Produktdetails
- Verlag: Limbus Verlag
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 238
- Erscheinungstermin: 4. März 2011
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 39g
- ISBN-13: 9783902534439
- ISBN-10: 3902534435
- Artikelnr.: 32679742
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2011Neuronen unter Beschuss, die Menschheit im Visier
Was hat Gott mit Atomkraft zu tun? Hans Platzgumer legt einen Tschernobyl-Roman vor. Es könnte das Buch der Stunde sein - wäre es nicht zeitlos verschmockt.
Allmählich wird es eng für uns. Denn bald schon bekommt er die Beine auf die Erde, Behemoth, der Elefantenflusspferdziegenbüffel, ein Mutant von welterschütternder Stärke, der nichts Gutes im Schilde führt. In Harmagedon, so ist es vorausgesagt, wird er den großen Endkampf austragen mit seinem Widersacher, dem Leviathan, der bekanntlich niemand anderes ist als der Staat an sich, die Ordnung des Menschen. Mit dem ersten Bein hat Behemoth vor einem Vierteljahrhundert aufgestampft. In Form eines Elefantenfußes erstarrte das geschmolzene Material in Tschernobyls viertem Reaktorblock: angereichertes Uran, Plutonium, Grafit, Bitumen und Sand. Jetzt hat das Monstrum in Fukushimas Reaktorblöcken erneut Tritt gefasst. Hans Platzgumers mythentümelnder Roman, angesiedelt in der Todeszone von Tschernobyl, hat plötzlich eine Aktualität erlangt, die dem Autor selbst nicht ganz geheuer ist.
Direkt aus der Hölle stammen hier aber zunächst einmal die Inquit-Formeln, jene aufdringlich lenkenden Variationen des "sagte XY", die schon Cicero für so problematisch hielt, dass er stattdessen reine Namensnennung mit Doppelpunkt empfahl. Doch Platzgumer: "keuchte Artjom", "verzeichnete Henry", "schluchzte Soraya", "fauchte Phillipe", "erregte sich Oleg". Endlos geht es so weiter in diesem dialogischen Roman. Das ist jedoch nur ein stilistischer Vorgeschmack auf das dramaturgische Hauptproblem: "Der Elefantenfuß" ist im Kern ein halbwegs fundiertes Sachbuch, zu seinem Schaden eingekleidet in eine schwächelnde Romanhandlung. Ständig wird daher von allen Figuren umständlich Physikalisches oder Historisches erklärt: "Die Lumineszenz. Jetzt verstand Henry. Die Radio-Lumineszenz. Die Lichtquanten. Die überschüssige Energie der atomaren Zerfallsprozesse. In einem Gramm Radium fanden pro Sekunde 37 Milliarden Zerfallsprozesse statt."
Dabei ist die Grundidee des Buches erstaunlich gut. Schließlich stellt die ausgelöschte Stadt Pripjat - zumindest bis zum Desaster von Fukushima - die einzig echte Heterotopie dar, einen lokalisierbaren "Ort außerhalb aller Orte". In diese tot-untote, von zwischen Trotz und Verzweiflung schwebenden Existenzen besiedelte Gegend schickt Platzgumer zum Jahrestag der Katastrophe zwei Gottessucher, einen promovierenden Biologen sowie drei ukrainische Soldaten, denen der Sinn nach einem ungestörten Camping-Abenteuer steht. Die Besucher treffen auf den durchgeknallten, aber auch wieder höchst rationalen Alexander, der seinerzeit als Kind die volle Strahlendosis abbekommen hat und zum Aussätzigen wurde. Er ist irgendwann zurückgekehrt, hat sich mit einem Akkuschrauber den Schädel aufgebohrt ("ein Wurmloch in eine andere Dimension") und joggt seither durch die Geisterstadt. Und sie treffen auf Igor, einen ehemaligen Kraftwerksingenieur, der in seinem kleinen Laden am Rand der Sperrzone den verhassten Katastrophentouristen überteuerte Lebensmittel verkauft. Dazwischen reflektiert Igor über Astronomie oder das Doppelspalt-Experiment: "Würde er es nur schaffen, die Dekohärenz zu durchbrechen und sich physikalisch in jedem Augenblick vollkommen von seiner Umgebung zu isolieren, dann könnte er sein eigenes vieldimensionales Leben erfahren."
Noch konstruierter wirkt das, was der Radikalfrömmler Phillipe doziert und wofür ihn, das erfahren wir gleich zehnfach, die dumpfnudelige, von ihrem Meister nach Gutdünken verprügelte Soraya anhimmelt. Kennengelernt haben sich die beiden ein halbes Jahr zuvor, weil es Soraya faszinierte, wie Phillipe in Genf tagelang einen Grashalm anstarrte: "Wir betrachteten ihn so lange, bis wir fühlten, dass wir ein und dasselbe waren wie er." Gott habe sich, davon ist Phillipe überzeugt, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts den Quantenphysikern offenbart. Sie allein hätten seine Vielgestalt und Unvergänglichkeit geschaut. Doch was taten die Physiker? "Mit Neutronen beschossen sie den Kern der Atome und erregten den Zorn Gottes." Nicht weniger als Blasphemie war das: "Durch die Kernspaltung hat der Mensch gesündigt!"
In Tschernobyl wollte Gott demnach ein Zeichen setzen, aber die Menschen erhörten ihn wieder nicht. Daher schicke der Allmächtige nun ihn, Racheengel Phillipe, um sich des Elefantenfußes anzunehmen: "Der erste Ausbruch Tschernobyls war nur der Anfang." Das ist, wie gesagt, an sich kein schlechter Plot. Auch die Idee, den strahlenden Ort die Gedanken ins Unendliche ablenken zu lassen, ist nicht verkehrt. Wenn die stilistische Durchführung nur nicht so lieblos, die Figurenzeichnung nicht so armselig wäre.
Da hilft denn auch nicht, dass alle Hintergrunddetails penibel recherchiert wurden. Im ersten Leben ist Hans Platzgumer Musiker, seit 1995 Mitglied der Punk-Formation Die Goldenen Zitronen, deren letztes und weithin gelobtes Album, "Die Entstehung der Nacht", ebenfalls über Weltflucht sinniert. Das jedoch weit subtiler und humorvoller.
OLIVER JUNGEN
Hans Platzgumer: "Der Elefantenfuß". Roman.
Limbus Verlag, Innsbruck 2011. 239 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was hat Gott mit Atomkraft zu tun? Hans Platzgumer legt einen Tschernobyl-Roman vor. Es könnte das Buch der Stunde sein - wäre es nicht zeitlos verschmockt.
Allmählich wird es eng für uns. Denn bald schon bekommt er die Beine auf die Erde, Behemoth, der Elefantenflusspferdziegenbüffel, ein Mutant von welterschütternder Stärke, der nichts Gutes im Schilde führt. In Harmagedon, so ist es vorausgesagt, wird er den großen Endkampf austragen mit seinem Widersacher, dem Leviathan, der bekanntlich niemand anderes ist als der Staat an sich, die Ordnung des Menschen. Mit dem ersten Bein hat Behemoth vor einem Vierteljahrhundert aufgestampft. In Form eines Elefantenfußes erstarrte das geschmolzene Material in Tschernobyls viertem Reaktorblock: angereichertes Uran, Plutonium, Grafit, Bitumen und Sand. Jetzt hat das Monstrum in Fukushimas Reaktorblöcken erneut Tritt gefasst. Hans Platzgumers mythentümelnder Roman, angesiedelt in der Todeszone von Tschernobyl, hat plötzlich eine Aktualität erlangt, die dem Autor selbst nicht ganz geheuer ist.
Direkt aus der Hölle stammen hier aber zunächst einmal die Inquit-Formeln, jene aufdringlich lenkenden Variationen des "sagte XY", die schon Cicero für so problematisch hielt, dass er stattdessen reine Namensnennung mit Doppelpunkt empfahl. Doch Platzgumer: "keuchte Artjom", "verzeichnete Henry", "schluchzte Soraya", "fauchte Phillipe", "erregte sich Oleg". Endlos geht es so weiter in diesem dialogischen Roman. Das ist jedoch nur ein stilistischer Vorgeschmack auf das dramaturgische Hauptproblem: "Der Elefantenfuß" ist im Kern ein halbwegs fundiertes Sachbuch, zu seinem Schaden eingekleidet in eine schwächelnde Romanhandlung. Ständig wird daher von allen Figuren umständlich Physikalisches oder Historisches erklärt: "Die Lumineszenz. Jetzt verstand Henry. Die Radio-Lumineszenz. Die Lichtquanten. Die überschüssige Energie der atomaren Zerfallsprozesse. In einem Gramm Radium fanden pro Sekunde 37 Milliarden Zerfallsprozesse statt."
Dabei ist die Grundidee des Buches erstaunlich gut. Schließlich stellt die ausgelöschte Stadt Pripjat - zumindest bis zum Desaster von Fukushima - die einzig echte Heterotopie dar, einen lokalisierbaren "Ort außerhalb aller Orte". In diese tot-untote, von zwischen Trotz und Verzweiflung schwebenden Existenzen besiedelte Gegend schickt Platzgumer zum Jahrestag der Katastrophe zwei Gottessucher, einen promovierenden Biologen sowie drei ukrainische Soldaten, denen der Sinn nach einem ungestörten Camping-Abenteuer steht. Die Besucher treffen auf den durchgeknallten, aber auch wieder höchst rationalen Alexander, der seinerzeit als Kind die volle Strahlendosis abbekommen hat und zum Aussätzigen wurde. Er ist irgendwann zurückgekehrt, hat sich mit einem Akkuschrauber den Schädel aufgebohrt ("ein Wurmloch in eine andere Dimension") und joggt seither durch die Geisterstadt. Und sie treffen auf Igor, einen ehemaligen Kraftwerksingenieur, der in seinem kleinen Laden am Rand der Sperrzone den verhassten Katastrophentouristen überteuerte Lebensmittel verkauft. Dazwischen reflektiert Igor über Astronomie oder das Doppelspalt-Experiment: "Würde er es nur schaffen, die Dekohärenz zu durchbrechen und sich physikalisch in jedem Augenblick vollkommen von seiner Umgebung zu isolieren, dann könnte er sein eigenes vieldimensionales Leben erfahren."
Noch konstruierter wirkt das, was der Radikalfrömmler Phillipe doziert und wofür ihn, das erfahren wir gleich zehnfach, die dumpfnudelige, von ihrem Meister nach Gutdünken verprügelte Soraya anhimmelt. Kennengelernt haben sich die beiden ein halbes Jahr zuvor, weil es Soraya faszinierte, wie Phillipe in Genf tagelang einen Grashalm anstarrte: "Wir betrachteten ihn so lange, bis wir fühlten, dass wir ein und dasselbe waren wie er." Gott habe sich, davon ist Phillipe überzeugt, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts den Quantenphysikern offenbart. Sie allein hätten seine Vielgestalt und Unvergänglichkeit geschaut. Doch was taten die Physiker? "Mit Neutronen beschossen sie den Kern der Atome und erregten den Zorn Gottes." Nicht weniger als Blasphemie war das: "Durch die Kernspaltung hat der Mensch gesündigt!"
In Tschernobyl wollte Gott demnach ein Zeichen setzen, aber die Menschen erhörten ihn wieder nicht. Daher schicke der Allmächtige nun ihn, Racheengel Phillipe, um sich des Elefantenfußes anzunehmen: "Der erste Ausbruch Tschernobyls war nur der Anfang." Das ist, wie gesagt, an sich kein schlechter Plot. Auch die Idee, den strahlenden Ort die Gedanken ins Unendliche ablenken zu lassen, ist nicht verkehrt. Wenn die stilistische Durchführung nur nicht so lieblos, die Figurenzeichnung nicht so armselig wäre.
Da hilft denn auch nicht, dass alle Hintergrunddetails penibel recherchiert wurden. Im ersten Leben ist Hans Platzgumer Musiker, seit 1995 Mitglied der Punk-Formation Die Goldenen Zitronen, deren letztes und weithin gelobtes Album, "Die Entstehung der Nacht", ebenfalls über Weltflucht sinniert. Das jedoch weit subtiler und humorvoller.
OLIVER JUNGEN
Hans Platzgumer: "Der Elefantenfuß". Roman.
Limbus Verlag, Innsbruck 2011. 239 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aha, Oliver Jungen empfiehlt nicht das Buch, sondern das letzte Album der "Goldenen Zitronen", deren Mitglied der Autor ist. Auf dem Album, meint Jungen, werde das Thema Weltflucht, subtiler und auch humorvoller behandelt als im Buch. Was Hans Platzgrumer hingegen in seinem Roman macht, überzeugt Jungen aus folgendem Grund nicht: So gut (und schrecklich aktuell) die Idee einer transzendentalen Heterotopie am Ort der Todeszone von Tschernobyl auch ist und so gut recherchiert die technischen Details auch sind, so schwach erscheint dem Rezensenten die Umsetzung. Platzgrumers Fähigkeiten auf dem Gebiet der Dramaturgie und der Figurenzeichnung sind offenbar sehr bescheiden. Aber Musik machen kann er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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