Produktdetails
  • Verlag: Kunstmann
  • ISBN-13: 9783888976834
  • ISBN-10: 3888976839
  • Artikelnr.: 29719227
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.10.2010

Brüder, zur Sonne,
zur guten Luft
Hermann Scheer hat ein Vermächtnis hinterlassen mit seinem jüngsten Buch, denn der Autor – einer der prominentesten und wortmächtigsten Verfechter einer schnellen und radikalen Energiewende – ist vor gut zwei Wochen in Berlin gestorben. Zuvor hat er noch einmal aufgeschrieben, wie „ein vollständiger Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist“ – und er hat deutlich gemacht, dass es um mehr geht als ökonomische oder technische Fragen. Scheer hält den Abschied von konventioneller Energie für einen ethischen Imperativ. Der Wandel hin zu erneuerbaren Energieformen sei nicht nur „keine untragbare Belastung, sondern eine neue Chance“. Er erfordere eine „beispiellose kulturelle Kraftanstrengung“, aber dazu gebe es keine Alternative: „Zu viel Zeit ist schon verspielt worden“.
Scheer, der „Solarpapst“ und Träger des Alternativen Nobelpreises, lehnt eine zentral gesteuerte Energiewende, die einen Konsens von Politik und Wirtschaft erfordern würde, ab; er hält auch nichts von Großprojekten wie Desertec oder Supergrids, also von neuen Übertragungsleitungen. Vor allem aber verurteilt Scheer jedes Festhalten an „Brückentechnologien“. Die Atomindustrie, schreibt er, erhalte extrem viele offene und versteckte Subventionen, sie koste die Gesellschaft viel mehr als sie biete, sodass jede Laufzeitverlängerung ein Verrat an der Menschheit sei. Konventionelle Energien seien jahrzehntelang gefördert worden – durch Gesetze und Privilegien wie das Bergrecht, Subventionen für den Kohlebergbau, die Förderung der Atomtechnik, die Übernahme von Entwicklungskosten und Haftungsrisiken durch den Staat, steuerfreie Rückstellungen für die Endlagerung, Steuerfreiheit für Atombrennstoffe und zinsgünstige Kredite für Atomkraftwerke.
Er listet die Privilegien der Stromindustrie auf, mit der jedwede Konkurrenz verhindert werde und Monopole zementiert würden, sowie nicht zuletzt die Steuerbefreiung für Schiffs- und Flugbenzin. Wo da denn, bitte sehr, die Wettbewerbsgleichheit mit den Erneuerbaren sei, fragt der Autor. Das Gerede von den unabschätzbaren Kosten eines Energiewandels sei ein „Märchen“, zumal, fahrlässig genug, Gesundheitsschäden, Waldschäden, Wasserschäden, Bergschäden, die Reduzierung der Artenvielfalt und die Klimaveränderung nicht einmal eingerechnet seien.
Der Autor Hermann Scheer ist ein Idealist, aber kein Utopist. Er glaubt an den sich selbst nährenden Wandel durch eine dezentrale Entwicklung, durch autonome Akteure, die ihre Ideen je nach geografischen, kulturellen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten umsetzen. Er glaubt an die „Schubkräfte einer breiter werdenden Bewegung“, die befördert werden müsste durch die „Umkehrung der in Gesetzen implizit verankerten Vorzugsbehandlung der konventionellen Energieträger zugunsten erneuerbare Energien“. Scheer fordert einen „neuen Rechtsrahmen“, die Förderung regionaler Wirtschaftsstrukturen, eine Weiterentwicklung des EEG, des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und, neben vielem anderen, die Einführung einer „Schadstoffsteuer“ anstelle einer Energiesteuer. Würden Emissionen besteuert, dann würde das einen langfristigen Produktions- und Konsumwandel einleiten.
Wer Scheer über 250 Seiten folgt, der ist beeindruckt von seiner Sach- und Detailkenntnis, seiner Überzeugungskraft. Wer Scheers Engagement über viele Jahre verfolgt hat, der weiß, dass viele seiner Ideen ungehört verhallt sind. Vielleicht sitzt er gerade jetzt im Himmel und schaut staunend von einer Wolke auf diese Welt herunter, die sich selbst um ihre Grundlagen bringt. Cathrin Kahlweit
Hermann Scheer: Der energethische Imperativ. 100 % jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist. Kunstmann Verlag, München 2010. 272 Seiten. 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Der Philosoph Peter Sloterdijk nutzt das Erscheinen dieses Buchs, um das Vermächtnis des  im Oktober verstorbenen grünen Sozialdemokraten Hermann Scheer insgesamt zu würdigen, der seit mehr als dreißig Jahren die solare Wende in der Energiepolitik forderte, propagierte und betrieb und damit zur "Identifikation einer epochalen Idee" wurde. Das Buch verfolgt - wie auch seine Vorgänger - die These, dass die komplette und sofortige Umstellung der gesamten Energieversorgung möglich sei und nur von "eingebetteten" Wissenschaftlern und Politikern sabotiert werde, und laut Sloterdijk tut es dies mit aller gebotenen "Sachlichkeit und Leidenschaft". Dass Ungeduld eine Tugend ist, hat der Philosoph auch von Scheer gelernt, denn schließlich, schreibt er in seiner umfassenden Hommage,  ist alle Politik immer Zeitpolitik: "Wer zu spät siegt, hat auch verloren. Wer das Richtige zu spät tut, tut doch das Falsche."

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