeln, in der Salpêtrière. Ein ganz besonderer Fall in dieser verrufenen Anstalt für psychisch Kranke.
Vor 13 Jahren erschien der Erstlingsroman des Münchner Journalisten Thomas Willmann, ein Überraschungserfolg, der sich seinerzeit schon romanreif ankündigte, als Willmann mit seinem Manuskript in einer Plastiktüte ins Büro des Münchner Verlags Liebeskind spazierte, um sich mal eben einen Verleger zu suchen. 2014 wurde der Roman verfilmt.
Was jetzt auf dem Tisch liegt, ist der zweite Wurf, ein Erzählwerk von beachtlichen Dimensionen, das einen von den ersten Worten an mit einer fein konstruierten Kunstsprache überrascht: Satzkonstruktionen von leicht ornamentalem Gepräge, die hin und wieder die Grenze zur Umständlichkeit überschreiten. Eine kleine Weile des Eingewöhnens braucht es, bis man merkt, dass sich das zu einem erzählerischen Fluss verdichtet, dem man sich gerne anvertraut. Mit der Geburt und dem Tod der Mutter beginnend, lässt sich das an wie ein Entwicklungsroman, erinnert an zeittypisches Erzählen zwischen Goethes „Wilhelm Meister“ und Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ oder dem später erschienenen „Grünen Heinrich“. Der Ich-Erzähler wird unwiderstehlich angezogen von Zahnrädchen und Federn, die heimische Wanduhr fällt seinem erwachenden Interesse zum Opfer. Und schließlich entkommt er der väterlichen Enge und Beschränktheit, als man ihn zur Lehre nach Wien schickt. Unterstützt wird er dabei vom Oheim, in dem man zarte Anklänge an einen Paten namens Droßelmeier lesen kann, der in einer anderen Erzählung über das Erwachen, E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“, schon 1816 ebenfalls zum Türöffner wurde.
Und weil dem Eintritt in die Welt, dem Erwachsenwerden, eine ungeheure Dynamik innewohnt, reißt es auch den Erzähler mit sich fort. Nach einer schicksalhaften Begegnung mit der Grafentochter Amalia beginnen die Säfte zu steigen. Und es entwickelt sich etwas, was der Erzähler für Liebe hält. Da wird geflüstert, kitzelt der Zipfel eines Tuchs seine Handfläche. Umkreist man sich immer enger. Und dann sind da dieses Paradiesgärtlein und ein Schlüssel zum Tor. Ganz in der Bildtradition mittelalterliche Ikonografie, die hier erotisch aufgeladen wird, bis ein Widersacher auftaucht und es zur Katastrophe kommt.
Der Ich-Erzähler und Uhrmacherlehrling flieht aus Wien und sinkt in diesem Gelenkteil des Romans hinab auf die Ebene bloßen Vegetierens. Spätestens hier kann man sich auch an den Roman eines Münchner Autors erinnern, der in den Achtzigerjahren einschlug und ein Klassiker wurde. Jean-Baptist Grenouille entzieht sich in Patrick Süskinds „Das Parfum“ der Zivilisation, um dann mit seiner Obsession wieder aufzuerstehen.
Willmanns Erzähler lässt sich nach seiner Verwilderung als Soldat für die Preußen verpflichten, nimmt mit Jakob Kainer einen neuen Namen an. Trifft verwundet sein Schicksal in Gestalt des Marquis. Und der nimmt ihn mit nach Paris. Angesichts der Stadt steigt der Puls der Sprache: „Mir war wie einem Seefahrer, welcher unter sich aus gottlosen Tiefen etwas Gewaltiges, Uraltes aufsteigen ahndet – kurz bevor der Leviathan die Meeresoberfläche durchbricht und Mann und Schiff verschlingt.“ Vor dem Erzähler breitet sich ein Paris aus, wie es Süskind in seinem Schwären und Stinken auf den ersten Romanseiten beschreibt, wie es einem in Andrew Millers „Friedhof der Unschuldigen“ entgegen quillt. Willmann selbst führt den zeitgenössischen Autor Louis-Sébastien Mercier im Nachwort als Quelle der Inspiration an.
Begrüßt werden die Reisenden vom Faktotum des Marquis: Mael. „Kahl war sein bulliger Schädel, aber von seltsamer Zeichnung umrankt“, so wird einer vorgestellt, mit verstümmelter Zunge und spitz gefeilten Zähnen, in dem man auch Herman Melvilles Queequeg aus „Moby Dick“ mit seinem tätowierten Gesicht erkennen kann. Weil man aber, wie Willmann weiß, das Wilde auch im Rahmen eines Sprache nachschöpfenden Historienromans heute nicht mehr so erzählen kann wie einst, macht er das Fremde in einem fixen Twist zum Eigenen. Ein Franzose aus der Bretagne ist Mael, der in Kanada Wilden in die Hände fiel, die ihn erst folterten und dann zu einem der ihren machten. Klar, als Filmliebhaber mit Hang zu Western (siehe die Eröffnungssequenz und den Showdown seines Erstlingsromans), kennt Thomas Willmann John Fords monumentales Werk „The Searchers“.
Dies ist nur ein Beispiel für die Verdichtungsleistung des Romans. Die Wucht von Willmanns Erzählen steht ganz offensichtlich fest und sicher auf kultur- und vor allem literaturgeschichtlichem Fundament. Nicht, dass hier schlicht Zitate montiert werden, nein, so geschickt sind Motive verwoben, neu kombiniert, dass man immer wieder glaubt, Vorbilder schemenhaft durchscheinen zu sehen.
Und damit zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung aus den Serapionsbrüdern: „Die Automate“ und zum beständig tickenden innersten Wesen von Willmanns Roman. Der Marquis nämlich versichert sich der Dienste des Uhrmacherlehrlings aus bestimmten Gründen. Um mehr geht es, als um das Messen von Zeit. „Die Uhrmacherei ist in ihrem Grunde wahrhaft eine hydraulische Kunst“, so spricht schon der Wiener Lehrmeister Servasius Weisz: „Ihr Geheimnis, ihr Herz ist es, die eine, die ungeteilte göttliche Triebkraft als Quelle zu fassen; sie zu speichern, zu messen, zu leiten.“
Das Beherrschen der Mechanik scheint nur der erste Schritt auf dem Weg zu etwas viel Gewagterem. Im Hinterzimmer eines Wiener Gasthauses begegnen einem die „Geschöpfe“ des Jacques de Vaucanson: der Flötenspieler, der Tambour und – das Meisterstück – die mechanische Ente, die frisst, verdaut und ausscheidet. Trotz des erbarmungswürdigen Zustands der Automaten springt die Magie ihres Wesens den Ich-Erzähler an. Bei E.T.A. Hoffmann, der in seiner Erzählung auch Vaucansons Maschinen erwähnt, findet sich der Automat eines redenden Türken, mit der über die mechanische Fassbarkeit hinausgehenden Fähigkeit, in Orakeln zu sprechen. Die grundsätzliche Frage ist die nach dem Geist der Maschine.
Im Keller des Hauses des Marquis wird im zweiten Teil von Willmanns Roman so etwas wie ein Labor eingerichtet. Und an den Rändern des mechanischen Forschens, wird noch etwas anderes sichtbar. Marquis und Jakob Kainer werden Zeugen eines Auftritts des Arztes Friedrich Anton Mesmer, einer Art Seance. In Edgar Allan Poes kleiner Erzählung „Mesmerische Offenbarung“ wird das Faszinosum offenbar: Es ist der Blick ins Jenseits. In Willmanns Roman ist Mesmer ein Scharlatan, und die Forscher schreiten weiter: erste Versuche mit Froschschenkeln und elektrischen Ladungen. Und von hier aus wäre es nicht mehr weit zu Mary Shelleys Monster, das 1818 auf die Welt kam. Zeit- und Literaturgeschichte kombiniert Willmann mit aufpolierter Maschinenromantik auf eine Weise, die popkulturell bis zum heutigen Steampunk reicht. Und nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Geist in der Maschine die Frage unserer Zukunft sein wird.
Auf einem Maskenball begegnet Ich-Erzähler Jakob Kainer einer Wiedergängerin seiner Grafentochter Amalia. Durch die Szene sieht man den Ball in Poes „Maske des Roten Todes“ scheinen. Hier keimen in der Feier des Lebens bereits Krankheit und Tod. Es ist die Mechanik der Dialektik: Die Liebe verkehrt sich in Besitzanspruch, der das Finsterste hervorlockt. Aus dem Wunsch, die Welt mittels Maschinen auf eine höhere Stufe zu heben, das Geheimnis des Lebens in einem aufklärerischen Gestus im tickenden Rädchenwerk nachzubauen, wird Wahn und Vernichtung. In Melvilles „Moby Dick“ ist es Kapitän Ahab, dessen Wille Natur zu beherrschen in den Untergang führt. Am Ende von Thomas Willmanns Roman wird man auch diese Szene wiedererkennen.
CHRISTIAN JOOSS-BERNAU
Thomas Willmann: Der eiserne Marquis, Liebeskind, 928 Seiten, 36 Euro, Lesung: Donnerstag, 21. September, 19.30 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl
Literaturgeschichtliche Motive
sind geschickt verwoben
und neu kombiniert
13 Jahre nach seinem Erstlingsroman veröffentlicht Thomas Willmann sein zweites, durchaus üppiges Werk.
Foto: Frese München
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Thomas Willmann veröffentlicht mit „Der eiserne Marquis“ seinen zweiten Roman nach „Das finstere Tal“
München – Dieser Roman ist eine Reise. Über gute 900 Seiten. Durch das 18. Jahrhundert. Von einem kleinen Städtchen nach Wien, durch den Siebenjährigen Krieg nach Paris. Von der Geburt bis in den Wahnsinn. Denn so beginnt alles: mit einem Ich-Erzähler, an dem die Ratten schnüffeln, in der Salpêtrière. Ein ganz besonderer Fall in dieser verrufenen Anstalt für psychisch Kranke.
Vor 13 Jahren erschien der Erstlingsroman des Münchner Journalisten Thomas Willmann, ein Überraschungserfolg, der sich seinerzeit schon romanreif ankündigte, als Willmann mit seinem Manuskript in einer Plastiktüte ins Büro des Münchner Verlags Liebeskind spazierte, um sich mal eben einen Verleger zu suchen. 2014 wurde der Roman verfilmt.
Was jetzt auf dem Tisch liegt, ist der zweite Wurf, ein Erzählwerk von beachtlichen Dimensionen, das einen von den ersten Worten an mit einer fein konstruierten Kunstsprache überrascht: Satzkonstruktionen von leicht ornamentalem Gepräge, die hin und wieder die Grenze zur Umständlichkeit überschreiten. Eine kleine Weile des Eingewöhnens braucht es, bis man merkt, dass sich das zu einem erzählerischen Fluss verdichtet, dem man sich gerne anvertraut. Mit der Geburt und dem Tod der Mutter beginnend, lässt sich das an wie ein Entwicklungsroman, erinnert an zeittypisches Erzählen zwischen Goethes „Wilhelm Meister“ und Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ oder dem später erschienenen „Grünen Heinrich“. Der Ich-Erzähler wird unwiderstehlich angezogen von Zahnrädchen und Federn, die heimische Wanduhr fällt seinem erwachenden Interesse zum Opfer. Und schließlich entkommt er der väterlichen Enge und Beschränktheit, als man ihn zur Lehre nach Wien schickt. Unterstützt wird er dabei vom Oheim, in dem man zarte Anklänge an einen Paten namens Droßelmeier lesen kann, der in einer anderen Erzählung über das Erwachen, E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“, schon 1816 ebenfalls zum Türöffner wurde.
Und weil dem Eintritt in die Welt, dem Erwachsenwerden, eine ungeheure Dynamik innewohnt, reißt es auch den Erzähler mit sich fort. Nach einer schicksalhaften Begegnung mit der Grafentochter Amalia beginnen die Säfte zu steigen. Und es entwickelt sich etwas, was der Erzähler für Liebe hält. Da wird geflüstert, kitzelt der Zipfel eines Tuchs seine Handfläche. Umkreist man sich immer enger. Und dann sind da dieses Paradiesgärtlein und ein Schlüssel zum Tor. Ganz in der Bildtradition mittelalterliche Ikonografie, die hier erotisch aufgeladen wird, bis ein Widersacher auftaucht und es zur Katastrophe kommt.
Der Ich-Erzähler und Uhrmacherlehrling flieht aus Wien und sinkt in diesem Gelenkteil des Romans hinab auf die Ebene bloßen Vegetierens. Spätestens hier kann man sich auch an den Roman eines Münchner Autors erinnern, der in den Achtzigerjahren einschlug und ein Klassiker wurde. Jean-Baptist Grenouille entzieht sich in Patrick Süskinds „Das Parfum“ der Zivilisation, um dann mit seiner Obsession wieder aufzuerstehen.
Willmanns Erzähler lässt sich nach seiner Verwilderung als Soldat für die Preußen verpflichten, nimmt mit Jakob Kainer einen neuen Namen an. Trifft verwundet sein Schicksal in Gestalt des Marquis. Und der nimmt ihn mit nach Paris. Angesichts der Stadt steigt der Puls der Sprache: „Mir war wie einem Seefahrer, welcher unter sich aus gottlosen Tiefen etwas Gewaltiges, Uraltes aufsteigen ahndet – kurz bevor der Leviathan die Meeresoberfläche durchbricht und Mann und Schiff verschlingt.“ Vor dem Erzähler breitet sich ein Paris aus, wie es Süskind in seinem Schwären und Stinken auf den ersten Romanseiten beschreibt, wie es einem in Andrew Millers „Friedhof der Unschuldigen“ entgegen quillt. Willmann selbst führt den zeitgenössischen Autor Louis-Sébastien Mercier im Nachwort als Quelle der Inspiration an.
Begrüßt werden die Reisenden vom Faktotum des Marquis: Mael. „Kahl war sein bulliger Schädel, aber von seltsamer Zeichnung umrankt“, so wird einer vorgestellt, mit verstümmelter Zunge und spitz gefeilten Zähnen, in dem man auch Herman Melvilles Queequeg aus „Moby Dick“ mit seinem tätowierten Gesicht erkennen kann. Weil man aber, wie Willmann weiß, das Wilde auch im Rahmen eines Sprache nachschöpfenden Historienromans heute nicht mehr so erzählen kann wie einst, macht er das Fremde in einem fixen Twist zum Eigenen. Ein Franzose aus der Bretagne ist Mael, der in Kanada Wilden in die Hände fiel, die ihn erst folterten und dann zu einem der ihren machten. Klar, als Filmliebhaber mit Hang zu Western (siehe die Eröffnungssequenz und den Showdown seines Erstlingsromans), kennt Thomas Willmann John Fords monumentales Werk „The Searchers“.
Dies ist nur ein Beispiel für die Verdichtungsleistung des Romans. Die Wucht von Willmanns Erzählen steht ganz offensichtlich fest und sicher auf kultur- und vor allem literaturgeschichtlichem Fundament. Nicht, dass hier schlicht Zitate montiert werden, nein, so geschickt sind Motive verwoben, neu kombiniert, dass man immer wieder glaubt, Vorbilder schemenhaft durchscheinen zu sehen.
Und damit zu E.T.A. Hoffmanns Erzählung aus den Serapionsbrüdern: „Die Automate“ und zum beständig tickenden innersten Wesen von Willmanns Roman. Der Marquis nämlich versichert sich der Dienste des Uhrmacherlehrlings aus bestimmten Gründen. Um mehr geht es, als um das Messen von Zeit. „Die Uhrmacherei ist in ihrem Grunde wahrhaft eine hydraulische Kunst“, so spricht schon der Wiener Lehrmeister Servasius Weisz: „Ihr Geheimnis, ihr Herz ist es, die eine, die ungeteilte göttliche Triebkraft als Quelle zu fassen; sie zu speichern, zu messen, zu leiten.“
Das Beherrschen der Mechanik scheint nur der erste Schritt auf dem Weg zu etwas viel Gewagterem. Im Hinterzimmer eines Wiener Gasthauses begegnen einem die „Geschöpfe“ des Jacques de Vaucanson: der Flötenspieler, der Tambour und – das Meisterstück – die mechanische Ente, die frisst, verdaut und ausscheidet. Trotz des erbarmungswürdigen Zustands der Automaten springt die Magie ihres Wesens den Ich-Erzähler an. Bei E.T.A. Hoffmann, der in seiner Erzählung auch Vaucansons Maschinen erwähnt, findet sich der Automat eines redenden Türken, mit der über die mechanische Fassbarkeit hinausgehenden Fähigkeit, in Orakeln zu sprechen. Die grundsätzliche Frage ist die nach dem Geist der Maschine.
Im Keller des Hauses des Marquis wird im zweiten Teil von Willmanns Roman so etwas wie ein Labor eingerichtet. Und an den Rändern des mechanischen Forschens, wird noch etwas anderes sichtbar. Marquis und Jakob Kainer werden Zeugen eines Auftritts des Arztes Friedrich Anton Mesmer, einer Art Seance. In Edgar Allan Poes kleiner Erzählung „Mesmerische Offenbarung“ wird das Faszinosum offenbar: Es ist der Blick ins Jenseits. In Willmanns Roman ist Mesmer ein Scharlatan, und die Forscher schreiten weiter: erste Versuche mit Froschschenkeln und elektrischen Ladungen. Und von hier aus wäre es nicht mehr weit zu Mary Shelleys Monster, das 1818 auf die Welt kam. Zeit- und Literaturgeschichte kombiniert Willmann mit aufpolierter Maschinenromantik auf eine Weise, die popkulturell bis zum heutigen Steampunk reicht. Und nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Geist in der Maschine die Frage unserer Zukunft sein wird.
Auf einem Maskenball begegnet Ich-Erzähler Jakob Kainer einer Wiedergängerin seiner Grafentochter Amalia. Durch die Szene sieht man den Ball in Poes „Maske des Roten Todes“ scheinen. Hier keimen in der Feier des Lebens bereits Krankheit und Tod. Es ist die Mechanik der Dialektik: Die Liebe verkehrt sich in Besitzanspruch, der das Finsterste hervorlockt. Aus dem Wunsch, die Welt mittels Maschinen auf eine höhere Stufe zu heben, das Geheimnis des Lebens in einem aufklärerischen Gestus im tickenden Rädchenwerk nachzubauen, wird Wahn und Vernichtung. In Melvilles „Moby Dick“ ist es Kapitän Ahab, dessen Wille Natur zu beherrschen in den Untergang führt. Am Ende von Thomas Willmanns Roman wird man auch diese Szene wiedererkennen.
CHRISTIAN JOOSS-BERNAU
Thomas Willmann: Der eiserne Marquis, Liebeskind, 928 Seiten, 36 Euro, Lesung: Donnerstag, 21. September, 19.30 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl
Literaturgeschichtliche Motive
sind geschickt verwoben
und neu kombiniert
13 Jahre nach seinem Erstlingsroman veröffentlicht Thomas Willmann sein zweites, durchaus üppiges Werk.
Foto: Frese München
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Rainer Moritz wird vom "erzählerischen Rausch", den dieses Buch des Journalisten Thomas Willmann entwickelt, mitgerissen: ein grandioses Buch, frohlockt er, und dabei ganz eigensinnig. Der Protagonist beichtet den Ratten in seiner Gefängniszelle im Prolog der Handlung, dass er ein Mörder ist, erzählt Moritz. In der Folge erfahren die Leser seine Geschichte, die im Jahr 1740 in Österreich beginnt und verfolgen den technikbegeisterten Ich-Erzähler durch seine Kindheit und seine Lehre bei einem Uhrenmacher, durch den siebenjährigen Krieg, in das Schloss des titelgebenden Marquis. Spätestens hier erkennt der Kritiker nicht nur die Aktualität der Geschichte, sondern auch schauerromantische Einflüsse von E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe: Denn der Marquis hat es sich zur Aufgabe gemacht unsterbliche "Automatenmenschen" zu erschaffen. Dazu kuriose Figuren und erzählerische Originalität - der Rezensent ist rundum zufrieden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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