Was braucht man wirklich im Leben?
Bruno van Gelderen ist auf einem Bauernhof am Niederrhein aufgewachsen und landet in den späten Neunzigern in Berlin. Statt zu studieren, arbeitet er für eine Konzertagentur und verspielt sein Geld an Slot Machines. Alkohol und Amphetamine tun ihr Übriges, nach Überfällen auf eine Kinokasse und einen Spätkauf verbringt er zwei Jahre im Gefängnis. Danach schreibt Bruno zunächst für ein kleines Fachblatt über Berliner Amateur-Fußball und hat plötzlich einen Job bei einer Investment-Firma. Zum ersten Mal in seinem Leben kommt er zu Geld. Und zum ersten Mal hat er so etwas wie einen Plan ...
Wie sein Held staunt auch Ulrich Peltzers neuer Roman über all die Angebote und Weisheiten, die Tricks und Traditionen, mit denen wir unserem Leben einen Sinn zu geben versuchen. Aber worauf kommt es an und wo ist mein Platz in dieser Welt? Wunderbar unaufgeregt stellt sich Peltzers Roman diese so einfachen wie elementaren Fragen. Nichts ist ihm dabei fremder als die große Gereiztheit unserer Zeit. Und wie nebenbei erzählt er vom Einzigen, das für alle zu zählen scheint: vom Geld.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Bruno van Gelderen ist auf einem Bauernhof am Niederrhein aufgewachsen und landet in den späten Neunzigern in Berlin. Statt zu studieren, arbeitet er für eine Konzertagentur und verspielt sein Geld an Slot Machines. Alkohol und Amphetamine tun ihr Übriges, nach Überfällen auf eine Kinokasse und einen Spätkauf verbringt er zwei Jahre im Gefängnis. Danach schreibt Bruno zunächst für ein kleines Fachblatt über Berliner Amateur-Fußball und hat plötzlich einen Job bei einer Investment-Firma. Zum ersten Mal in seinem Leben kommt er zu Geld. Und zum ersten Mal hat er so etwas wie einen Plan ...
Wie sein Held staunt auch Ulrich Peltzers neuer Roman über all die Angebote und Weisheiten, die Tricks und Traditionen, mit denen wir unserem Leben einen Sinn zu geben versuchen. Aber worauf kommt es an und wo ist mein Platz in dieser Welt? Wunderbar unaufgeregt stellt sich Peltzers Roman diese so einfachen wie elementaren Fragen. Nichts ist ihm dabei fremder als die große Gereiztheit unserer Zeit. Und wie nebenbei erzählt er vom Einzigen, das für alle zu zählen scheint: vom Geld.
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Berufsvoraussetzung ist ein gut geschmiertes Mundwerk
Ulrich Peltzers neuer Berlin-Roman "Der Ernst des Lebens"
führt in die Existenz eines Investment-Beraters ein.
Dabei führt das Buch zugleich die ganze Branche vor.
So unentschieden wie der Schluss ist das in Ulrich Peltzers neuem Roman dargestellte Leben. "Aber was ist schon ein guter Ausgang?", fragt sich die Hauptfigur Bruno van Gelderen, CFO einer zweifelhaften Investmentgesellschaft, nach dreihundert Seiten Lebensmonolog. Die Antwort bleibt aus, weil es keine gibt. Irgendwann wird man sehen, was mit dieser aus Zufällen, aus Auf- und Abbrüchen zusammengewürfelten Existenz weiter passiert.
Es geht um einen Mann ohne Eigenschaften, ohne Ziele und Ambitionen, einen Antihelden. Sein Geschäft basiert wie bei Immobilienmaklern, Versicherungshändlern oder Finanzberatern auf Vertrauen. Zu sehen ist bei solchen Leuten nur die Fassade aus geprägter Visitenkarte, einem gut sitzenden Anzug und Autos der gehobenen Klasse. Was der Mann abfällig über andere "Courtageknechte" sagt, gilt auch für ihn: Berufsvoraussetzungen sind wenig mehr als ein ordentlicher Haarschnitt und geputzte Schuhe. Am wichtigsten ist ein gut geschmiertes Mundwerk mit den jeweils passenden Geschichten - unaufdringlich, seriös, kompetent.
Bestes Startkapital für diesen Chief Financial Officer ist sein Name: Nicht alle wissen, dass ein niederländisches "van" nichts mit Adel zu tun hat, sondern auf einen Ort verweist. Der Anklang an Geld kann in der Finanzbranche zusätzlich nützen. Der Weg von einem Bauernhof nahe der holländischen Grenze in eine große Stadt ist aber mindestens so weit wie der Aufstieg vom spielsüchtigen, "Drogen schluckenden Spaßvogel" zu einem CFO. Bruno van Gelderen legt beide Langstrecken zurück. Gleich nach der Schule zieht er nach Berlin, taucht am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zwischen Marxisten, Feministinnen und Grünbewegten in die Studienwelt ein, um sie alsbald gegen Läden für Automatenspiele und Sportwetten zu vertauschen. Klar, dass vor jedem guten Lauf eine Line gezogen, eine Pille eingeworfen oder der Flachmann aufgefüllt wird.
Das kann natürlich nicht lange gut gehen. Nur die wenigstens erkennen die Notwendigkeit, auf dem Höhepunkt loszulassen, verkündet bereits ein dem Roman vorangestelltes Motto aus Graciáns "Handorakel". Denn das "Glück wird müde, einen lange auf den Schultern zu tragen". Vielleicht hätte Van Gelderen, dieser kleinkriminelle Schelm, Dostojewskis "Spieler" oder "Schuld und Sühne" neben Kafkas "Prozess" lieber vor als in der Haft lesen sollen, um nicht gleich töricht sein Verbrechen zu gestehen. Der unerhebliche Geldraub an einer Kinokasse und in einem Späti wäre schwerlich nachweisbar gewesen und auch nicht so schwer bestraft worden. Leider war noch eine Waffe im Spiel, ein ziemlich kleines Messer, dummerweise mit Springmechanismus. Das kostet dann zweieinhalb Jahre und verschafft Zeit zum Nachdenken.
Diesem Nachdenken eine innere Stimme zu geben ist Peltzers Stärke. Das prekäre Leben Van Gelderens im Berlin seit den späten Achtzigerjahren wäre noch kein zwingender Erzählanlass, zumal der Autor das anhand von analogen Fällen mit vorangehenden Büchern wie "Teil der Lösung" (2007), "Das bessere Leben" (2015) oder "Das bist du" (2021) bereits geleistet hat. In diesem Sinne folgt "Der Ernst des Lebens" fast einem peltzerschen Serienprinzip von Berlin-Romanen, die allmählich eine vollständige Sozialtypologie von Ich-Erfindern in der poststudentischen Kulturstadtszene entwickeln.
Wichtiger als die atmosphärisch dichten und soziologisch treffsicheren Erschließungen von Bezirken wie Schöneberg, Charlottenburg, Mitte und Friedrichshain, in denen auch Van Gelderen sich ständig herumtreibt, ist die literarische Perspektive - zugleich Peltzers Markenzeichen. Bei ihm spricht, laut oder leise, eben nur einer. Andere kommen - gefiltert durch den diskontinuierlichen Erinnerungsstrom - nur durch indirekte oder zitierte Rede zu Wort.
Aus dieser Sicht fällt ein durchaus anderes Licht auf die Finanzgesellschaft "Merkur-Invest" als von außen. Dort heuert Van Gelderen nach dem Knast und nach einem kleinen Job beim "Fußball-Echo" an. Sein neuer Chef ist ein undurchsichtiger Georgier namens Guram Kobiashvili, kurz Koba genannt, der auch jenseits des Finanzmarktes dunklen Geschäften nachgeht. Vor allem handelt Koba aber mit Finanzprodukten für eine aus "absoluten High Performern" bestehende Kundschaft. Dieses Geschäft hat viel mit Psychologie und Umgangsformen zu tun. Schließlich gilt es, einen der bekanntesten Fernsehmoderatoren für Werbeclips zu gewinnen und sich im zweiten Schritt Zugang zu wirklich reichen Häusern zu verschaffen. Denn solche Menschen werden nicht gleich nervös, wenn mal eine fünfstellige Kleinigkeit abzuschreiben ist.
Wie das innere Räderwerk der Anlagemaschinerie zu regieren und zu vermitteln ist, begreift man durch eine verborgen visionierende Stimme viel eher als aus der Außenperspektive. Zolas Börsenroman "L'argent" (1891) hat es vorgemacht. So dringen wir mit dem Autodidakten Van Gelderen in diese fremde Welt ein, lernen Unterschiede zwischen einem offenen und einem geschlossenen Fonds kennen, hören Begriffe wie Underlying oder Bond-Stripping, ahnen etwas von der "Relativitätstheorie der Schuldverschreibungen". Vor allem tauchen wir aber in die raffinierten Selbstrechtfertigungsstrukturen derer ein, die Gewinne in Aussicht stellen, ohne sie je versprechen zu können.
Die unfassbare Naivität der solventen Kundschaft, die sich nie über im Kleingedruckten festgehaltene Risiken informiert, muss verwundern. Der permanenten Hochstaplerrede Van Gelderens, der sich selbst als Ehrenmann und braver Steuerzahler sieht, kann man sich kaum entziehen. Wenn die Leute zu gutgläubig oder dumm zur Vorsicht sind, tragen sie eben selbst die Schuld. Schon ist man mittendrin im Peltzer-Sound, der wieder einmal in Bann schlägt. Einige Kürzungen hätten die starke Wirkung indes nicht geschmälert. ALEXANDER KOSENINA
Ulrich Peltzer: "Der Ernst des Lebens". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024.
301 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrich Peltzers neuer Berlin-Roman "Der Ernst des Lebens"
führt in die Existenz eines Investment-Beraters ein.
Dabei führt das Buch zugleich die ganze Branche vor.
So unentschieden wie der Schluss ist das in Ulrich Peltzers neuem Roman dargestellte Leben. "Aber was ist schon ein guter Ausgang?", fragt sich die Hauptfigur Bruno van Gelderen, CFO einer zweifelhaften Investmentgesellschaft, nach dreihundert Seiten Lebensmonolog. Die Antwort bleibt aus, weil es keine gibt. Irgendwann wird man sehen, was mit dieser aus Zufällen, aus Auf- und Abbrüchen zusammengewürfelten Existenz weiter passiert.
Es geht um einen Mann ohne Eigenschaften, ohne Ziele und Ambitionen, einen Antihelden. Sein Geschäft basiert wie bei Immobilienmaklern, Versicherungshändlern oder Finanzberatern auf Vertrauen. Zu sehen ist bei solchen Leuten nur die Fassade aus geprägter Visitenkarte, einem gut sitzenden Anzug und Autos der gehobenen Klasse. Was der Mann abfällig über andere "Courtageknechte" sagt, gilt auch für ihn: Berufsvoraussetzungen sind wenig mehr als ein ordentlicher Haarschnitt und geputzte Schuhe. Am wichtigsten ist ein gut geschmiertes Mundwerk mit den jeweils passenden Geschichten - unaufdringlich, seriös, kompetent.
Bestes Startkapital für diesen Chief Financial Officer ist sein Name: Nicht alle wissen, dass ein niederländisches "van" nichts mit Adel zu tun hat, sondern auf einen Ort verweist. Der Anklang an Geld kann in der Finanzbranche zusätzlich nützen. Der Weg von einem Bauernhof nahe der holländischen Grenze in eine große Stadt ist aber mindestens so weit wie der Aufstieg vom spielsüchtigen, "Drogen schluckenden Spaßvogel" zu einem CFO. Bruno van Gelderen legt beide Langstrecken zurück. Gleich nach der Schule zieht er nach Berlin, taucht am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zwischen Marxisten, Feministinnen und Grünbewegten in die Studienwelt ein, um sie alsbald gegen Läden für Automatenspiele und Sportwetten zu vertauschen. Klar, dass vor jedem guten Lauf eine Line gezogen, eine Pille eingeworfen oder der Flachmann aufgefüllt wird.
Das kann natürlich nicht lange gut gehen. Nur die wenigstens erkennen die Notwendigkeit, auf dem Höhepunkt loszulassen, verkündet bereits ein dem Roman vorangestelltes Motto aus Graciáns "Handorakel". Denn das "Glück wird müde, einen lange auf den Schultern zu tragen". Vielleicht hätte Van Gelderen, dieser kleinkriminelle Schelm, Dostojewskis "Spieler" oder "Schuld und Sühne" neben Kafkas "Prozess" lieber vor als in der Haft lesen sollen, um nicht gleich töricht sein Verbrechen zu gestehen. Der unerhebliche Geldraub an einer Kinokasse und in einem Späti wäre schwerlich nachweisbar gewesen und auch nicht so schwer bestraft worden. Leider war noch eine Waffe im Spiel, ein ziemlich kleines Messer, dummerweise mit Springmechanismus. Das kostet dann zweieinhalb Jahre und verschafft Zeit zum Nachdenken.
Diesem Nachdenken eine innere Stimme zu geben ist Peltzers Stärke. Das prekäre Leben Van Gelderens im Berlin seit den späten Achtzigerjahren wäre noch kein zwingender Erzählanlass, zumal der Autor das anhand von analogen Fällen mit vorangehenden Büchern wie "Teil der Lösung" (2007), "Das bessere Leben" (2015) oder "Das bist du" (2021) bereits geleistet hat. In diesem Sinne folgt "Der Ernst des Lebens" fast einem peltzerschen Serienprinzip von Berlin-Romanen, die allmählich eine vollständige Sozialtypologie von Ich-Erfindern in der poststudentischen Kulturstadtszene entwickeln.
Wichtiger als die atmosphärisch dichten und soziologisch treffsicheren Erschließungen von Bezirken wie Schöneberg, Charlottenburg, Mitte und Friedrichshain, in denen auch Van Gelderen sich ständig herumtreibt, ist die literarische Perspektive - zugleich Peltzers Markenzeichen. Bei ihm spricht, laut oder leise, eben nur einer. Andere kommen - gefiltert durch den diskontinuierlichen Erinnerungsstrom - nur durch indirekte oder zitierte Rede zu Wort.
Aus dieser Sicht fällt ein durchaus anderes Licht auf die Finanzgesellschaft "Merkur-Invest" als von außen. Dort heuert Van Gelderen nach dem Knast und nach einem kleinen Job beim "Fußball-Echo" an. Sein neuer Chef ist ein undurchsichtiger Georgier namens Guram Kobiashvili, kurz Koba genannt, der auch jenseits des Finanzmarktes dunklen Geschäften nachgeht. Vor allem handelt Koba aber mit Finanzprodukten für eine aus "absoluten High Performern" bestehende Kundschaft. Dieses Geschäft hat viel mit Psychologie und Umgangsformen zu tun. Schließlich gilt es, einen der bekanntesten Fernsehmoderatoren für Werbeclips zu gewinnen und sich im zweiten Schritt Zugang zu wirklich reichen Häusern zu verschaffen. Denn solche Menschen werden nicht gleich nervös, wenn mal eine fünfstellige Kleinigkeit abzuschreiben ist.
Wie das innere Räderwerk der Anlagemaschinerie zu regieren und zu vermitteln ist, begreift man durch eine verborgen visionierende Stimme viel eher als aus der Außenperspektive. Zolas Börsenroman "L'argent" (1891) hat es vorgemacht. So dringen wir mit dem Autodidakten Van Gelderen in diese fremde Welt ein, lernen Unterschiede zwischen einem offenen und einem geschlossenen Fonds kennen, hören Begriffe wie Underlying oder Bond-Stripping, ahnen etwas von der "Relativitätstheorie der Schuldverschreibungen". Vor allem tauchen wir aber in die raffinierten Selbstrechtfertigungsstrukturen derer ein, die Gewinne in Aussicht stellen, ohne sie je versprechen zu können.
Die unfassbare Naivität der solventen Kundschaft, die sich nie über im Kleingedruckten festgehaltene Risiken informiert, muss verwundern. Der permanenten Hochstaplerrede Van Gelderens, der sich selbst als Ehrenmann und braver Steuerzahler sieht, kann man sich kaum entziehen. Wenn die Leute zu gutgläubig oder dumm zur Vorsicht sind, tragen sie eben selbst die Schuld. Schon ist man mittendrin im Peltzer-Sound, der wieder einmal in Bann schlägt. Einige Kürzungen hätten die starke Wirkung indes nicht geschmälert. ALEXANDER KOSENINA
Ulrich Peltzer: "Der Ernst des Lebens". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024.
301 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Wie jemand, den die Romanfiguren in Ulrich Peltzers Büchern brauchen, fühlt sich Rezensent Lothar Müller bei der Lektüre von Peltzers jüngstem Werk. Gleich zu Beginn der Erzählung hält der Protagonist dem Leser "seine Visitenkarte" hin und spricht in der Ich-Form von sich - Müller fühlt sich zum Zuhören verpflichtet. Peltzers Romanfiguren müssen "ein Gegenüber haben" jemandem, dem sie sich offen mitteilen können, so Müller. Wie Peltzer seine Literatur um das zerrissene Schicksal des Protagonisten Bruno van Gelderen webt, findet der Rezensent reizvoll und erzähltechnisch meisterhaft. Je mehr dieser von seinen Höhen und Tiefen, seiner Spielsucht und seinen Abgründen erzähle, desto mehr verberge er sich zugleich. Peltzers Romanfigur ist von einer beunruhigenden Ambivalenz geprägt: Die Worte geben van Gelderen eine Maske, er ist ein "Trickser des Erzählens", meint Müller, doch ganz kann er seiner Herkunft und seinem Schicksal trotz aller "Selbstbeschwichtigungen" nicht entkommen und so muss er schließlich in die niederrheinische Heimat auf den elterlichen Hof zurückkehren, von dem er sich so gerne gelöst hätte - Müller sieht hier ein Zeichen für den unausweichlichen Abstieg des Helden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2024Berufsvoraussetzung ist ein gut geschmiertes Mundwerk
Ulrich Peltzers neuer Berlin-Roman "Der Ernst des Lebens"
führt in die Existenz eines Investment-Beraters ein.
Dabei führt das Buch zugleich die ganze Branche vor.
So unentschieden wie der Schluss ist das in Ulrich Peltzers neuem Roman dargestellte Leben. "Aber was ist schon ein guter Ausgang?", fragt sich die Hauptfigur Bruno van Gelderen, CFO einer zweifelhaften Investmentgesellschaft, nach dreihundert Seiten Lebensmonolog. Die Antwort bleibt aus, weil es keine gibt. Irgendwann wird man sehen, was mit dieser aus Zufällen, aus Auf- und Abbrüchen zusammengewürfelten Existenz weiter passiert.
Es geht um einen Mann ohne Eigenschaften, ohne Ziele und Ambitionen, einen Antihelden. Sein Geschäft basiert wie bei Immobilienmaklern, Versicherungshändlern oder Finanzberatern auf Vertrauen. Zu sehen ist bei solchen Leuten nur die Fassade aus geprägter Visitenkarte, einem gut sitzenden Anzug und Autos der gehobenen Klasse. Was der Mann abfällig über andere "Courtageknechte" sagt, gilt auch für ihn: Berufsvoraussetzungen sind wenig mehr als ein ordentlicher Haarschnitt und geputzte Schuhe. Am wichtigsten ist ein gut geschmiertes Mundwerk mit den jeweils passenden Geschichten - unaufdringlich, seriös, kompetent.
Bestes Startkapital für diesen Chief Financial Officer ist sein Name: Nicht alle wissen, dass ein niederländisches "van" nichts mit Adel zu tun hat, sondern auf einen Ort verweist. Der Anklang an Geld kann in der Finanzbranche zusätzlich nützen. Der Weg von einem Bauernhof nahe der holländischen Grenze in eine große Stadt ist aber mindestens so weit wie der Aufstieg vom spielsüchtigen, "Drogen schluckenden Spaßvogel" zu einem CFO. Bruno van Gelderen legt beide Langstrecken zurück. Gleich nach der Schule zieht er nach Berlin, taucht am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zwischen Marxisten, Feministinnen und Grünbewegten in die Studienwelt ein, um sie alsbald gegen Läden für Automatenspiele und Sportwetten zu vertauschen. Klar, dass vor jedem guten Lauf eine Line gezogen, eine Pille eingeworfen oder der Flachmann aufgefüllt wird.
Das kann natürlich nicht lange gut gehen. Nur die wenigstens erkennen die Notwendigkeit, auf dem Höhepunkt loszulassen, verkündet bereits ein dem Roman vorangestelltes Motto aus Graciáns "Handorakel". Denn das "Glück wird müde, einen lange auf den Schultern zu tragen". Vielleicht hätte Van Gelderen, dieser kleinkriminelle Schelm, Dostojewskis "Spieler" oder "Schuld und Sühne" neben Kafkas "Prozess" lieber vor als in der Haft lesen sollen, um nicht gleich töricht sein Verbrechen zu gestehen. Der unerhebliche Geldraub an einer Kinokasse und in einem Späti wäre schwerlich nachweisbar gewesen und auch nicht so schwer bestraft worden. Leider war noch eine Waffe im Spiel, ein ziemlich kleines Messer, dummerweise mit Springmechanismus. Das kostet dann zweieinhalb Jahre und verschafft Zeit zum Nachdenken.
Diesem Nachdenken eine innere Stimme zu geben ist Peltzers Stärke. Das prekäre Leben Van Gelderens im Berlin seit den späten Achtzigerjahren wäre noch kein zwingender Erzählanlass, zumal der Autor das anhand von analogen Fällen mit vorangehenden Büchern wie "Teil der Lösung" (2007), "Das bessere Leben" (2015) oder "Das bist du" (2021) bereits geleistet hat. In diesem Sinne folgt "Der Ernst des Lebens" fast einem peltzerschen Serienprinzip von Berlin-Romanen, die allmählich eine vollständige Sozialtypologie von Ich-Erfindern in der poststudentischen Kulturstadtszene entwickeln.
Wichtiger als die atmosphärisch dichten und soziologisch treffsicheren Erschließungen von Bezirken wie Schöneberg, Charlottenburg, Mitte und Friedrichshain, in denen auch Van Gelderen sich ständig herumtreibt, ist die literarische Perspektive - zugleich Peltzers Markenzeichen. Bei ihm spricht, laut oder leise, eben nur einer. Andere kommen - gefiltert durch den diskontinuierlichen Erinnerungsstrom - nur durch indirekte oder zitierte Rede zu Wort.
Aus dieser Sicht fällt ein durchaus anderes Licht auf die Finanzgesellschaft "Merkur-Invest" als von außen. Dort heuert Van Gelderen nach dem Knast und nach einem kleinen Job beim "Fußball-Echo" an. Sein neuer Chef ist ein undurchsichtiger Georgier namens Guram Kobiashvili, kurz Koba genannt, der auch jenseits des Finanzmarktes dunklen Geschäften nachgeht. Vor allem handelt Koba aber mit Finanzprodukten für eine aus "absoluten High Performern" bestehende Kundschaft. Dieses Geschäft hat viel mit Psychologie und Umgangsformen zu tun. Schließlich gilt es, einen der bekanntesten Fernsehmoderatoren für Werbeclips zu gewinnen und sich im zweiten Schritt Zugang zu wirklich reichen Häusern zu verschaffen. Denn solche Menschen werden nicht gleich nervös, wenn mal eine fünfstellige Kleinigkeit abzuschreiben ist.
Wie das innere Räderwerk der Anlagemaschinerie zu regieren und zu vermitteln ist, begreift man durch eine verborgen visionierende Stimme viel eher als aus der Außenperspektive. Zolas Börsenroman "L'argent" (1891) hat es vorgemacht. So dringen wir mit dem Autodidakten Van Gelderen in diese fremde Welt ein, lernen Unterschiede zwischen einem offenen und einem geschlossenen Fonds kennen, hören Begriffe wie Underlying oder Bond-Stripping, ahnen etwas von der "Relativitätstheorie der Schuldverschreibungen". Vor allem tauchen wir aber in die raffinierten Selbstrechtfertigungsstrukturen derer ein, die Gewinne in Aussicht stellen, ohne sie je versprechen zu können.
Die unfassbare Naivität der solventen Kundschaft, die sich nie über im Kleingedruckten festgehaltene Risiken informiert, muss verwundern. Der permanenten Hochstaplerrede Van Gelderens, der sich selbst als Ehrenmann und braver Steuerzahler sieht, kann man sich kaum entziehen. Wenn die Leute zu gutgläubig oder dumm zur Vorsicht sind, tragen sie eben selbst die Schuld. Schon ist man mittendrin im Peltzer-Sound, der wieder einmal in Bann schlägt. Einige Kürzungen hätten die starke Wirkung indes nicht geschmälert. ALEXANDER KOSENINA
Ulrich Peltzer: "Der Ernst des Lebens". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024.
301 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrich Peltzers neuer Berlin-Roman "Der Ernst des Lebens"
führt in die Existenz eines Investment-Beraters ein.
Dabei führt das Buch zugleich die ganze Branche vor.
So unentschieden wie der Schluss ist das in Ulrich Peltzers neuem Roman dargestellte Leben. "Aber was ist schon ein guter Ausgang?", fragt sich die Hauptfigur Bruno van Gelderen, CFO einer zweifelhaften Investmentgesellschaft, nach dreihundert Seiten Lebensmonolog. Die Antwort bleibt aus, weil es keine gibt. Irgendwann wird man sehen, was mit dieser aus Zufällen, aus Auf- und Abbrüchen zusammengewürfelten Existenz weiter passiert.
Es geht um einen Mann ohne Eigenschaften, ohne Ziele und Ambitionen, einen Antihelden. Sein Geschäft basiert wie bei Immobilienmaklern, Versicherungshändlern oder Finanzberatern auf Vertrauen. Zu sehen ist bei solchen Leuten nur die Fassade aus geprägter Visitenkarte, einem gut sitzenden Anzug und Autos der gehobenen Klasse. Was der Mann abfällig über andere "Courtageknechte" sagt, gilt auch für ihn: Berufsvoraussetzungen sind wenig mehr als ein ordentlicher Haarschnitt und geputzte Schuhe. Am wichtigsten ist ein gut geschmiertes Mundwerk mit den jeweils passenden Geschichten - unaufdringlich, seriös, kompetent.
Bestes Startkapital für diesen Chief Financial Officer ist sein Name: Nicht alle wissen, dass ein niederländisches "van" nichts mit Adel zu tun hat, sondern auf einen Ort verweist. Der Anklang an Geld kann in der Finanzbranche zusätzlich nützen. Der Weg von einem Bauernhof nahe der holländischen Grenze in eine große Stadt ist aber mindestens so weit wie der Aufstieg vom spielsüchtigen, "Drogen schluckenden Spaßvogel" zu einem CFO. Bruno van Gelderen legt beide Langstrecken zurück. Gleich nach der Schule zieht er nach Berlin, taucht am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zwischen Marxisten, Feministinnen und Grünbewegten in die Studienwelt ein, um sie alsbald gegen Läden für Automatenspiele und Sportwetten zu vertauschen. Klar, dass vor jedem guten Lauf eine Line gezogen, eine Pille eingeworfen oder der Flachmann aufgefüllt wird.
Das kann natürlich nicht lange gut gehen. Nur die wenigstens erkennen die Notwendigkeit, auf dem Höhepunkt loszulassen, verkündet bereits ein dem Roman vorangestelltes Motto aus Graciáns "Handorakel". Denn das "Glück wird müde, einen lange auf den Schultern zu tragen". Vielleicht hätte Van Gelderen, dieser kleinkriminelle Schelm, Dostojewskis "Spieler" oder "Schuld und Sühne" neben Kafkas "Prozess" lieber vor als in der Haft lesen sollen, um nicht gleich töricht sein Verbrechen zu gestehen. Der unerhebliche Geldraub an einer Kinokasse und in einem Späti wäre schwerlich nachweisbar gewesen und auch nicht so schwer bestraft worden. Leider war noch eine Waffe im Spiel, ein ziemlich kleines Messer, dummerweise mit Springmechanismus. Das kostet dann zweieinhalb Jahre und verschafft Zeit zum Nachdenken.
Diesem Nachdenken eine innere Stimme zu geben ist Peltzers Stärke. Das prekäre Leben Van Gelderens im Berlin seit den späten Achtzigerjahren wäre noch kein zwingender Erzählanlass, zumal der Autor das anhand von analogen Fällen mit vorangehenden Büchern wie "Teil der Lösung" (2007), "Das bessere Leben" (2015) oder "Das bist du" (2021) bereits geleistet hat. In diesem Sinne folgt "Der Ernst des Lebens" fast einem peltzerschen Serienprinzip von Berlin-Romanen, die allmählich eine vollständige Sozialtypologie von Ich-Erfindern in der poststudentischen Kulturstadtszene entwickeln.
Wichtiger als die atmosphärisch dichten und soziologisch treffsicheren Erschließungen von Bezirken wie Schöneberg, Charlottenburg, Mitte und Friedrichshain, in denen auch Van Gelderen sich ständig herumtreibt, ist die literarische Perspektive - zugleich Peltzers Markenzeichen. Bei ihm spricht, laut oder leise, eben nur einer. Andere kommen - gefiltert durch den diskontinuierlichen Erinnerungsstrom - nur durch indirekte oder zitierte Rede zu Wort.
Aus dieser Sicht fällt ein durchaus anderes Licht auf die Finanzgesellschaft "Merkur-Invest" als von außen. Dort heuert Van Gelderen nach dem Knast und nach einem kleinen Job beim "Fußball-Echo" an. Sein neuer Chef ist ein undurchsichtiger Georgier namens Guram Kobiashvili, kurz Koba genannt, der auch jenseits des Finanzmarktes dunklen Geschäften nachgeht. Vor allem handelt Koba aber mit Finanzprodukten für eine aus "absoluten High Performern" bestehende Kundschaft. Dieses Geschäft hat viel mit Psychologie und Umgangsformen zu tun. Schließlich gilt es, einen der bekanntesten Fernsehmoderatoren für Werbeclips zu gewinnen und sich im zweiten Schritt Zugang zu wirklich reichen Häusern zu verschaffen. Denn solche Menschen werden nicht gleich nervös, wenn mal eine fünfstellige Kleinigkeit abzuschreiben ist.
Wie das innere Räderwerk der Anlagemaschinerie zu regieren und zu vermitteln ist, begreift man durch eine verborgen visionierende Stimme viel eher als aus der Außenperspektive. Zolas Börsenroman "L'argent" (1891) hat es vorgemacht. So dringen wir mit dem Autodidakten Van Gelderen in diese fremde Welt ein, lernen Unterschiede zwischen einem offenen und einem geschlossenen Fonds kennen, hören Begriffe wie Underlying oder Bond-Stripping, ahnen etwas von der "Relativitätstheorie der Schuldverschreibungen". Vor allem tauchen wir aber in die raffinierten Selbstrechtfertigungsstrukturen derer ein, die Gewinne in Aussicht stellen, ohne sie je versprechen zu können.
Die unfassbare Naivität der solventen Kundschaft, die sich nie über im Kleingedruckten festgehaltene Risiken informiert, muss verwundern. Der permanenten Hochstaplerrede Van Gelderens, der sich selbst als Ehrenmann und braver Steuerzahler sieht, kann man sich kaum entziehen. Wenn die Leute zu gutgläubig oder dumm zur Vorsicht sind, tragen sie eben selbst die Schuld. Schon ist man mittendrin im Peltzer-Sound, der wieder einmal in Bann schlägt. Einige Kürzungen hätten die starke Wirkung indes nicht geschmälert. ALEXANDER KOSENINA
Ulrich Peltzer: "Der Ernst des Lebens". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024.
301 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ungeheuer, was auf diesen 300 Seiten alles mitschwingt, ohne dass der Roman überfrachtet wäre. Stefan Michalzik Frankfurter Rundschau 20240408