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Isenschmid gelingt mit seinem Essay ein neuer Zugang zu Marcel Prousts Werk - "Das wichtigste Proust-Buch der letzten Jahrzehnte." Michael Maar
So wichtig das Jüdische für Proust stets war, lange Zeit schrieb er kaum darüber. Das änderte sich mit der "Recherche" - sie ist jüdisch von der ersten Zeile der Entwürfe bis zum letzten Zettelchen aus der Todesnacht. Marcel Proust hatte eine jüdische Mutter, einen katholischen Vater, war katholisch getauft, aber nicht gläubig. Erst als die Dreyfus-Affäre Frankreich über Jahre in Atem hielt, wurde ihm das wahre Ausmaß des Antisemitismus im Land…mehr

Produktbeschreibung
Isenschmid gelingt mit seinem Essay ein neuer Zugang zu Marcel Prousts Werk - "Das wichtigste Proust-Buch der letzten Jahrzehnte." Michael Maar

So wichtig das Jüdische für Proust stets war, lange Zeit schrieb er kaum darüber. Das änderte sich mit der "Recherche" - sie ist jüdisch von der ersten Zeile der Entwürfe bis zum letzten Zettelchen aus der Todesnacht.
Marcel Proust hatte eine jüdische Mutter, einen katholischen Vater, war katholisch getauft, aber nicht gläubig. Erst als die Dreyfus-Affäre Frankreich über Jahre in Atem hielt, wurde ihm das wahre Ausmaß des Antisemitismus im Land bewusst. In seinem brillant erzählten Essay zeigt Andreas Isenschmid, dass Marcel Prousts Großroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" auch eine höchst differenzierte Geschichte dieser niemals ganz gelingenden Assimilation ist.
Autorenporträt
Andreas Isenschmid, geboren 1952 in Basel, lebt in Berlin. Er ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Literaturkritiker. Nach Stationen bei Radio, Fernsehen und Zeitungen (Weltwoche, Tages-Anzeiger, NZZ) ist er heute Mitarbeiter der ZEIT und von 3sat. Er war Juror beim Bachmannpreis und beim Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien: Marcel Proust (Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017) und bei Hanser: Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische (2022).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2022

Auteuil als geistige Lebensform
Andreas Isenschmid begibt sich auf die Suche nach dem jüdischen Element in Prousts Leben und Werk

In der Benennung von Andreas Isenschmids provokanter kleiner Studie "Der Elefant im Raum - Proust und das Jüdische" ist deren These vorformuliert und verweist bereits auf das größte Problem des Buchs. Der Haupttitel, heute ein geflügeltes Wort, geht auf Iwan Kirilows Fabel "Der Wissbegierige" aus dem Jahr 1814 zurück. Darin besucht ein Mann ein Naturkundemuseum und betrachtet gründlich jedes Insekt, übersieht aber den Elefanten im Raum. Das Übersehene bei Proust, so Isenschmids Provokation, sei also "das Jüdische", und seine These lautet, dass Proust "beim Schreiben von starken jüdischen Gefühlen geleitet wurde, dass er sie aber meist nur indirekt zum Ausdruck brachte und zu ihnen eine durchgängig ambivalente Beziehung unterhielt".

"Das Jüdische" und "jüdische Gefühle" sind indes heikelste Begriffe, zumal Isenschmid in einer nicht jüdischen Erfahrungswelt schreibt und sich einem Mann nähern will, der seit hundert Jahren tot ist und in seiner bezirzenden Gesprächigkeit ein genialer Verschleierer (besser noch: Entpersönlicher) seiner ans tiefste Ich rührenden Empfindungen war. Und mitnichten wurde "das Jüdische" bei Proust bislang übersehen. Sein erster (und jüdischer) Biograph Léon Pierre-Quint, den Isenschmid auf der vorletzten Seite fast zustimmend zitiert, hatte sich 1925, drei Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, gewehrt gegen die "Herleitung von Prousts 'Geistesart' aus seiner jüdischen Herkunft. Das 'erhellt nichts'. Der 'jüdische Geist' stelle sich 'nicht nur in einer Ideenform dar'. Er habe höchst unterschiedliche und widersprechende Systeme hervorgebracht." Proust kannte keines davon, denn Denken in Strukturen jüdischer Intellektualität (deren Kenntnis Kafka erstrebte und die Gershom Scholem in seinen Werken herausarbeitete) war nicht Teil seines Milieus.

Zuletzt hatte sich erst vor zwei Jahren Saul Friedländer mit "Proust lesen" am "Jüdischen" in Proust versucht und gefunden, dass der es bewusst marginalisiert habe, um gesellschaftlich zu reüssieren (F.A.Z. vom 10. Oktober 2020). Der graue Elefant inmitten der schillernden Insekten wurde also durchaus gesehen. Die Frage war nur, wie man ihn im bunten Geschwirr zu verstehen hatte. In welcher Beziehung stand er zu seiner Umgebung? Offenkundig war er selbst kein Insekt. Man sieht hier, wie suggestiv und klug der Titel ist.

Es gibt indes zwei Möglichkeiten, "das Jüdische" in Proust (und damit meine ich nun seine Empfindung der Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Schicht französischer Juden zwischen 1871 und 1922) zu exhumieren und für eine Lektüre des Werks fruchtbar zu machen. Isenschmid nutzt beide auf brillante Weise. Er beginnt sein Buch mit einer Darstellung der identitätserschütternden Wirkung der Anklage, Verurteilung und Degradierung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Landesverrats 1894/95. Auf sie folgte das fieberhafte Nachspiel um die Revision des Urteils, das 1898 zum Prozess gegen Emile Zola und dessen Verurteilung führte. Diese öffentlich inszenierten und von allen Schichten der Pariser Bevölkerung als exorzistische Schauspiele degoutierten Skandale setzten antijüdische Aggressionen frei - von einer Intensität, die nahelegt, dass sie schon sehr lange unter der Oberfläche geschwelt hatten. Sie zielten auf jene erfolgreich assimilierten Juden, die Frankreich vermeintlich seinen wahren Eigentümern entrissen und entfremdeten.

Kenntnisreich zeigt Isenschmid, dass Proust früh an Dreyfus' Schuld zweifelte und sich in der zersplitternden Gesellschaft auf dessen Seite engagierte. "Der Haupteffekt der Affäre war [allerdings], dass Proust, der im Jahr 1896 seinen [ersten Roman] 'Jean Santeuil' so gut wie zur Seite gelegt hatte, wieder zum Schreiben fand" und in diesem Werk ein (nach Isenschmids Meinung von Spinoza herrührendes) Wahrheitsideal entwickelte, "das darin besteht, nicht den vorgefassten Meinungen seines Milieus und seiner Freunde zu folgen". Man sollte das für das Wenigste halten, aber für einen Neuling in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen wie Proust war wohl genau das der empfindlichste Punkt. Doch wir wissen, dass er am Ende zu dieser Wahrheit gefunden hatte, denn sein Romanzyklus "À la recherche du temps perdu" ist eine vernichtende Kritik der Pariser Oberschicht inklusive der Aufsteiger, zu denen er auch sich selbst rechnete.

Warum Proust sich als der Sohn eines katholischen Arztes auch als Jude von den antisemitischen Hasstiraden betroffen fühlte und deshalb Dreyfusard wurde, zeigt Isenschmid in seinem zweiten Kapitel. Es porträtiert die aus dem Elsass stammende Familie von Prousts Mutter Jeanne Weil und skizziert den Aufstieg der Weils ins wohlhabende französische Bürgertum. Entscheidend ist Isenschmids Beobachtung, dass in Prousts "Recherche" der Ich-Erzähler "seinen katholisch stilisierten Gutenachtkuss nicht im katholischen Illiers, dem Vorbild von Combray" empfing; "er empfing ihn von seiner jüdischen Mutter im Haus seines jüdischen Großonkels im Kreis seiner jüdischen Verwandten . . . Es war das Sommerhaus seines Großonkels Lazard Baruch Weil im Pariser Vorort Auteuil." Umgeben von einem weitläufigen Garten, war dieses Haus in den warmen Sommermonaten der Lebensmittelpunkt der Familie: "der Ort, an dem Proust seine jüdische Erziehung erhielt". Das tägliche Leben im Kreis der engeren und weiteren jüdischen Verwandtschaft ("Auteuil als geistige Lebensform") generierte, was als "jüdisches Gefühl" unbestimmt und unbestimmbar durch Isenschmids erstes Kapitel wabert. Jetzt erst ahnt man, was das sein könnte.

Mit dem Fall Dreyfus als Lackmustest und der Verankerung Prousts in Auteuil hat Isenschmid die beiden Möglichkeiten erschöpft, die faktische Dimension von Prousts jüdischer Identität auszuloten. Vor ihm liegt im dritten und letzten Kapitel die Interpretation von Prousts riesigem Roman im Licht der neu gewonnenen Einsicht, dass Proust genau wie Kafka sich in jeder Sekunde bewusst war, in einer jüdischen Haut zu stecken. Die Lebensform der arrivierten französischen Juden war Teil seiner Sozialisation. Isenschmid gelingen im letzten Kapitel exzellente Einzelbeobachtungen und erhellende Interpretationen. Dabei beschreibt er klug, wie hier ein Ohr, dort ein Auge, an anderer Stelle gar der Rüssel des Elefanten in "À la recherche du temps perdu" sichtbar werden.

Doch Proust ging es um sehr viel mehr, wie Isenschmid selbst darlegt. Er erstrebte die Überwindung des Spezifischen zugunsten des Wahren. Wie bei der Lektüre von Platons "Phaidon" sollen wir beim Eintauchen in das Kunstwerk "plötzlich die außergewöhnliche Gewissheit spüren, eine Beweisführung anzuhören, deren Reinheit durch keinerlei persönliches Verlangen getrübt wird, als stehe eben die Wahrheit hoch über allem anderen". Isenschmid sucht die Spuren des Spezifischen. Was er findet, ist interessant, aber verblasst im Schatten der "Recherche". SUSANNE KLINGENSTEIN

Andreas Isenschmid: "Der Elefant im Raum". Proust und das Jüdische.

Hanser Verlag, München 2022. 240 S., geb., 26,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Andreas Isenschmid kennt sich aus mit Marcel Proust, weiß Rezensent Ijoma Mangold, und so ist er für den Kritiker der perfekte Autor, um einen der "Elefanten im Raum" von Proust' Werk auszuleuchten: Um seine jüdische Herkunft geht es, die der Autor seinem Protagonisten in der "Suche nach der verlorenen Zeit" bewusst nicht gibt, die aber doch eine große Rolle spielt. Das vermag Isenschmid detail- und erkenntnisreich zu untersuchen, findet Mangold, um die Dreyfus-Affäre und die Position Prousts geht es dabei ebenso wie um Auteuil, das Herkunftsdorf der jüdischen Mutter. Verwunderlich, dass sich bisher niemand dieses Themas angenommen hat, überlegt der Rezensent. Umso besser, dass Literaturkritiker Isenschmid nun dieses Buch vorgelegt hat, resümiert er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.11.2022

In der
verlorenen Zeit
Vor 100 Jahren starb Marcel Proust. Über die Frage,
wie er als Jude in einer Zeit anschwellenden
Antisemitismus zu schreiben begann, legt
Andreas Isenschmid einen eindrucksvollen Essay vor
VON HILMAR KLUTE
Über die Schwierigkeiten, Marcel Proust dergestalt zu lesen, dass am Ende der Lektüre griffige und verhandelbare Details und Gegenstände im Gedächtnis bleiben, hat Martin Walser einmal einen schönen Aufsatz geschrieben. Es dränge sich, schreibt Walser, eine Fülle von Situationen in der Vorstellung des Lesers, in Form von Ereignissen (Spaziergänge, die berühmte Teegebäcks-Geschmackssensation), in Gestalt von Frauen (Gilberte, Odette, Albertine) und von Männern (Swann, Bloch, Norpois). Eine Welt zahlloser Details ploppt auf, voll mit Bezüglichkeiten und Mutmaßungen. Walser erkannte sein Elend bei der Lektüre der sieben Bände darin, „nicht intellektuell über sie verfügen“ zu können.
Bei Andreas Isenschmid ist das gottlob anders, denn Isenschmid ist ein systematisch geschulter Proust-Leser, der seine Leidenschaft für Prousts Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ („À la recherche du temps perdu“) immer wieder in klugen Deutungen und heiter-emphatischen Leseempfehlungen zum Ausdruck bringt. Jetzt hat Isenschmid, der lange für die NZZ gearbeitet hat und heute gelegentlich für Die Zeit schreibt, einen Essay über Prousts Verhältnis zum Judentum geschrieben, genauer: „Der Elefant im Raum“ entfaltet die bislang in der Proust-Forschung marginal verhandelte jüdische Identität Marcel Prousts. Warum das wichtig ist? Weil Proust am Beispiel seiner Figuren, vor allem der Swanns und Blochs, eine Erfahrung, seine eigene nämlich, verdichtet hat: die des Juden im antisemitischen Klima der Dreyfus-Zeit.
Auch der Name Alfred Dreyfus kommt in Walsers Aufzählung am Rande vor. Selbst im kürzlich bei Schöffling wieder aufgelegten Proust-Essay von Ernst Robert Curtius – der große Romanist gehörte zu den Entdeckern Prousts – wird lediglich an zwei Stellen beiläufig auf die Affäre um den jüdischen Hauptmann der französischen Armee verwiesen, dessen Degradierung, Verbannung und Verleumdung heute synonym für den radikalen Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts stehen. Andreas Isenschmid dagegen lässt seinen Essay mit dieser antisemitischen Ursünde des modernen Frankreich beginnen, die mit dem berühmten Pamphlet „J’accuse“ von Émile Zola im Figaro ihre, wie Isenschmid schreibt, „historische Dimension“ bekommen habe.
Im Dezember 1894 wurde Alfred Dreyfus wegen Landesverrats zu lebenslanger Verbannung auf der Teufelsinsel verurteilt. Er soll, so der durch keinen haltbaren Beweis gesicherte Vorwurf, militärische Geheimdokumente an den deutschen Militärattaché in Paris übergeben haben. Der Prozess, dem sich die öffentliche Entehrung von Dreyfus im Hof des Élysée anschloss, war von einer beispiellosen Welle des Judenhasses umtost. Der Hauptmann Ferdinand Walsin-Esterházy, er wurde später als der wahre Landesverräter entlarvt und verurteilt, drohte sogar damit, bei einer Rückkehr von Dreyfus werde es „5000 jüdische Kadaver in Paris geben“.
Marcel Proust, Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters, saß im Prozess unter den Zuschauern. Wie nur sehr wenige Franzosen damals war er von der Unschuld Dreyfus’ überzeugt. Und ein großer Teil jener wenigen bildete Prousts damaligen Freundeskreis. Der verlässt, als sich der Zorn der Dreyfusfeinde gegen Zola zu richten beginnt, seine Salonbehaglichkeit und sucht vergebens nach Unterstützung für Zola, der von seinem Stammblatt Le Figaro geschasst werden sollte. Nur einen Großautor vermag Proust eine Unterschrift pro Zola abzugewinnen: Anatole France, der in der „Recherche“ vermutlich in der Figur des vom Erzähler vergötterten Dichters Bergotte auftritt. Die Affäre hat Proust zum Schriftsteller gemacht; aber er beginnt noch nicht seine achtbändige „Recherche“, an die macht er sich erst zwei Jahre später. Sein unvollendet gebliebener Roman „Jean Santeuil“ ist Prousts erster großer Versuch, das Unrecht, das dem unschuldigen Offizier widerfuhr ist, zum Erzählgegenstand zu machen.
Proust sei, schreibt Isenschmid, beim politischen Aktivismus als bekennender Dreyfusard wie auch beim literarischen Schreiben von „starken jüdischen Gefühlen“ geleitet gewesen. Das muss man, weil es ein wenig vage klingt, erläutern, denn diese Gefühle sind in der Folge von Ausgrenzungserfahrung und offener Ablehnung entstanden. Prousts Sozialisation in den Pariser Salons, deren geradezu organisches Wesen wichtige Stoffquelle seines Romans ist, war immer wieder von Ressentiments durchsetzt: Juden galten im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Ausländer, ihre Assimilation wurde notorisch infrage gestellt. „Die Entwurzelten“ heißt ein vielbändiges Roman-Machwerk von Maurice Barrès, das über die Behauptung, die Heimatlosigkeit sei eine Art identitäre Konstante der Juden, den Antisemiten Stoff für Hetze und Gründe für Diskriminierung gab: „Dass Dreyfus zum Verrat fähig ist, schließe ich aus seiner Rasse“, schrieb Barrès, der eine Art Ernst Jünger des Fin de Siècle war und den wegen seiner kühlen Brillanz sogar der Humanisten und Demokraten André Gide bewunderte.
Im bereits seit 1892 militanten Antisemitismus in Frankreich (damals begann die Zeitung Libre Parole ihre Hetze auf jüdische Offiziere in der Armee) sieht Isenschmid auch einen – vielleicht sogar den gewichtigsten – der Gründe, warum Proust ein früher Verteidiger von Dreyfus gewesen ist. „Der Antisemitismus hat Proust auf sein Judentum zurückgeworfen“, so Isenschmid. Die Quelle dieses auf kulturelle Tradition fokussierten Judentums war Prousts Elternhaus im Pariser Vorort Auteuil. Marcel Proust war der Sohn einer jüdischen Mutter, Jeanne Weil, und eines katholischen Vaters, Adrien Proust. Im Sommerhaus seines Großonkels Lazard Baruch Weil erlebte Proust seine jüdische Erziehung, die offenbar weniger eine Einübung in den jüdischen Glauben gewesen ist als eine in die jüdische Kultur.
Und diese Kultur war eng mit der Geschichte seiner eigenen Familie verknüpft, wie Isenschmid in einer beeindruckenden Ahnengalerie zeigt. Die Großmutter Adèle und Prousts Mutter Jeanne empfanden sich als in der französischen Literatur stärker beheimatet als im republikanischen Patriotismus. Es geht in dieser Familie in jeder Generation um Identität, um die Reservierung kultureller Standpunkte, um eine wichtige und zentrale ästhetische Anstrengung also, die Proust auch im Roman leistet. Der von Marcel geliebte Onkel Louis Weil zählt zu den Bewunderten, ein Freund der Halbwelt und des eleganten Umgangs mit Schauspielerinnen und Kokotten. Im Sterbezimmer seines Onkels am Boulevard Haussmann richtete sich Proust später sein berühmtes Korkzimmer ein, in dem er selbst, die letzten Fassungen seiner „Recherche“ korrigierend, starb.
„Als jüdisch sah Proust sich nicht. Ein Nicht-Jude wollte er allerdings auch nicht sein“, schreibt Isenschmid. Den Widerspruch in der eigenen Identität verlagert Proust im Roman auf die jüdischen Figuren Bloch und Swann. Beide, in Gestalt und gesellschaftlicher Position so unterschiedliche Männer stehen für eine Erfahrung , die wohl Prousts größter Schreibimpuls gewesen ist, nämlich: „was es heißt, als Jude im Frankreich der Dreyfus-Zeit zu leben“.
Wie durch zahllose Schatzkammern führt Andreas Isenschmid den Leser durch den Roman. Prousts Judentum respektive sein von Ambivalenzen erschüttertes Bekenntnis dazu, ist der rote Faden. Immer wieder federt sein brillant geschriebener Essay zum Ausgangspunkt aller Überlegungen zurück, zum Prozess gegen Dreyfus, dem Schlüsselszenario von Prousts Überlegungen zu Judentum und Identität. Dabei kommt Isenschmid zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung, die eine neue Lesart der „Recherche“ nahelegt. Während Proust in „Jean Santeuil“ eher das juristische Unrecht anklagt, das Dreyfus widerfahren war, ist „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auch eine Art Suche nach Gerechtigkeit für Frankreichs geschundene und ausgegrenzte Juden.
Es ist diese Erkenntnis, die Isenschmids Essay so gewichtig macht. Denn es geht Isenschmid zwar auch darum, eine Art Philologie des jüdisch-kulturellen Grundgebäudes in Prousts Romanwelt zu betreiben, und sich dabei mit Lesefleiß, der Virtuosität des Querverweises und intimer Geschichtskenntnis auszuweisen. Aber noch wichtiger ist es ihm, solche Spuren sicherzustellen, die auf Prousts kulturelle Distanzen zur französischen Gesellschaft verweisen. Ausgerechnet dieser, wie Isenschmid schreibt, „peinlich hochverlogene Salonschmeichler“ stand in vielem so quer zu den ungeschriebenen Gesetzen der bürgerlichen Aristokratie. Deshalb geht es darum, die Sprachcodes zu dechiffrieren und scheinbare antisemitische Äußerungen im Roman als das zu begreifen, was sie in Wahrheit sind: nicht Billigung, sondern „Verdeutlichung der Leiden“ jüdischer Franzosen im Fin de Siècle.
Denn Isenschmids eigentliches Anliegen und zugleich die größte Leistung seines Essays ist dies: Er zeigt, wie dramatisch und eindringlich in der „Recherche“ die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts vorweggenommen werden. Prousts Werk ist nicht nur in literarischer Hinsicht das Fundament modernen Erzählens bis in unsere Gegenwart hinein. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist, und diese Lesart ist Isenschmid zu verdanken, ein eminent politisch-humanistischer Roman, in dessen „wohlgeformtem Strom verzauberter und verzaubernder Einzelheiten“ immer auch der eigentliche politische Anlass mitfließt: die dramatische Moralverschiebung in der französischen Gesellschaft als Folge der Dreyfus-Affäre. Wer künftig über Proust und seine „Recherche“ spricht, wird also den moralischen Grundernst dieses Romans und die Erfahrungen, auf denen er gründet, zur Kenntnis nehmen müssen.
Von den wenigen, die an Dreyfus’
Unschuld glaubten, bildete ein
großer Teil Prousts Freundeskreis
Starb am 18. November 1922 in Paris: Marcel Proust.
Foto: dpa
Andreas Isenschmid:
Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische. Hanser, München 2022. 239 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Sein Essay überzeugt durch Gründlichkeit und Esprit, besonders dort, wo er Prousts hypersensibler Wahrnehmung für kleinste gesellschaftliche Differenzen nachspürt. Ein Muss für alle Proustianer - und ein Lesevergnügen!" Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 25.09.22

"Großartiges Buch über den jüdischen Proust (...) Bisweilen bekommt 'Der Elefant im Raum' den Charakter eines Proust-Readers für Fortgeschrittene." Tagesspiegel, Gerrit Bartels, 15.09.22

"Spannend, fesselnd und vergnüglich ... Isenschmid kann aus einer unscheinbaren Randbemerkung bei Proust eine ganze zeitgeschichtliche People-Story filtern." Andreas Klaeui, SRF2 Kultur, 02.09.22

"Prousts geheimes Lebensthema: Man sah einzelne Bäume, aber nie den Wald. Isenschmid hat ihn durchforstet. Stupende Quellenfunde, überraschende Neudeutungen, souverän aufgeblättert - das wichtigste Proust-Buch der letzten Jahrzehnte." Michael Maar