Die zwölfjährige Cristina kümmert sich um alles: Sie kocht, putzt, füttert die Hühner und Schweine und ist Elternersatz für ihre jüngeren Brüder. Die Geschwister leben in einem Dorf in Moldawien, während die Mutter in Italien fremde Kinder hüten muss und der Vater in Sibirien arbeitet. Dabei ist Cristina eigentlich in Cousin Lucian verliebt, träumt vom ersten Kuss und einer besseren Zukunft. "Das Warten ist wie ein kleines Tier, weder ein Haustier noch ein wildes Tier, mal brav und schläfrig, mal böse und entfesselt." Eine einprägsame Geschichte in starken Bildern, geschildert aus der Sicht von Kindern, die am Rande von Mitteleuropa alleine zurückbleiben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2015Acht Uhr, Zeit zum Weinen
Die Mutter arbeitet in Italien, der Vater schuftet in Russland, die zwölfjährige Cristina muss ihren Geschwistern die
Eltern ersetzen – Liliana Corobca erzählt vom harten Leben eines Mädchens in Moldawien
VON CATHRIN KAHLWEIT
Man muss wohl das eine oder andere über die kleine, verlorene, vergessene Republik Moldawien am Rande Europas wissen, um die traurige Größe, die kühne Verlorenheit des Romans von Liliana Corobca ermessen zu können. In Zeitungsberichten heißt das Land mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern und seinen 80 Prozent Arbeitslosen meist „Armenhaus Europas“. Aber was bedeutet das schon in Berlin, Brüssel oder Barcelona, da dieses Armenhaus doch so weit weg ist, eingeklemmt irgendwo zwischen der Ukraine und Rumänien, im Dauerstreit mit der abtrünnigen, pro-russischen Marionettenrepublik Transnistrien?
Offiziell strebt die Regierung den Anschluss an die EU an. Inoffiziell aber haben russische Oligarchen viel Macht; allein 2014 verschwanden moldawische Bankenkredite über eine Milliarde Dollar, die unter anderem an russische Unternehmer ausgereicht worden waren, erst in Offshorefirmen – und dann mitsamt der Kreditnehmer auf Nimmerwiedersehen.
Das geklaute Geld entspricht 12,5 Prozent des moldauischen Bruttosozialprodukts. „Ich verstehe gar nicht, wie man eine so große Summe in einem so großen Land stehlen kann“, sagte der verblüffte EU-Repräsentant in der Hauptstadt Chisinau. Man kann. Nun gibt es, wegen der irren Korruption und des politischen Chaos, auch in der Hauptstadt Chişinău einen Maidan, Hunderttausend nehmen bereits daran teil. Doch der wird von prorussischen Parteien unterstützt, die bei Neuwahlen auf den Sieg hoffen. Verstehe einer dieses Land. Trauriges, seltsames, fremdes Moldawien.
Fremd? Keineswegs. Seine Menschen sind längst in Europa angekommen. Die vier Millionen Einwohner sind pure Statistik. Mehr als eine Million Moldawier arbeiten im Westen: als Pflegerinnen, Putzfrauen, Kindermädchen. Die Männer, die nicht im Westen arbeiten, schuften in Russland, in Diamantenminen und Bergwerken. Der österreichische Filmemacher Ed Moschitz hat das in seinem vielfach ausgezeichneten Film „Mama Illegal“ so zusammengefasst: „Illegale Arbeitsmigration zerstört Familien. Wir im Westen haben das mit initiiert. Es gibt den Bedarf an Babysittern, Leuten, die unsere Wohnung sauber halten. Wir sind Teil des Migrationsproblems.“
Die Erwachsenen, die fortgehen in den Westen, tun das, was Liliana Corobcas junge Heldin, die zwölfjährige Cristina, „langes Geld“ nennt. Zurück bleiben: die Kinder. Und die Alten. Corobca beschreibt in Prosa, was auch Moschitz in einer beklemmenden Szene seines Films dokumentiert: In einer Schulklasse soll jedes Kind berichten, wo seine Eltern sind. Eines nach dem anderen steht auf und sagt: Meine Mama ist in Italien, mein Papa in England. Das nächste: Meine Mama ist in Österreich, mein Papa in Moskau. Das dritte: Meine Mama ist in Belgien, mein Papa ist tot.
Ein „Kinderland“ also ist Moldawien, wie Corobcas Buch im Original hieß, aber fürwahr kein heiteres. Die Eltern sind fort, um eine Zukunft für sich und ihren Nachwuchs zu schaffen. Sie leben, überwiegend illegal, in der Fremde und kommen ein, vielleicht zwei Mal im Jahr heim. Festtage für die Zurückgebliebenen, die ansonsten von Großeltern großgezogen werden. Oder sich ganz allein versorgen. So wie Cristina, Dan und Marcel, drei kleine Kinder, die in einem moralischen Dilemma stecken. Nur wenn die demente Großmutter, die von einem Verwandten gepflegt wird, stirbt, kommen Mana und Papa vor der Zeit nach Hause, für ein paar Tage nur, aber immerhin. Darf man sich das wünschen?
Corobca, Jahrgang 1974, hatte schon mit ihrem Erstling, „Ein Jahr im Paradies“ von einer jungen Frau erzählt, die im Ausland Geld verdienen will und als Zwangsprostituierte endet. Nun widmet sich die Autorin, die in Rumänien lebt, einem Land, einem Dorf, einem Haus, in dem unendlich viel geweint wird. „Acht Uhr, Zeit zum Weinen“, stellt Cristina fest, doch nicht nur abends um acht wird geweint, wenn die drei allein ins Bett gehen und sich aus Angst vor Einbrechern oder Geistern in ihrem – von den Eltern unbeschützten – Haus mit Stöcken unter den Betten verbarrikadieren. Tränen fließen ständig, offen, heimlich. Im Schrank, wo sich die Kinder verstecken, um an den Kleidern der Eltern zu riechen, beim Spiel, wenn die drei gemeinsam Papa, Mama, Kind spielen und sich erinnern, wie normal, vertraut, sicher alles war, als die Familie noch komplett war. Lange ist das her.
Marcel, der Jüngste, weint natürlich am meisten; Cristina, die den Haushalt macht, zu kochen versucht, die kleinen Geschwister erzieht, und nur selten zwischendurch auch einmal spielt oder ihren ersten Flirt erlebt – sie darf nicht weinen. Sie ist ja groß, muss Mutterersatz sein. Und ist doch selbst noch ein Mädchen, das auf seine erste Periode wartet; die Mama hatte beim letzten Besuch Binden mitgebracht aus Italien, wo sie als Kinderfrau anderen Kindern vorliest, anderer Kinder Wäsche wäscht. Und vielleicht einem anderen Mädchen erklärt, wie das mit der Periode und dem Erwachsenwerden und dem ersten Freund geht.
Cristina muss all das mit sich selbst ausmachen. Einmal in der Woche wird mit der Mama in Italien telefoniert, der Papa, der in Russland in einer Giftfabrik arbeitet und dabei seine Zähne verliert, wird vor allem vermisst, wenn es um Schutz und Stärke geht, darum, die unverschämten Nachbarn zu vertreiben, die den Sand aus dem Vorgarten und das Obst von den Bäumen klauen. Cristina erzählt alles das in einem gespenstisch verständnisvollen, einsichtigen Ton: Klar doch, sie muss ja, sie muss funktionieren, muss verstehen, erklären, darf nicht aufgeben, nicht vor den kleinen Geschwistern zumindest.
Sehnsucht und Verzweiflung werden rationalisiert. Immer wieder kommen Kinder in ihr Haus, die geschlagen werden von besoffenen Vätern, deren Frauen auch fort sind, dann sagt die große Schwester zum kleinen Bruder, zu Marcel: „Siehst du, Dummerchen, was ein Vater tut? Ein Vater fehlt dir, damit du mit eingeschlagenem Kopf herumlaufen kannst, Blut in der Nase, hungrig und verdroschen, und dich bei den Nachbarn verstecken musst?“
Der Roman, der eine fiktive Familie darstellt und doch unerträglich realistisch ist, spielt in einem Dorf, das zugleich ein kollabierender sozialer Kosmos ist. Wo nur noch Kinder und Greise, Alkoholiker und Gestrandete leben, wo gestohlen wird und gelogen, wo die Statik von Generation und Verantwortung nicht mehr funktioniert, muss Elend Verantwortung ersetzen. Die angelernten Regeln von Anstand und Moral, die Cristina als Erzieherin und Elternersatz weiterzutragen versucht, kollidieren mit dem Alltag einer Gesellschaft, die ihr Fundament verloren hat. Die Eltern von Cristina, Dan und Marcel sind fortgegangen, um ihre Kinder zu retten, um Geld für Haus und Brot, Bildung und ein besseres Leben zu verdienen. Doch den Preis zahlen alle: die Einsamen in der Ferne und die Einsamen daheim.
Cristina rettet sich in Tagträume, sie erinnert sich an eine Wanderung mit dem Vater, als sie zum ersten Mal ihren „ersten Horizont“ sah, nach dem das Buch in der deutschen Übersetzung benannt ist. Und sie rettet sich in kindlich-mystische Rituale, die die Eltern zurückbringen sollen. Das beschert diesem großartigen, bedrückenden Buch eine zweite, poetische Ebene. Cristina wird wohl auch fortgehen, eines Tages. Ob der Horizont, den sie dann sehen wird, ihr ein neues Glücksgefühl bringt? „Wenn du ihn nicht sehen willst, wenn du ihn nicht suchst und nicht von ihm träumst, ist der Horizont ein Wegrand und nicht mehr.“
Liliana Corobca: Der erste Horizont meines Lebens. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 192 Seiten, 18,90 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
Die Erwachsenen verdienen
im Westen, zurück bleiben die
Kinder und die Alten
Cristina rettet sich in
Tagträume und in ihre
kindlichen Rituale
Moldawien ist das Armenhaus Europas. Gegenwärtig protestieren Hunderttausende in der Hauptstadt Chişinău gegen Korruption und Chaos.
Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Mutter arbeitet in Italien, der Vater schuftet in Russland, die zwölfjährige Cristina muss ihren Geschwistern die
Eltern ersetzen – Liliana Corobca erzählt vom harten Leben eines Mädchens in Moldawien
VON CATHRIN KAHLWEIT
Man muss wohl das eine oder andere über die kleine, verlorene, vergessene Republik Moldawien am Rande Europas wissen, um die traurige Größe, die kühne Verlorenheit des Romans von Liliana Corobca ermessen zu können. In Zeitungsberichten heißt das Land mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern und seinen 80 Prozent Arbeitslosen meist „Armenhaus Europas“. Aber was bedeutet das schon in Berlin, Brüssel oder Barcelona, da dieses Armenhaus doch so weit weg ist, eingeklemmt irgendwo zwischen der Ukraine und Rumänien, im Dauerstreit mit der abtrünnigen, pro-russischen Marionettenrepublik Transnistrien?
Offiziell strebt die Regierung den Anschluss an die EU an. Inoffiziell aber haben russische Oligarchen viel Macht; allein 2014 verschwanden moldawische Bankenkredite über eine Milliarde Dollar, die unter anderem an russische Unternehmer ausgereicht worden waren, erst in Offshorefirmen – und dann mitsamt der Kreditnehmer auf Nimmerwiedersehen.
Das geklaute Geld entspricht 12,5 Prozent des moldauischen Bruttosozialprodukts. „Ich verstehe gar nicht, wie man eine so große Summe in einem so großen Land stehlen kann“, sagte der verblüffte EU-Repräsentant in der Hauptstadt Chisinau. Man kann. Nun gibt es, wegen der irren Korruption und des politischen Chaos, auch in der Hauptstadt Chişinău einen Maidan, Hunderttausend nehmen bereits daran teil. Doch der wird von prorussischen Parteien unterstützt, die bei Neuwahlen auf den Sieg hoffen. Verstehe einer dieses Land. Trauriges, seltsames, fremdes Moldawien.
Fremd? Keineswegs. Seine Menschen sind längst in Europa angekommen. Die vier Millionen Einwohner sind pure Statistik. Mehr als eine Million Moldawier arbeiten im Westen: als Pflegerinnen, Putzfrauen, Kindermädchen. Die Männer, die nicht im Westen arbeiten, schuften in Russland, in Diamantenminen und Bergwerken. Der österreichische Filmemacher Ed Moschitz hat das in seinem vielfach ausgezeichneten Film „Mama Illegal“ so zusammengefasst: „Illegale Arbeitsmigration zerstört Familien. Wir im Westen haben das mit initiiert. Es gibt den Bedarf an Babysittern, Leuten, die unsere Wohnung sauber halten. Wir sind Teil des Migrationsproblems.“
Die Erwachsenen, die fortgehen in den Westen, tun das, was Liliana Corobcas junge Heldin, die zwölfjährige Cristina, „langes Geld“ nennt. Zurück bleiben: die Kinder. Und die Alten. Corobca beschreibt in Prosa, was auch Moschitz in einer beklemmenden Szene seines Films dokumentiert: In einer Schulklasse soll jedes Kind berichten, wo seine Eltern sind. Eines nach dem anderen steht auf und sagt: Meine Mama ist in Italien, mein Papa in England. Das nächste: Meine Mama ist in Österreich, mein Papa in Moskau. Das dritte: Meine Mama ist in Belgien, mein Papa ist tot.
Ein „Kinderland“ also ist Moldawien, wie Corobcas Buch im Original hieß, aber fürwahr kein heiteres. Die Eltern sind fort, um eine Zukunft für sich und ihren Nachwuchs zu schaffen. Sie leben, überwiegend illegal, in der Fremde und kommen ein, vielleicht zwei Mal im Jahr heim. Festtage für die Zurückgebliebenen, die ansonsten von Großeltern großgezogen werden. Oder sich ganz allein versorgen. So wie Cristina, Dan und Marcel, drei kleine Kinder, die in einem moralischen Dilemma stecken. Nur wenn die demente Großmutter, die von einem Verwandten gepflegt wird, stirbt, kommen Mana und Papa vor der Zeit nach Hause, für ein paar Tage nur, aber immerhin. Darf man sich das wünschen?
Corobca, Jahrgang 1974, hatte schon mit ihrem Erstling, „Ein Jahr im Paradies“ von einer jungen Frau erzählt, die im Ausland Geld verdienen will und als Zwangsprostituierte endet. Nun widmet sich die Autorin, die in Rumänien lebt, einem Land, einem Dorf, einem Haus, in dem unendlich viel geweint wird. „Acht Uhr, Zeit zum Weinen“, stellt Cristina fest, doch nicht nur abends um acht wird geweint, wenn die drei allein ins Bett gehen und sich aus Angst vor Einbrechern oder Geistern in ihrem – von den Eltern unbeschützten – Haus mit Stöcken unter den Betten verbarrikadieren. Tränen fließen ständig, offen, heimlich. Im Schrank, wo sich die Kinder verstecken, um an den Kleidern der Eltern zu riechen, beim Spiel, wenn die drei gemeinsam Papa, Mama, Kind spielen und sich erinnern, wie normal, vertraut, sicher alles war, als die Familie noch komplett war. Lange ist das her.
Marcel, der Jüngste, weint natürlich am meisten; Cristina, die den Haushalt macht, zu kochen versucht, die kleinen Geschwister erzieht, und nur selten zwischendurch auch einmal spielt oder ihren ersten Flirt erlebt – sie darf nicht weinen. Sie ist ja groß, muss Mutterersatz sein. Und ist doch selbst noch ein Mädchen, das auf seine erste Periode wartet; die Mama hatte beim letzten Besuch Binden mitgebracht aus Italien, wo sie als Kinderfrau anderen Kindern vorliest, anderer Kinder Wäsche wäscht. Und vielleicht einem anderen Mädchen erklärt, wie das mit der Periode und dem Erwachsenwerden und dem ersten Freund geht.
Cristina muss all das mit sich selbst ausmachen. Einmal in der Woche wird mit der Mama in Italien telefoniert, der Papa, der in Russland in einer Giftfabrik arbeitet und dabei seine Zähne verliert, wird vor allem vermisst, wenn es um Schutz und Stärke geht, darum, die unverschämten Nachbarn zu vertreiben, die den Sand aus dem Vorgarten und das Obst von den Bäumen klauen. Cristina erzählt alles das in einem gespenstisch verständnisvollen, einsichtigen Ton: Klar doch, sie muss ja, sie muss funktionieren, muss verstehen, erklären, darf nicht aufgeben, nicht vor den kleinen Geschwistern zumindest.
Sehnsucht und Verzweiflung werden rationalisiert. Immer wieder kommen Kinder in ihr Haus, die geschlagen werden von besoffenen Vätern, deren Frauen auch fort sind, dann sagt die große Schwester zum kleinen Bruder, zu Marcel: „Siehst du, Dummerchen, was ein Vater tut? Ein Vater fehlt dir, damit du mit eingeschlagenem Kopf herumlaufen kannst, Blut in der Nase, hungrig und verdroschen, und dich bei den Nachbarn verstecken musst?“
Der Roman, der eine fiktive Familie darstellt und doch unerträglich realistisch ist, spielt in einem Dorf, das zugleich ein kollabierender sozialer Kosmos ist. Wo nur noch Kinder und Greise, Alkoholiker und Gestrandete leben, wo gestohlen wird und gelogen, wo die Statik von Generation und Verantwortung nicht mehr funktioniert, muss Elend Verantwortung ersetzen. Die angelernten Regeln von Anstand und Moral, die Cristina als Erzieherin und Elternersatz weiterzutragen versucht, kollidieren mit dem Alltag einer Gesellschaft, die ihr Fundament verloren hat. Die Eltern von Cristina, Dan und Marcel sind fortgegangen, um ihre Kinder zu retten, um Geld für Haus und Brot, Bildung und ein besseres Leben zu verdienen. Doch den Preis zahlen alle: die Einsamen in der Ferne und die Einsamen daheim.
Cristina rettet sich in Tagträume, sie erinnert sich an eine Wanderung mit dem Vater, als sie zum ersten Mal ihren „ersten Horizont“ sah, nach dem das Buch in der deutschen Übersetzung benannt ist. Und sie rettet sich in kindlich-mystische Rituale, die die Eltern zurückbringen sollen. Das beschert diesem großartigen, bedrückenden Buch eine zweite, poetische Ebene. Cristina wird wohl auch fortgehen, eines Tages. Ob der Horizont, den sie dann sehen wird, ihr ein neues Glücksgefühl bringt? „Wenn du ihn nicht sehen willst, wenn du ihn nicht suchst und nicht von ihm träumst, ist der Horizont ein Wegrand und nicht mehr.“
Liliana Corobca: Der erste Horizont meines Lebens. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 192 Seiten, 18,90 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
Die Erwachsenen verdienen
im Westen, zurück bleiben die
Kinder und die Alten
Cristina rettet sich in
Tagträume und in ihre
kindlichen Rituale
Moldawien ist das Armenhaus Europas. Gegenwärtig protestieren Hunderttausende in der Hauptstadt Chişinău gegen Korruption und Chaos.
Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Berking weiß um die reale Existenz der sogenannten Sozialwaisen in Moldawien, über die Liliana Corobca in ihrem Roman schreibt. Die traurige Geschichte eines von der Not zusammengeschweißten Geschwisterkollektivs liest sie daher mit Beklemmung. Wie die Kinder in Corobcas Text sich mit der Abwesenheit der Eltern, die irgendwo im reichen Teil Europas Geld verdienen, und mit Armut und Gewalt arrangieren, zerreißt Berking das Herz. Als Update der lustigen Pippi Langstrumpf, die sich in eine mythische Welt flüchtet, vermag sie die kleine Heldin im Buch daher nur teilweise zu sehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Zwölfjährige sind manchmal sehr große Menschen
Kinderland ist abgebrannt: Liliana Corobca erzählt von Sozialwaisen in Moldawien, die viel zu früh erwachsen werden müssen.
Von Sabine Berking
Abends um acht wird geweint, kollektiv und geschwisterlich, denn man kann schließlich nicht den ganzen Tag heulen, selbst wenn einem danach zumute ist. Cristina hat anderes zu tun. Sie kocht das Essen, macht die Wäsche, putzt. Und nebenbei geht sie zur Schule, gern sogar, denn hier kann sie endlich Kind sein. Cristina ist zwölf, und in Moldau ist das ein Alter, in dem man schon ein "sehr großer Mensch" ist. Ihre Eltern arbeiten im Ausland, die Mutter hütet in Italien die Kinder anderer Leute, der Vater schuftet in einer russischen Mine. Im Dorf gibt es, wie im ganzen Land, kaum Arbeit, mit der die Eltern die fünfköpfige Familie ernähren und den Kindern eine Perspektive außerhalb des Dorfes bieten könnten. Deshalb schlägt sich Cristina eher schlecht als recht mit ihren sechs und drei Jahre alten Brüdern durch, versucht, ihnen Mutter und Vater zugleich zu sein. Am Wochenende schlüpfen die drei Geschwister in die Kleider der Eltern, riechen erinnerungstrunken an den Stoffen und spielen Familie, eine herzzerreißende, traurige Angelegenheit. Nachts verbarrikadieren sie sich mit Stöcken und Messern unter den Betten, aus Angst vor Geistern und Dieben, denn in dieser brutalen, aus allen ökonomischen und moralischen Fugen geratenen Dorfgemeinschaft stiften die verbliebenen, meist alkoholkranken Eltern ihre Kinder nicht selten an, bei denen zu stehlen, die scheinbar mehr haben als sie. Manchmal kommen von ihren Vätern blutig geschlagene Kinder zu ihr, und Cristina, die kleine Erwachsene, versorgt ihre Wunden.
Im rumänischen Original trägt dieser erschütternde zweite Roman von Liliana Corobca den Titel "Kinderland", ein Name, den die Kinder mit den lustigen Überraschungseiern verbinden, mitgebracht aus einer fernen Welt von ihren Eltern, wenn diese einmal im Jahr für ein paar Tage nach Hause kommen. Bereits in ihrem Romandebüt "Ein Jahr im Paradies" (dt. 2011) hatte die 1975 in Moldau geborene und heute in der rumänischen Hauptstadt Bukarest lebende Autorin die prekäre und nicht selten gefährliche Massenauswanderung ihrer Landsleute nach Europa thematisiert, damals am Beispiel des perfiden Menschenhandels zum Zwecke der Zwangsprostitution.
Die kleine und doch so große Heldin ihres neuen Romans mutet zuweilen wie eine in der bitteren Wirklichkeit eines zusammenwachsenden und doch immer weiter auseinanderdriftenden Kontinents angekommene Pippi Langstrumpf an. Die antiautoritären Phantasien einer Wohlstandsgesellschaft aus dem letzten Jahrhundert mutierten in den vergangenen Jahren zu einem sehr realen Albtraum in den Armenhäusern am Rande Europas. Cristina ist eine von geschätzten vierzigtausend sogenannten Sozialwaisen in Moldau, die allein oder bei hoffnungslos überforderten Großeltern aufwachsen. Sie tun es in einem Land, in dem jeder vierte Einwohner und nahezu jeder zweite im erwerbsfähigen Alter, nicht selten illegal, im Ausland arbeitet, und dessen korrupte Politiker ihrem Volk gerade eine Milliarde Dollar über Offshore-Banken aus der Tasche gezogen haben.
Cristina weiß um all diese Dinge wenig und misst Reichtum auf ihre Weise. Wenn sie einmal frei ist von ihren Erwachsenenpflichten, wenn sie die Tiere auf dem Hof gefüttert, den kleinsten Bruder, der viel weint, getröstet und den größeren ermahnt hat, wenn sie selbst tapfer und ohne zu weinen mit der Mama telefoniert hat, flüchtet sie sich in Erinnerungen und in eine von der Natur des grünen, hügeligen Landes gespeiste mythische Welt, in der sie ihren ersten Horizont entdeckte. Dieses leise, konsequent aus der Perspektive der Heranwachsenden erzählte Buch wurde von Ernest Wichner, wie schon so viele andere aus dem Rumänischen, auch diesmal einfühlsam ins Deutsche gebracht.
Eines liegt dem Mädchen besonders schwer auf der Seele. Sie und ihre Brüder wünschen sich nichts so sehr, als dass die Eltern zurückkommen, wenigstens auf einen kurzen Besuch, und wissen doch, dies könnte vor der Zeit nur dann geschehen, wenn die kranke, demente Großmutter, die in einem anderen Haus vor sich hindämmert, stirbt. Darf man sich das wünschen?
Liliana Corobca: "Der erste Horizont meines Lebens". Roman.
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2015. 190 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kinderland ist abgebrannt: Liliana Corobca erzählt von Sozialwaisen in Moldawien, die viel zu früh erwachsen werden müssen.
Von Sabine Berking
Abends um acht wird geweint, kollektiv und geschwisterlich, denn man kann schließlich nicht den ganzen Tag heulen, selbst wenn einem danach zumute ist. Cristina hat anderes zu tun. Sie kocht das Essen, macht die Wäsche, putzt. Und nebenbei geht sie zur Schule, gern sogar, denn hier kann sie endlich Kind sein. Cristina ist zwölf, und in Moldau ist das ein Alter, in dem man schon ein "sehr großer Mensch" ist. Ihre Eltern arbeiten im Ausland, die Mutter hütet in Italien die Kinder anderer Leute, der Vater schuftet in einer russischen Mine. Im Dorf gibt es, wie im ganzen Land, kaum Arbeit, mit der die Eltern die fünfköpfige Familie ernähren und den Kindern eine Perspektive außerhalb des Dorfes bieten könnten. Deshalb schlägt sich Cristina eher schlecht als recht mit ihren sechs und drei Jahre alten Brüdern durch, versucht, ihnen Mutter und Vater zugleich zu sein. Am Wochenende schlüpfen die drei Geschwister in die Kleider der Eltern, riechen erinnerungstrunken an den Stoffen und spielen Familie, eine herzzerreißende, traurige Angelegenheit. Nachts verbarrikadieren sie sich mit Stöcken und Messern unter den Betten, aus Angst vor Geistern und Dieben, denn in dieser brutalen, aus allen ökonomischen und moralischen Fugen geratenen Dorfgemeinschaft stiften die verbliebenen, meist alkoholkranken Eltern ihre Kinder nicht selten an, bei denen zu stehlen, die scheinbar mehr haben als sie. Manchmal kommen von ihren Vätern blutig geschlagene Kinder zu ihr, und Cristina, die kleine Erwachsene, versorgt ihre Wunden.
Im rumänischen Original trägt dieser erschütternde zweite Roman von Liliana Corobca den Titel "Kinderland", ein Name, den die Kinder mit den lustigen Überraschungseiern verbinden, mitgebracht aus einer fernen Welt von ihren Eltern, wenn diese einmal im Jahr für ein paar Tage nach Hause kommen. Bereits in ihrem Romandebüt "Ein Jahr im Paradies" (dt. 2011) hatte die 1975 in Moldau geborene und heute in der rumänischen Hauptstadt Bukarest lebende Autorin die prekäre und nicht selten gefährliche Massenauswanderung ihrer Landsleute nach Europa thematisiert, damals am Beispiel des perfiden Menschenhandels zum Zwecke der Zwangsprostitution.
Die kleine und doch so große Heldin ihres neuen Romans mutet zuweilen wie eine in der bitteren Wirklichkeit eines zusammenwachsenden und doch immer weiter auseinanderdriftenden Kontinents angekommene Pippi Langstrumpf an. Die antiautoritären Phantasien einer Wohlstandsgesellschaft aus dem letzten Jahrhundert mutierten in den vergangenen Jahren zu einem sehr realen Albtraum in den Armenhäusern am Rande Europas. Cristina ist eine von geschätzten vierzigtausend sogenannten Sozialwaisen in Moldau, die allein oder bei hoffnungslos überforderten Großeltern aufwachsen. Sie tun es in einem Land, in dem jeder vierte Einwohner und nahezu jeder zweite im erwerbsfähigen Alter, nicht selten illegal, im Ausland arbeitet, und dessen korrupte Politiker ihrem Volk gerade eine Milliarde Dollar über Offshore-Banken aus der Tasche gezogen haben.
Cristina weiß um all diese Dinge wenig und misst Reichtum auf ihre Weise. Wenn sie einmal frei ist von ihren Erwachsenenpflichten, wenn sie die Tiere auf dem Hof gefüttert, den kleinsten Bruder, der viel weint, getröstet und den größeren ermahnt hat, wenn sie selbst tapfer und ohne zu weinen mit der Mama telefoniert hat, flüchtet sie sich in Erinnerungen und in eine von der Natur des grünen, hügeligen Landes gespeiste mythische Welt, in der sie ihren ersten Horizont entdeckte. Dieses leise, konsequent aus der Perspektive der Heranwachsenden erzählte Buch wurde von Ernest Wichner, wie schon so viele andere aus dem Rumänischen, auch diesmal einfühlsam ins Deutsche gebracht.
Eines liegt dem Mädchen besonders schwer auf der Seele. Sie und ihre Brüder wünschen sich nichts so sehr, als dass die Eltern zurückkommen, wenigstens auf einen kurzen Besuch, und wissen doch, dies könnte vor der Zeit nur dann geschehen, wenn die kranke, demente Großmutter, die in einem anderen Haus vor sich hindämmert, stirbt. Darf man sich das wünschen?
Liliana Corobca: "Der erste Horizont meines Lebens". Roman.
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2015. 190 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Erschütternd schön. Es ist ein berührendes Zeugnis der Selbstbehauptung. Cristina ist eine moldawische Pippi Langstrumpf. In ihrer Welt allerdings macht das Alleinsein keinen Spaß." Carsten Hueck, Deutschlandradio Kultur, 14.11.15
"Corobcas Roman berichtet nicht nur mit Zärtlichkeit und Witz vom Schmerz und von der Geduld verlassener Kinder, er zeichnet mit hellwachem Realismus auch den wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zerfall des bäuerlichen Milieus nach." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 29.09.15
"Liliana Corobca hat nicht nur eine beeindruckende Heldin erschaffen, sondern auch ein ebenso bewegendes wie anrührendes Zeitdokument. Ein Zeitdokument über das Leben von Kindern im heutigen Europa, das im Herzen des Lesers Unruhe stiftet und viele Fragen aufwirft." Mirko Schwanitz, Kulturradio RBB, 23.08.15
"Liliana Corobca gelingt es mit ihrem beharrlichen Blick aufs Detail, der fast schon an die emotionale Schmerzgrenze reicht, die kosmische Einsamkeit dieser Kinder in Worte zu fassen." Dirk Schümer, Die Welt, 22.08.15
"Der Ton der Erzählerin, halb naiv und halb altklug, halb erschüttert und halb ungerührt hart, ist genau der, den man einer zu früh reifen Zwölfjährigen zutraut. ... Dazu passt der alltäglich-trockene Realismus Corobcas, dessen Höhepunkt die anschaulichen Bilder sind." Hans-Peter Kunisch, Zeit Online, 30.09.15
"In emotionaler und kunstvoller Sprache erzählt Corobca ergreifend vom Kinderalltag in einer kaputten Erwachsenenwelt, von Empörung, Sehnsucht, Zärtlichkeit und Wut." Carsten Hueck, WDR5, 24.10.15
"Ein unsentimentales, aber zärtliches, wunderbares Buch aus unserer europäischen Nachbarschaft."
Cornelia Zetzsche, BR Diwan, 09.01.16
"Corobcas Roman berichtet nicht nur mit Zärtlichkeit und Witz vom Schmerz und von der Geduld verlassener Kinder, er zeichnet mit hellwachem Realismus auch den wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zerfall des bäuerlichen Milieus nach." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 29.09.15
"Liliana Corobca hat nicht nur eine beeindruckende Heldin erschaffen, sondern auch ein ebenso bewegendes wie anrührendes Zeitdokument. Ein Zeitdokument über das Leben von Kindern im heutigen Europa, das im Herzen des Lesers Unruhe stiftet und viele Fragen aufwirft." Mirko Schwanitz, Kulturradio RBB, 23.08.15
"Liliana Corobca gelingt es mit ihrem beharrlichen Blick aufs Detail, der fast schon an die emotionale Schmerzgrenze reicht, die kosmische Einsamkeit dieser Kinder in Worte zu fassen." Dirk Schümer, Die Welt, 22.08.15
"Der Ton der Erzählerin, halb naiv und halb altklug, halb erschüttert und halb ungerührt hart, ist genau der, den man einer zu früh reifen Zwölfjährigen zutraut. ... Dazu passt der alltäglich-trockene Realismus Corobcas, dessen Höhepunkt die anschaulichen Bilder sind." Hans-Peter Kunisch, Zeit Online, 30.09.15
"In emotionaler und kunstvoller Sprache erzählt Corobca ergreifend vom Kinderalltag in einer kaputten Erwachsenenwelt, von Empörung, Sehnsucht, Zärtlichkeit und Wut." Carsten Hueck, WDR5, 24.10.15
"Ein unsentimentales, aber zärtliches, wunderbares Buch aus unserer europäischen Nachbarschaft."
Cornelia Zetzsche, BR Diwan, 09.01.16