Im Verlauf seiner Arbeit hat sich Peter von Matt immer wieder mit dem Werk von Elias Canetti auseinandergesetzt. Zu seinem 70. Geburtstag erscheinen seine Deutungen, Würdigungen, Gedenkreden und persönlichen Erinnerungen in einem Band versammelt. Sie eröffnen einen konzisen Einblick in Canettis Werk, formen ein plastisches Bild des Menschen Canetti und sind zugleich eine kleine Schule des Lesens.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2007Komm ins Wilde, Leser
Ohne Karte: Peter von Matt am Krater der Literatur
An manchen romantischen Landschaftsbildern mag den heutigen, mit wetterfester Kleidung ausgestatteten Betrachter amüsieren, dass die wilde Natur gewöhnlich von etwas steif wirkenden Bürgern im Gehrock wahrgenommen wird. Der allzeit adrett gekleidete und aufgeräumt wirkende Zürcher Literaturwissenschaftler Peter von Matt hat sich im Umschlagbild und im Titel seiner Sammlung von Aufsätzen zur deutschen Literatur ironisch an die Stelle dieser Beobachter gesetzt. Der Weg zum Kunstwerk führt für ihn seit je nicht den Bürgersteig entlang, sondern "durch Höhlen und Sümpfe, über Grate und Gletscherfelder, durch fauliges Dunkel und grelles Licht. Landkarten gibt es dafür keine." Derart will von Matt den Leser einmal wieder ins Gelände "der gegenläufigen, sich widersprechenden, einander sabotierenden Ordnungen" entführen.
Dieser auch das Düstere munter betrachtende Interpret liebt es, schlafende Hunde zu wecken. Mit Mut, Lust und List stellt er sich der Gegenwärtigkeit jeder passionierten Lektüre, in der selbst die ältesten und abgelegensten Texte plötzlich die Augen aufschlagen können. Dann kann es geschehen, dass der Leser allem wiederbegegnet, was er selbst und die Gesellschaft, in der er lebt, ins Unsichtbare verbracht hat. Solche produktiven Irritationen in der unerwarteten Einsicht und Aussicht gehen oft von einem packenden Satz oder vom Bruchstück aus. Dieser Vorleser akzeptiert keine vorgegebenen Unterscheidungen des Wichtigen vom Unwichtigen. Da kann eine Briefstelle bei Kafka unversehens in die Mitte der Problematik der Moderne rücken, der "Gleichzeitigkeit von Tod und Gelächter", in welcher der Tod repetierbar oder zum Endlosgeschehen wird. "Es ist unrecht über den Helden zu lächeln, der mit der Todeswunde auf der Bühne liegt und eine Arie singt. Wir liegen und singen jahrelang." Das ist gleichzeitig eine Probe von Kafkas Kunst, geläufige Witze in unendlich subtile Komik zu verwandeln.
In seinem eleganten Konversationston praktiziert Peter von Matt eine Ethik des Verstehens, nach der sich der Literaturwissenschaftler zum Reiseleiter nicht als versierter Repräsentant einer Methodenfirma qualifiziert, sondern als ein mit Liebe in die Untiefen der Texte blickendes Individuum. Das macht sich beiläufig frei nach Nestroy gern einen Jux mit der ernsten Miene wie mit dem Obskurantismus der Kollegen in der Germanistik. Zu einer "Szene, von der man schweigt", nämlich der Vereinigung von Faust und Helena in "Faust II", kommentiert von Matt in naturalistischer Zuspitzung: "Die beiden erlauben sich, öffentlich miteinander zu schlafen", um sich dann diebisch über die "verschleiernden Pirouetten" zu amüsieren, die von den Germanisten angesichts dieser Verse immer wieder gedreht wurden. Ganz gerecht ist der Spott nicht, nicht einmal in jedem Fall zutreffend. Dem leidenschaftlichen Deuter ist der Disput lieber als das Argumentieren auf der sicheren Seite, und am Anfang subtiler Abwägungen steht nicht selten eine hinreißerische Formulierung.
Den Glanz des freien Denkens verbreitet Peter von Matt vor allem dann, wenn es gilt, die Tradition aus dem Gefängnis der trivialen Lebensweisheit und der griesgrämigen Moral zu befreien. Die Frage nach der Wahrheit des notorisch missverstandenen Satzes "Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen" gerät ihm zu einem konzisen Stück Moralistik jenseits konformistischer Moral und der Zwickmühle einer politischen Korrektheit, in der wir uns zwangsläufig kolonisierend am Fremden vergehen, ob wir es lieben oder ablehnen. Von Matts Interpretationen sind immer auch kleine Lektionen im unverzagten Annehmen dessen, was der Liebe als keineswegs immer leichter "sittlicher Aufgabe" würdig erscheint.
Ein ins Moderne gewendeter Moralist in der Tradition der französischen Aufklärung ist für Peter von Matt auch Elias Canetti, dessen Werk er über fünfunddreißig Jahre hinweg begleitet hat. Auch er einer, der ins Wilde geht, ein "Selbstdenker" im unwegsamen Gelände: "Er erinnert einen an die einsamen Pelzjäger, die Trapper in den Tundren der Mongolei oder in kanadischen Wäldern, jene legendären Einzelgänger, die monatelang verschwinden, mit nichts als ihren Waffen und ihrer Erfahrung." Die Reihe der immer wieder erneuerten Einladungen zur Lektüre zeigt Canetti als einen Meister der Verwandlungen, als Jäger und Spieler, als weisen Komödianten und Fallensteller, dessen Werk auch dem erfahrensten Leser den Einsatz seiner besten sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten abverlangt.
Peter von Matt will den "guten Leser" in unentdeckte literarische Ländereien locken. Den Grenzübertritt macht er ihm leicht, aber er verspricht ihm dabei keine entspannte Reise und gibt ihm auch keine Gewähr, unbehelligt zu bleiben. Nicht nur unter Palmen kann sich die Wahrheit nämlich verwandeln und "uns den Teppich unter den Füßen" wegziehen.
FRIEDMAR APEL
Peter von Matt: "Das Wilde und die Ordnung". Zur deutschen Literatur. Carl Hanser Verlag, München 2007. 296. S., geb., 24,90 [Euro].
Peter von Matt: "Der Entflammte". Über Elias Canetti. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2007. 128 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Karte: Peter von Matt am Krater der Literatur
An manchen romantischen Landschaftsbildern mag den heutigen, mit wetterfester Kleidung ausgestatteten Betrachter amüsieren, dass die wilde Natur gewöhnlich von etwas steif wirkenden Bürgern im Gehrock wahrgenommen wird. Der allzeit adrett gekleidete und aufgeräumt wirkende Zürcher Literaturwissenschaftler Peter von Matt hat sich im Umschlagbild und im Titel seiner Sammlung von Aufsätzen zur deutschen Literatur ironisch an die Stelle dieser Beobachter gesetzt. Der Weg zum Kunstwerk führt für ihn seit je nicht den Bürgersteig entlang, sondern "durch Höhlen und Sümpfe, über Grate und Gletscherfelder, durch fauliges Dunkel und grelles Licht. Landkarten gibt es dafür keine." Derart will von Matt den Leser einmal wieder ins Gelände "der gegenläufigen, sich widersprechenden, einander sabotierenden Ordnungen" entführen.
Dieser auch das Düstere munter betrachtende Interpret liebt es, schlafende Hunde zu wecken. Mit Mut, Lust und List stellt er sich der Gegenwärtigkeit jeder passionierten Lektüre, in der selbst die ältesten und abgelegensten Texte plötzlich die Augen aufschlagen können. Dann kann es geschehen, dass der Leser allem wiederbegegnet, was er selbst und die Gesellschaft, in der er lebt, ins Unsichtbare verbracht hat. Solche produktiven Irritationen in der unerwarteten Einsicht und Aussicht gehen oft von einem packenden Satz oder vom Bruchstück aus. Dieser Vorleser akzeptiert keine vorgegebenen Unterscheidungen des Wichtigen vom Unwichtigen. Da kann eine Briefstelle bei Kafka unversehens in die Mitte der Problematik der Moderne rücken, der "Gleichzeitigkeit von Tod und Gelächter", in welcher der Tod repetierbar oder zum Endlosgeschehen wird. "Es ist unrecht über den Helden zu lächeln, der mit der Todeswunde auf der Bühne liegt und eine Arie singt. Wir liegen und singen jahrelang." Das ist gleichzeitig eine Probe von Kafkas Kunst, geläufige Witze in unendlich subtile Komik zu verwandeln.
In seinem eleganten Konversationston praktiziert Peter von Matt eine Ethik des Verstehens, nach der sich der Literaturwissenschaftler zum Reiseleiter nicht als versierter Repräsentant einer Methodenfirma qualifiziert, sondern als ein mit Liebe in die Untiefen der Texte blickendes Individuum. Das macht sich beiläufig frei nach Nestroy gern einen Jux mit der ernsten Miene wie mit dem Obskurantismus der Kollegen in der Germanistik. Zu einer "Szene, von der man schweigt", nämlich der Vereinigung von Faust und Helena in "Faust II", kommentiert von Matt in naturalistischer Zuspitzung: "Die beiden erlauben sich, öffentlich miteinander zu schlafen", um sich dann diebisch über die "verschleiernden Pirouetten" zu amüsieren, die von den Germanisten angesichts dieser Verse immer wieder gedreht wurden. Ganz gerecht ist der Spott nicht, nicht einmal in jedem Fall zutreffend. Dem leidenschaftlichen Deuter ist der Disput lieber als das Argumentieren auf der sicheren Seite, und am Anfang subtiler Abwägungen steht nicht selten eine hinreißerische Formulierung.
Den Glanz des freien Denkens verbreitet Peter von Matt vor allem dann, wenn es gilt, die Tradition aus dem Gefängnis der trivialen Lebensweisheit und der griesgrämigen Moral zu befreien. Die Frage nach der Wahrheit des notorisch missverstandenen Satzes "Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen" gerät ihm zu einem konzisen Stück Moralistik jenseits konformistischer Moral und der Zwickmühle einer politischen Korrektheit, in der wir uns zwangsläufig kolonisierend am Fremden vergehen, ob wir es lieben oder ablehnen. Von Matts Interpretationen sind immer auch kleine Lektionen im unverzagten Annehmen dessen, was der Liebe als keineswegs immer leichter "sittlicher Aufgabe" würdig erscheint.
Ein ins Moderne gewendeter Moralist in der Tradition der französischen Aufklärung ist für Peter von Matt auch Elias Canetti, dessen Werk er über fünfunddreißig Jahre hinweg begleitet hat. Auch er einer, der ins Wilde geht, ein "Selbstdenker" im unwegsamen Gelände: "Er erinnert einen an die einsamen Pelzjäger, die Trapper in den Tundren der Mongolei oder in kanadischen Wäldern, jene legendären Einzelgänger, die monatelang verschwinden, mit nichts als ihren Waffen und ihrer Erfahrung." Die Reihe der immer wieder erneuerten Einladungen zur Lektüre zeigt Canetti als einen Meister der Verwandlungen, als Jäger und Spieler, als weisen Komödianten und Fallensteller, dessen Werk auch dem erfahrensten Leser den Einsatz seiner besten sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten abverlangt.
Peter von Matt will den "guten Leser" in unentdeckte literarische Ländereien locken. Den Grenzübertritt macht er ihm leicht, aber er verspricht ihm dabei keine entspannte Reise und gibt ihm auch keine Gewähr, unbehelligt zu bleiben. Nicht nur unter Palmen kann sich die Wahrheit nämlich verwandeln und "uns den Teppich unter den Füßen" wegziehen.
FRIEDMAR APEL
Peter von Matt: "Das Wilde und die Ordnung". Zur deutschen Literatur. Carl Hanser Verlag, München 2007. 296. S., geb., 24,90 [Euro].
Peter von Matt: "Der Entflammte". Über Elias Canetti. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2007. 128 S., geb., 12,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Gewinn hat Rezensent Friedmar Apel dieses Buch Peter von Matts über Elias Canetti gelesen. Er würdigt den Autor als echten Kenner Canettis, dem es wunderbar gelinge, den Leser zur Lektüre dieses Schriftstellers zu verführen. Für Apel tritt Canetti bei Matt als "Meister der Verwandlungen", als "Jäger und Spieler", als "weiser Komödiant und Fallensteller" vor Augen. Dass die Lektüre keineswegs anspruchslos ist, will Apel nicht verhehlen. Dafür entlohne einen Matt mit einer Reise in "unentdeckte literarische Ländereien".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Mit Gewinn hat Rezensent Friedmar Apel dieses Buch Peter von Matts über Elias Canetti gelesen. Er würdigt den Autor als echten Kenner Canettis, dem es wunderbar gelinge, den Leser zur Lektüre dieses Schriftstellers zu verführen. Für Apel tritt Canetti bei Matt als "Meister der Verwandlungen", als "Jäger und Spieler", als "weiser Komödiant und Fallensteller" vor Augen. Dass die Lektüre keineswegs anspruchslos ist, will Apel nicht verhehlen. Dafür entlohne einen Matt mit einer Reise in "unentdeckte literarische Ländereien".
© Perlentaucher Medien GmbH
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