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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.1995

Der erste Fremde
Albert Camus' algerische Kindheit · Von Jürg Altwegg

Sie schäkerten mit den Frauen im Fond und scherzten über den Tod. Albert Camus hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Sein Verleger und Freund Michel Gallimard saß am Steuer. Zusammen hatte man die Weihnachtstage an der Côte d'Azur verbracht. Auf der Heimfahrt nach Paris - achthundert Kilometer, verteilt auf zwei Tage, noch gab es keine Autobahn - sprach Gallimard von einer Lebensversicherung, die er abschließen wolle, und dem großzügigen Testament, das er zugunsten seiner Gattin aufgesetzt hatte. Camus empörte sich über Erben, die von den Autorenrechten eines Dichters leben.

Er stand im Ruf, den Höhepunkt seiner literarischen Karriere überschritten zu haben. Drei Jahre zuvor war ihm in Stockholm der Nobelpreis verliehen worden. Camus bekam ihn als "unversöhnlicher Gegner des Totalitarismus, der seinen eigenen Nihilismus überwunden hatte". Die Kritik an der Jury war zumindest ebenso politisch motiviert wie ihre (literarisch durchaus gerechtfertigte) Entscheidung. Von linken und rechtsextremen Kreisen wurde die Akademie angegriffen wegen ihrer Auszeichnung eines Schriftstellers, "der nicht mehr schreiben konnte". Über Monate litt Camus unter den Anfechtungen, die ihn, wie sein Biograph Herbert Lottmann berichtet, "krank machten". Gegenüber Freunden sprach er damals von einem Roman mit dem Titel "Der erste Mensch", den er bereits früher in seinen Aufzeichnungen erwähnt hatte. Das Manuskript wurde in der Mappe gefunden, die Albert Camus mit sich führte, als am 4. Januar 1960 Michel Gallimards Wagen bei geschätzten hundertfünfzig Stundenkilometern aus nie geklärten Gründen von der schnurgeraden Straße abkam und gegen einen Baum prallte. Jetzt erscheint "Der erste Mensch" als zweites großes postumes Werk des Dichters nach "Der glückliche Tod".

An seinem Anfang steht Albert Camus' eigene Geburt. Ein junges Paar ist aus Frankreich gekommen. Von Algier reist es in das kleine Dorf, in dessen Nähe der Mann die Verwaltung eines Hofes übernehmen soll. Der arabische Kutscher peitscht die Pferde durch die regnerische Novembernacht. Die Frau ist hochschwanger. Gleich nach der Ankunft, noch bevor der Arzt eintrifft, kommt das Kind zur Welt. Albert Camus nennt sich Jacques Cormery. Die biographischen Eckdaten und existentiellen Stationen seiner literarischen Figur entsprechen bis in Details der Vita des am 7. November 1913 geborenen Dichters, der hier seine algerische Kindheit erzählt. Von ihr war nur wenig bekannt und Cormery übrigens der Name seines Großvaters mütterlicherseits.

Der Sprung ins zweite Kapitel geht über vierzig Jahre und zurück nach Frankreich. Zunächst emotionslos steht Cormery vor einer Gedenkstätte für Kriegsopfer, deren Namensliste auch seinen Erzeuger aufführt. Was ihn "betraf, so konnte er sich keine Pietät aus den Fingern saugen" - Stil und Stimmung dieser Szene erinnern an seinen Roman "Der Fremde". Nur auf Drängen der Mutter hatte er das Grab seines Vaters, der 1914 im deutschen Kugelhagel an der Marne gefallen war, aufgesucht. Nichts wußte er von ihm, nicht einmal sein Geburtsjahr kannte er - als er mechanisch nachrechnet, stellt Jacques Cormery fest, daß er bereits neun Jahre älter ist, als der Vater (1885-1914) bei seinem Tod war: "Und die Welle von Zärtlichkeit und Mitleid, die auf einmal sein Herz überflutete, war nicht die Gemütsregung, die den Sohn bei der Erinnerung an den verstorbenen Vater überkommt, sondern das verstörte Mitgefühl, das ein erwachsener Mann für das ungerecht hingemordete Kind empfindet - etwas entsprach hier nicht der natürlichen Ordnung, und eigentlich herrschte hier, wo der Sohn älter war als der Vater, nicht Ordnung, sondern nur Irrsinn und Chaos."

Camus zeichnet ein romanhaftes, aber sichtlich um Authentizität bemühtes Porträt seines Vaters. Freunde und Gefährten, die ihn überlebten, geben dem Sohn Auskunft, der auf ergreifende Weise bestrebt ist, eine moralische, philosophische Genealogie zu seinem Vater zu konstruieren, der 1905 - als Zwanzigjähriger - mit der französischen Armee einen Aufstand in Marokko bekämpfte.

Levesque, ein Freund des Vaters, erzählt Cormery davon. In der Nacht hatten die beiden Soldaten einen verstümmelten Kameraden gefunden. Cormery regt sich schrecklich auf, Levesque versucht, ihn zu beschwichtigen: örtliche Sitten, lokale Tradition - es ist Krieg. "Vielleicht, aber sie haben unrecht. Ein Mensch macht so etwas nicht", habe Cormery erwidert: "Ein Mensch, der hält sich im Zaum. Genau das ist ein Mensch, oder sonst..." Und dann hatte er sich beruhigt. "Ich", hatte er gedämpft gesagt, "ich bin arm, ich komme aus dem Waisenhaus, man steckt mich in diese Kluft, man zerrt mich in den Krieg, aber ich halte mich im Zaum." - Und die Franzosen, die sich nicht im Zaum halten, sie "sind auch keine Menschen".

In diesen Szenen, die dem Humanismus der Analphabeten ein Denkmal setzen, steckt der Schlüssel zu Albert Camus' politischer Philosophie, die über alle Toleranz und Differenzen hinweg moralische Maßstäbe setzt. Sie wirkt in unserer Zeit nötiger denn je, erklärt aber auch, warum der Dichter die einseitige Algerienverklärung und den Antikolonialismus-Mythos seiner Generation nicht teilte.

Inzwischen hat ihm die Geschichte recht gegeben und alle jene widerlegt, die zumindest bis zur Unabhängigkeit 1962 von einem autonomen, sozialistischen Algerien schwärmten, auf das sie ihre ideologischen Heilsvorstellungen projizierten. Mit dem Aufkommen des Integrismus wird das Fiasko des progressiven Intellektuellen nur noch deutlicher - und seine Mitverantwortung für den "zweiten Algerien-Krieg" nicht geringer. Er hat in den vergangenen Jahren vierzigtausend Opfer gefordert, von der Öffentlichkeit hierzulande weitgehend ignoriert.

Wie gut Camus die Lage in der französischen Kolonie kannte und einzuschätzen wußte, beweist "Der erste Mensch" schon im ersten Kapitel. Hier entwirft er mit den auftretenden Personen (dem Franzosen, seinem arabischen Kutscher, einer Spanierin) ein genaues "ethnisches" Porträt der algerischen Gesellschaft jener Jahre. Der Familienroman dieser Figuren resümiert exakt - und mit wenig Aufwand - die Einwanderungsgeschichte des Landes. Der ganze kolonialistische Hintergrund mit seinen kulturellen, religiösen, sozialen Aspekten wie Konflikten wird in knappster, aber politisch und historisch äußerst differenzierter Form dargestellt - das ist große literarische Kunst. Der Mutter, der "Witwe Camus" ist "Der erste Mensch" gewidmet: "Dir, die Du dieses Buch nie wirst lesen können" (sie war Analphabetin). Jacques Cormery bezahlt den Aufstieg aus dem Elend seiner Herkunft mit einer sozialen und kulturellen Schizophrenie, unter der Albert Camus sein ganzes Leben zu leiden hatte, auf die aber auch seine Immunität gegenüber Ideologien zurückgeführt werden kann.

Nach seinem Tod hielten es seine Frau und alle Freunde für besser, auf eine Publikation des Romanfragments zu verzichten. Drei Jahrzehnte später hat sich die Tochter des Dichters, Cathérine Camus, die als Anwältin arbeitet, nach intensiver Beschäftigung mit dem Manuskript für eine Veröffentlichung entschieden. Im Frühjahr 1994 erschien "Le premier Homme" in Paris und löste eine unglaubliche Euphorie aus. In der ersten Woche wurden über fünfzigtausend Exemplare abgesetzt, monatelang führte das Buch die Bestsellerlisten an. "Die zweihundertfünfzig Seiten des "Premier Homme' und die fünfzig Seiten Anmerkungen sind absolut wesentlich und unverzichtbar", schwärmte "L'Evénement du Jeudi": "Wir werden eines Tages wohl wissen, warum sie so lange verborgen blieben. Der Grund wird zwangsläufig ein unbedeutender sein angesichts des Schadens, der angerichtet wurde: Alle Camus-Ausgaben sind unvollständig, alle Biographien müssen ergänzt und korrigiert werden, die ihm gewidmeten Studien - sie sind unzählbar - erweisen sich als lückenhaft bis falsch. Diese dreihundert Seiten beginnen mit seiner Geburt und führen bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr; es sind zudem die letzten, die er geschrieben hat - im Laufe des letzten Jahres seines Lebens. Camus' Alpha und Omega, der Ausgangspunkt und die Vollendung."

Gewiß - nur: Der Grund ist bekannt und der Schaden anderer Art. In literarischer Hinsicht erweist sich das "Fragment" zunächst einmal als sehr viel strukturierter und geschlossener, als man je erwartet hätte. Es ist hervorragend ediert, sehr diskret mit den für das Verständnis nötigen Anmerkungen (zum Beispiel bei wechselnden Namen für gleiche Personen) versehen worden und bietet zusätzlich Einblick in Camus' Schreiben: in die Art, wie er mit seinen Figuren umging und Szenen entwickelte ("hier einfügen, warum und wie"). Cathérine Camus, die als Erbin über die Autorenrechte verfügt, hat mit ihrer Arbeit, noch mehr aber mit ihrer ziemlich beispiellosen Zurückhaltung dem Vater einen immensen Dienst erwiesen. Für Albert Camus erscheint der Roman mit seinem humanistischen Testament zum bestmöglichen Zeitpunkt: In einer Epoche, die ihn politisch rehabilitiert hat, feiert sein Verfasser als Dichter ein überwältigendes postumes Comeback.

Doch um die Welt - zumindest um Algerien, um Frankreich und um die Intellektuellen beider Länder - wäre es vielleicht etwas weniger schlecht bestellt, wenn "Der erste Mensch" schon etwas früher seine Leser gefunden hätte.

Albert Camus: "Der erste Mensch". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Uli Aumüller. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995. 384 Seiten, geb., 42,- DM.

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Ein überwältigendes posthumes Comeback. FAZ.NET