Mit Herodot in der Wüste
Aus dem breit angelegten Œuvre des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje ragt der im Erscheinungsjahr 1992 mit dem Booker Price prämierte Roman «Der englische Patient» besonders hervor. Nicht zuletzt wegen der mit 9 Oscars prämierten Verfilmung wurde er später
weltberühmt und damit auch einem größeren Lesepublikum bekannt. Vor allem die Kinobesucher werden sich…mehrMit Herodot in der Wüste
Aus dem breit angelegten Œuvre des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje ragt der im Erscheinungsjahr 1992 mit dem Booker Price prämierte Roman «Der englische Patient» besonders hervor. Nicht zuletzt wegen der mit 9 Oscars prämierten Verfilmung wurde er später weltberühmt und damit auch einem größeren Lesepublikum bekannt. Vor allem die Kinobesucher werden sich fragen, ob die Lektüre des Romans lohnend sei, was ich hier schon mal bejahen kann, mit Einschränkungen allerdings.
Zu dem titelgebenden Patienten und seiner jungen Krankenschwester Hana, die in der zerbombten und von den zurückweichenden deutschen Truppen verminten toskanischen Villa San Girolamo hausen, gesellt sich außer dem Dieb und britischen Geheimdienstler Caravaggio, ein Freund von Hanas verstorbenem Vater, auch Kip, ein junger Sikh im britischen Militärdienst, der dort als Minenräumer arbeitet. Caravaggio interessiert sich für den mysteriösen Patienten, den Hana für einen Engländer hält, Kip wiederum hat eine kurze Affäre mit Hana. Die vier Protagonisten sind Strandgut des Zweiten Weltkrieges, sie sind allesamt desillusioniert einer paralysierenden, noch sehr nahen Vergangenheit entronnen. Die Handlung ist zweisträngig aufgebaut, sie wechselt zwischen Kriegsende 1945 und der Zeit vor und während des deutschen Afrikafeldzuges in Libyen und Ägypten. In Rückblenden erzählt der Patient von seiner Arbeit als Forscher in der libyschen Wüste und von der heftigen Liebesbeziehung zu der frisch angetrauten Frau eines Kollegen, die tragisch endet, - Filmbesucher kennen die spektakuläre Szene. Caravaggio gelingt es in seinen Gesprächen mit dem Patienten, dessen Identität zu enthüllen, es handelt sich um den Ungarn Graf Ladislaus de Almásy, der für die Deutschen spioniert hat, für Rommel.
Als Schriftsteller der Postmoderne benutzt Ondaatje hier wie auch in vielen seiner anderen Werke eine fragmentarische Erzählweise, die fotografischen Schnappschüssen ähnelnd einen Teil des Plots behandelt, um sich dann unvermittelt wieder einem anderen zuzuwenden. Zwischen Krankenbett und Saharaforschung oszillierend werden auf diese Art in den zehn Kapiteln des Romans beide Strängen der Handlung parallel vorangetrieben. Ergänzt wird dies durch Rückblenden in Caravaggios Spionagezeiten sowie den minutiös geschilderten Arbeiten von Kip bei der hochriskanten und immer komplizierter werdenden Entschärfung von Bomben und der Räumung von Minenfeldern. Diese Abschnitte werden jeweils aus der Perspektive der einzelnen Figuren erzählt, wobei diese selbst merkwürdig seelenlos bleiben, keine Empathie erzeugen. Abweichend von der ansonsten durchgängig auktorialen Erzählsituation tritt Ondaatje im letzten, «August» überschriebenen Kapitel als personaler Erzähler auf, wenn er über Hana schreibt: «Sie ist eine Frau, die ich nicht gut genug kenne, um sie unter meine Fittiche zu nehmen, sollten denn Schriftsteller Flügel haben, und ihr für den Rest meines Lebens Schutz zu gewähren.» Er führt das Schicksal der anderen Figuren nicht näher aus, nur Kip erscheint am Ende als in seine Heimat zurückgekehrter, verheirateter Arzt, der im August 1945 entsetzt den Abwurf der ersten Atombomben zum Anlass genommen hatte, seinen Dienst zu quittieren.
In einer zweiseitigen Danksagung nennt der Autor am Schluss des Buches die Quellen für seine detaillierten Beschreibungen, akribisch recherchierend hat er es meines Erachtens mit dieser Detailfülle allerdings übertrieben, weniger wäre hier mehr gewesen. Zweifel habe ich nach der Lektüre auch gehabt, ob und wie das alles zusammengeht, was ich da so gelesen habe über Liebe, Wüste, Krieg, Bomben, Minen, Italien. Die Passagen, in denen es um Herodot geht, dessen Buch der Patient, mit eigenen Notizen angereichert, ständig bei sich trug und aus dem Hana ihm vorliest, waren für mich die erfreulichsten in diesem vielschichtigen Roman, der von den Verheerungen berichtet, die der Krieg anrichtet, - und manchmal auch die Liebe.