Ein klassisches Kolleg über den großen Krieg der Jahre 1914-18, den Krieg, der die Weichen des 20. Jahrhunderts verhängnisvoll gestellt hat - Salewskis neues Buch, ursprünglich als Vorlesung konzipiert, stellt sich nachdenklich und differenziert den Fragen zu einer europäischen Katastrophe.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2004Feldherrnkunst und Schlächterhandwerk
Der Erste Weltkrieg entwickelte sich allmählich zu einem Massenmord auf Gegenseitigkeit
Sönke Neitzel: Blut und Eisen. Deutschland und der Erste Weltkrieg. Pendo Verlag, Zürich 2003. 272 Seiten, 9,90 [Euro].
Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003. 415 Seiten, 29,90 [Euro].
Das Interesse an der Geschichte des Ersten Weltkriegs hat sich in Deutschland während der letzten Jahre wieder spürbar intensiviert. Als Ergebnisse dieser neuen Tendenz der Historiographie liegen zwei Veröffentlichungen vor, deren Lektüre lohnt: Das ist zum einen die Publikation von Sönke Neitzel, die unter dem Titel "Blut und Eisen" die Entwicklung Deutschlands im Ersten Weltkrieg untersucht, und das ist zum anderen die Darstellung von Michael Salewski, die ein Gesamtpanorama des Ersten Weltkriegs entwirft.
Sönke Neitzels Studie beschäftigt sich bevorzugt - ohne darüber die politische oder wirtschaftliche Entwicklung zu vernachlässigen - mit dem militärischen Verlauf des "Großen Krieges". Angesichts des zur Debatte stehenden Untersuchungsgegenstands ist das eine mehr als plausible Vorgehensweise, die allerdings von der deutschen Geschichtsschreibung über Jahrzehnte hinweg eher gemieden wurde. Bemerkenswert erscheint, wie sachkundig und kritisch sich der Autor mit den Problemen der strategischen Führung in den Jahren zwischen 1914 und 1918 auseinandersetzt und beispielsweise im Hinblick auf die gescheiterte Offensivplanung am Ende des Jahres 1914 den "Abgesang" einer bis dahin kaum in Frage gestellten "Feldherrnkunst" diagnostiziert. Die in den Krieg führende Julikrise des Jahres 1914 und die hochgemuten Siegeserwartungen im August, der rapide Gestaltwandel der herkömmlichen Kriegführung zur menschenverschlingenden Materialschlacht und die tiefen Verwerfungen in der deutschen Gesellschaft, die erbitterten Diskussionen über Kriegsziele und Friedensversuche sowie über die Zukunft des Reiches zwischen Monarchie und Republik werden ebenso scharfsinnig wie anschaulich abgehandelt, so daß eine rundum gelungene Synthese der zentralen Probleme deutscher Geschichte im Ersten Weltkrieg geboten wird.
Ein sich davon abhebendes Ziel verfolgt Michael Salewskis Buch. Ihm liegt das Manuskript einer Vorlesung zugrunde, das der Verfasser als "eigenständige Textsorte" belassen und zum Druck gegeben hat. Diese Entscheidung ist außerordentlich zu begrüßen, hat der Kieler Historiker doch ganz offensichtlich ein brillantes Kolleg gehalten, das selbst ein so sprödes Kapitel wie das "Zur Quellenlage" ausgesprochen fesselnd zu präsentieren versteht. Zwar legt auch diese Darstellung ihren Schwerpunkt auf die deutsche Geschichte, verliert darüber aber die universale Kontur des Gesamten niemals aus dem Auge. Solches Vorgehen erlaubt dem Autor, immer wieder das Spezifische dieses historischen Großereignisses zu betonen, welches das "Ende einer Weltepoche" markiert. In dieser Perspektive kommt es dem Autor als außerordentlich problematisch vor, "die beiden Kriege zu einer Einheit zu verschmelzen und vom ,europäischen Bürgerkrieg' zwischen 1914 und 1945 zu sprechen. So ähnlich die beiden Kriege bei vordergründiger Betrachtung sein mögen, so unterschiedlich sind sie doch bei genauerem Zusehen. Sie entsprangen nicht der gleichen Wurzel, sie waren nicht kausal aufeinander bezogen und - das ist entscheidend - sie waren von einer ganz unterschiedlichen historischen ,Qualität'. Der Erste Weltkrieg ,paßt', so betrachtet, viel eher zu den Kriegen Napoleons oder auch Ludwigs XIV. als zu dem Kriegs-Verbrechen von 1939 - 1945."
An der gehörigen Verantwortung des Deutschen Reiches für den Beginn des mörderischen Ringens läßt Salewski keinen Zweifel. Seine Betrachtungen der Haltung der anderen Großmächte im Verlauf der auf die Mordtat von Sarajevo am 28. Juni 1914 folgenden Wochen legen es jedoch nahe, die Julikrise aus universaler Perspektive zu untersuchen. Daß insgesamt der überall in Europa anzutreffende Fatalismus der Zeitgenossen, die den kommenden Krieg als gleichsam unabwendbar einschätzten, für die sich zuspitzende - tatsächliche oder vermeintliche - Ausweglosigkeit der Akteure entscheidend geworden ist, betont der Autor ein um das andere Mal. Das hält ihn freilich keineswegs davon ab, die für lange Zeit "Unberührbaren" des deutschen Generalstabs einer harschen Kritik zu unterziehen, die stellenweise zu einer massiven Abrechnung gerät. Dies festzustellen darf aber nicht zu Mißverständnissen veranlassen: Dem Autor geht es mit keiner Zeile seiner literarisch überaus gelungenen Darstellung darum, als Späterlebender alles besser wissen zu wollen, sondern vielmehr darum, als Historiker das Gesamte besser verstehen zu können: "Es ist unzulässig", stellt er in diesem Sinne fest, "die Geschichte des Bismarckreiches und die der letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg nur vom Ergebnis her zu beurteilen, und gerade deswegen können große historische Theorien dem Erkenntnisprozeß mehr schaden als nutzen."
Unter diesen Prämissen entziffert er, um es mit einer Rankeschen Wendung zu sagen, die "rätselhafte Hieroglyphe" des Ersten Weltkriegs so weit und so gut, wie das heute möglich ist: Von der Geschichte des Krieges und der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft bis hin zu der der Mentalitäten und der Geschlechter finden die zentralen Aspekte des Untersuchungsgegenstandes ihre angemessene Berücksichtigung. Ohne die Wirkung objektiver Daten - im Bereich der Ökonomie und der Technik beispielsweise - geringzuschätzen, verweist der Autor immer wieder auf das Individuelle, Zufällige und Irrationale als ohne Zweifel geschichtsmächtige Elemente jener Jahre. Anders läßt sich auch die Tatsache nicht erklären, daß Staaten und Völker buchstäblich über ihre Kräfte hinaus weiterhin Krieg geführt haben: Zu kämpfen aufgehört haben sie erst, als sie militärisch längst besiegt waren, und sich zu ergeben waren sie erst bereit, als sie gesellschaftlich total erschöpft waren.
Der Erste Weltkrieg entwickelte sich mit voranschreitender Zeit zu einem organisierten Massenmord auf Gegenseitigkeit. In seinem abschließenden Urteil beschäftigt den Verfasser - ohne über den "historischen Rücksturz", den Europa durch den Ersten Weltkrieg erlitt, Zweifel aufkommen zu lassen - die seit den Tagen des Heraklit immer wieder aufgeworfene Frage nach der Dialektik von Krieg und Fortschritt: "Zur Bilanz des Ersten Weltkriegs werden gemeinhin auch jene Modernisierungsschübe gerechnet, die sich aus der Industrialisierung des Krieges ergeben haben. Das gilt für die Entwicklung der Bürokratie . . . , es gilt für die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Verfassung, ein besonderer Lichtblick ist endlich die errungene Gleichberechtigung der Frauen im Wahlrecht . . . Dennoch hat der Krieg insgesamt nicht zur Modernisierung geführt, eher im Gegenteil - versteht man unter Modernisierung nicht nur bessere Autos und schnellere Flugzeuge. In Wahrheit hatte der Krieg viele Atavismen wieder aufgerührt und virulent gemacht, die vor 1914 schon als überwunden galten; zu ihnen zählten jener irrationale Chauvinismus und mörderische Antisemitismus, die schnurstracks in eine ungleich größere Katastrophe führen sollten."
KLAUS HILDEBRAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Erste Weltkrieg entwickelte sich allmählich zu einem Massenmord auf Gegenseitigkeit
Sönke Neitzel: Blut und Eisen. Deutschland und der Erste Weltkrieg. Pendo Verlag, Zürich 2003. 272 Seiten, 9,90 [Euro].
Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003. 415 Seiten, 29,90 [Euro].
Das Interesse an der Geschichte des Ersten Weltkriegs hat sich in Deutschland während der letzten Jahre wieder spürbar intensiviert. Als Ergebnisse dieser neuen Tendenz der Historiographie liegen zwei Veröffentlichungen vor, deren Lektüre lohnt: Das ist zum einen die Publikation von Sönke Neitzel, die unter dem Titel "Blut und Eisen" die Entwicklung Deutschlands im Ersten Weltkrieg untersucht, und das ist zum anderen die Darstellung von Michael Salewski, die ein Gesamtpanorama des Ersten Weltkriegs entwirft.
Sönke Neitzels Studie beschäftigt sich bevorzugt - ohne darüber die politische oder wirtschaftliche Entwicklung zu vernachlässigen - mit dem militärischen Verlauf des "Großen Krieges". Angesichts des zur Debatte stehenden Untersuchungsgegenstands ist das eine mehr als plausible Vorgehensweise, die allerdings von der deutschen Geschichtsschreibung über Jahrzehnte hinweg eher gemieden wurde. Bemerkenswert erscheint, wie sachkundig und kritisch sich der Autor mit den Problemen der strategischen Führung in den Jahren zwischen 1914 und 1918 auseinandersetzt und beispielsweise im Hinblick auf die gescheiterte Offensivplanung am Ende des Jahres 1914 den "Abgesang" einer bis dahin kaum in Frage gestellten "Feldherrnkunst" diagnostiziert. Die in den Krieg führende Julikrise des Jahres 1914 und die hochgemuten Siegeserwartungen im August, der rapide Gestaltwandel der herkömmlichen Kriegführung zur menschenverschlingenden Materialschlacht und die tiefen Verwerfungen in der deutschen Gesellschaft, die erbitterten Diskussionen über Kriegsziele und Friedensversuche sowie über die Zukunft des Reiches zwischen Monarchie und Republik werden ebenso scharfsinnig wie anschaulich abgehandelt, so daß eine rundum gelungene Synthese der zentralen Probleme deutscher Geschichte im Ersten Weltkrieg geboten wird.
Ein sich davon abhebendes Ziel verfolgt Michael Salewskis Buch. Ihm liegt das Manuskript einer Vorlesung zugrunde, das der Verfasser als "eigenständige Textsorte" belassen und zum Druck gegeben hat. Diese Entscheidung ist außerordentlich zu begrüßen, hat der Kieler Historiker doch ganz offensichtlich ein brillantes Kolleg gehalten, das selbst ein so sprödes Kapitel wie das "Zur Quellenlage" ausgesprochen fesselnd zu präsentieren versteht. Zwar legt auch diese Darstellung ihren Schwerpunkt auf die deutsche Geschichte, verliert darüber aber die universale Kontur des Gesamten niemals aus dem Auge. Solches Vorgehen erlaubt dem Autor, immer wieder das Spezifische dieses historischen Großereignisses zu betonen, welches das "Ende einer Weltepoche" markiert. In dieser Perspektive kommt es dem Autor als außerordentlich problematisch vor, "die beiden Kriege zu einer Einheit zu verschmelzen und vom ,europäischen Bürgerkrieg' zwischen 1914 und 1945 zu sprechen. So ähnlich die beiden Kriege bei vordergründiger Betrachtung sein mögen, so unterschiedlich sind sie doch bei genauerem Zusehen. Sie entsprangen nicht der gleichen Wurzel, sie waren nicht kausal aufeinander bezogen und - das ist entscheidend - sie waren von einer ganz unterschiedlichen historischen ,Qualität'. Der Erste Weltkrieg ,paßt', so betrachtet, viel eher zu den Kriegen Napoleons oder auch Ludwigs XIV. als zu dem Kriegs-Verbrechen von 1939 - 1945."
An der gehörigen Verantwortung des Deutschen Reiches für den Beginn des mörderischen Ringens läßt Salewski keinen Zweifel. Seine Betrachtungen der Haltung der anderen Großmächte im Verlauf der auf die Mordtat von Sarajevo am 28. Juni 1914 folgenden Wochen legen es jedoch nahe, die Julikrise aus universaler Perspektive zu untersuchen. Daß insgesamt der überall in Europa anzutreffende Fatalismus der Zeitgenossen, die den kommenden Krieg als gleichsam unabwendbar einschätzten, für die sich zuspitzende - tatsächliche oder vermeintliche - Ausweglosigkeit der Akteure entscheidend geworden ist, betont der Autor ein um das andere Mal. Das hält ihn freilich keineswegs davon ab, die für lange Zeit "Unberührbaren" des deutschen Generalstabs einer harschen Kritik zu unterziehen, die stellenweise zu einer massiven Abrechnung gerät. Dies festzustellen darf aber nicht zu Mißverständnissen veranlassen: Dem Autor geht es mit keiner Zeile seiner literarisch überaus gelungenen Darstellung darum, als Späterlebender alles besser wissen zu wollen, sondern vielmehr darum, als Historiker das Gesamte besser verstehen zu können: "Es ist unzulässig", stellt er in diesem Sinne fest, "die Geschichte des Bismarckreiches und die der letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg nur vom Ergebnis her zu beurteilen, und gerade deswegen können große historische Theorien dem Erkenntnisprozeß mehr schaden als nutzen."
Unter diesen Prämissen entziffert er, um es mit einer Rankeschen Wendung zu sagen, die "rätselhafte Hieroglyphe" des Ersten Weltkriegs so weit und so gut, wie das heute möglich ist: Von der Geschichte des Krieges und der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft bis hin zu der der Mentalitäten und der Geschlechter finden die zentralen Aspekte des Untersuchungsgegenstandes ihre angemessene Berücksichtigung. Ohne die Wirkung objektiver Daten - im Bereich der Ökonomie und der Technik beispielsweise - geringzuschätzen, verweist der Autor immer wieder auf das Individuelle, Zufällige und Irrationale als ohne Zweifel geschichtsmächtige Elemente jener Jahre. Anders läßt sich auch die Tatsache nicht erklären, daß Staaten und Völker buchstäblich über ihre Kräfte hinaus weiterhin Krieg geführt haben: Zu kämpfen aufgehört haben sie erst, als sie militärisch längst besiegt waren, und sich zu ergeben waren sie erst bereit, als sie gesellschaftlich total erschöpft waren.
Der Erste Weltkrieg entwickelte sich mit voranschreitender Zeit zu einem organisierten Massenmord auf Gegenseitigkeit. In seinem abschließenden Urteil beschäftigt den Verfasser - ohne über den "historischen Rücksturz", den Europa durch den Ersten Weltkrieg erlitt, Zweifel aufkommen zu lassen - die seit den Tagen des Heraklit immer wieder aufgeworfene Frage nach der Dialektik von Krieg und Fortschritt: "Zur Bilanz des Ersten Weltkriegs werden gemeinhin auch jene Modernisierungsschübe gerechnet, die sich aus der Industrialisierung des Krieges ergeben haben. Das gilt für die Entwicklung der Bürokratie . . . , es gilt für die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Verfassung, ein besonderer Lichtblick ist endlich die errungene Gleichberechtigung der Frauen im Wahlrecht . . . Dennoch hat der Krieg insgesamt nicht zur Modernisierung geführt, eher im Gegenteil - versteht man unter Modernisierung nicht nur bessere Autos und schnellere Flugzeuge. In Wahrheit hatte der Krieg viele Atavismen wieder aufgerührt und virulent gemacht, die vor 1914 schon als überwunden galten; zu ihnen zählten jener irrationale Chauvinismus und mörderische Antisemitismus, die schnurstracks in eine ungleich größere Katastrophe führen sollten."
KLAUS HILDEBRAND
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003Die dünnen Töchter der dicken Berta
Wie man einen Kampf verliert: Michael Salewski zeigt die deutsche Rolle im Ersten Weltkrieg
Wenn der Zweite Weltkrieg wichtig ist, dann, so argumentiert Michael Salewski, muss der Erste es auch sein. Diese Behauptung setzt zweierlei voraus. Zum einen, dass der frühere Krieg seine eigentliche Bedeutung erst durch den späteren gewann und dass beide zusammen einen neuen „dreißigjährigen Krieg” ausmachen. Zum andern, dass das in Großbritannien und den USA derzeit so beliebte Konzept des „kurzen” 20. Jahrhunderts auf Kontinentaleuropa nur bedingt zutrifft. Salewski schreibt die Geschichte Deutschlands im Krieg, das „kurze” Jahrhundert begann für ihn 1870 und endete 1945. Sofern er auf die Idee des kurzen 20. Jahrhunderts eingeht, lässt er es nicht 1914 beginnen, sondern 1917, mit der russischen Revolution.
Salewski ist bestrebt, den Ersten Weltkrieg in einen Kontext zu setzen. Wenn er dies mit dem Blick nach vorn tut, kann das Ergebnis gezwungen wirken. Der von ihm konstruierte Zusammenhang zwischen Verdun und dem Einmarsch in die Sowjetunion 1941 riecht nach rückwärts gewandter Prophetie. Die Soldaten, die im schwindenden Licht des 21. Februar 1916 gegen die französischen Stellungen anrannten, wussten nichts von Stalingrad, aber einiges von Jena. Richtet Salewski den Blick zurück, bezieht er sich natürlich auf Ereignisse, die 1914/ 18 bekannt waren. Wenn Hitler die Zukunftsperspektive dominiert, so beherrscht Napoleon den Blick zurück.
Die von diesen Diktatoren inszenierten Kriege bilden die Klammer um den Ersten Weltkrieg. Und doch war dieser gerade darum anders, weil er nicht von einer einzelnen Persönlichkeit dominiert wurde. Zwar schoss sich die Propaganda der Entente auf den Kaiser ein; Salewski aber tut es nicht. Er verteidigt die Verfassung des Kaiserreichs, wobei er darauf hinweist, dass Deutschland bei seiner Einigung 1871 noch weithin ein agrarisches Land war. Obsolet gemacht wurden die von Bismarck installierten konservativen Gegengewichte nur durch das enorme Tempo des damaligen wirtschaftlichen und industriellen Wachstums. Auch war die Reichsverfassung nach Salewski anpassungsfähiger, als es den Anschein hatte. So konstatiert er, dass das Reich 1917 „zwar nicht de iure, aber de facto bereits eine parlamentarische Demokratie geworden” sei. Theoretisch mochte der Kanzler dem Kaiser rechenschaftspflichtig sein; in Wirklichkeit konnte er nichts gegen den Reichstag und die Mitte-Links-Parteien tun: Der Burgfrieden war auf die Unterstützung der SPD angewiesen. Als diese sich 1917 spaltete, musste auch der Kanzler Verfassungsreformen befürworten, um zu verhindern, dass die Mehrheitssozialisten sich wieder der Revolution zuwandten. Er stürzte nicht wegen Hindenburg und Ludendorff, sondern weil er den Reichstag nicht mehr in der Hand hatte.
Salewski kommt zu dem Schluss, dass noch Anfang Oktober 1918 die innenpolitische Stellung des Kaisers gefestigt schien, da selbst Ebert Monarchist war. Was seine Abdankung erzwang, war das Interesse der SPD, die Initiative von den Kommunisten zurückzugewinnen, und der äußere Druck des Kriegsgegners, der fest entschlossen war, die deutsche Autokratie als Hindernis auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden hinzustellen.
Wenn aber der Krieg nicht in erster Linie zur Beseitigung des deutschen Militarismus geführt wurde, wofür dann? Sa-lewski sieht den Kriegsausbruch als das Ergebnis einer allzu geflissentlichen Bereitschaft, im Krisenfall mit militärischen Aktionen zu drohen: Deutschland fühlte sich eingekreist und musste daher seinen Hauptverbündeten Österreich-Ungarn unterstützen, als dieser sich durch die Ermordung Franz Ferdinands mit einer Angelegenheit auf Leben und Tod konfrontiert glaubte. Für Salewski führten zwei Faktoren dazu, dass sich eine regionale Krise zu einem Weltkrieg auswuchs. Zum einen die Weigerung Österreich-Ungarns, die serbische Antwort auf sein Ultimatum zu akzeptieren: Der Kaiser war damit zufrieden, die Österreicher hätten es auch sein sollen. Zum anderen die Planungen des deutschen Generalstabs, der sich auf den Zweifrontenkrieg versteift hatte und zu flexiblem Krisenmanagement nicht mehr in der Lage war. Historiker des Kaiserreichs werden bedauern, dass Salewski die irrationale Seite am Charakter Wilhelms II. vernachlässigt, während Militärhistoriker ihn fragen werden, wie sich seine Einschätzung Schlieffens mit der These des englischsprachigen Gelehrten Terence Zuber verträgt, es habe gar keinen Schlieffenplan gegeben.
Von seinem Vorwurf einer allseitigen Verantwortlichkeit für den Krieg nimmt Salewski Großbritannien aus, das sich erst engagierte, als Deutschland im neutralen Belgien einmarschiert war. Er hat zweifellos insofern recht, als erst die Verletzung der belgischen Neutralität den Krieg für alle politischen Lager in Großbritannien akzeptabel machte. Er unterschätzt jedoch die Festigkeit der britischen Bündniszusagen an Frankreich und Russland (auf die Großbritannien zur Sicherung seines überseeischen Empire angewiesen war).
An einer Militärgeschichte des Krieges liegt Salewski weniger. So wird die Landkriegsführung von ihm nicht immer sicher erfasst. Er betont ständig, dass der Angreifer eine numerische Überlegenheit von 3 zu 1 benötigte, um unter den Bedingungen des Grabenkrieges erfolgreich zu sein, aber er sagt nicht, warum das so gewesen sein soll. In Wahrheit hing der Ausgang von Schlachten des Ersten Weltkriegs vom ausgeklügelten Einsatz der Artillerie ab. War er gegeben, so gestaltete sich das Einbrechen in feindliche Stellungen vergleichsweise einfach. Das große Problem blieb das Ausbrechen, das häufig eine Frage des Kommandos und der Verbindungslinien war. Salewskis Aufmerksamkeit gilt zu sehr den Panzern, einem damals noch relativ unausgereiften Waffensystem, und zu wenig dem eigentlichen Werkzeug dieses Krieges, den Geschützen.
Das Buch ist in einem sehr lockeren Ton gehalten; Salewski erzählt häufig in der Ichform und bringt sogar ein oder zwei autobiographische Streiflichter. Angesichts des Vorsatzes, lesbar zu schreiben, muss man sich wundern, wie wenig Bezug auf die persönlichen Erlebnisse der Frontsoldaten oder der Fabrikarbeiter genommen wird. Es ist Geschichtsschreibung von oben nach unten, nicht von unten nach oben. Trotz allem ist dies wohl die leserfreundlichste einbändige Darstellung der deutschen Beteiligung am Ersten Weltkrieg, die es derzeit gibt.
HEW STRACHAN
MICHAEL SALEWSKI: Der Erste Weltkrieg. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003. 400 Seiten, 29,90 Euro.
Deutsch von Olga Anders.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wie man einen Kampf verliert: Michael Salewski zeigt die deutsche Rolle im Ersten Weltkrieg
Wenn der Zweite Weltkrieg wichtig ist, dann, so argumentiert Michael Salewski, muss der Erste es auch sein. Diese Behauptung setzt zweierlei voraus. Zum einen, dass der frühere Krieg seine eigentliche Bedeutung erst durch den späteren gewann und dass beide zusammen einen neuen „dreißigjährigen Krieg” ausmachen. Zum andern, dass das in Großbritannien und den USA derzeit so beliebte Konzept des „kurzen” 20. Jahrhunderts auf Kontinentaleuropa nur bedingt zutrifft. Salewski schreibt die Geschichte Deutschlands im Krieg, das „kurze” Jahrhundert begann für ihn 1870 und endete 1945. Sofern er auf die Idee des kurzen 20. Jahrhunderts eingeht, lässt er es nicht 1914 beginnen, sondern 1917, mit der russischen Revolution.
Salewski ist bestrebt, den Ersten Weltkrieg in einen Kontext zu setzen. Wenn er dies mit dem Blick nach vorn tut, kann das Ergebnis gezwungen wirken. Der von ihm konstruierte Zusammenhang zwischen Verdun und dem Einmarsch in die Sowjetunion 1941 riecht nach rückwärts gewandter Prophetie. Die Soldaten, die im schwindenden Licht des 21. Februar 1916 gegen die französischen Stellungen anrannten, wussten nichts von Stalingrad, aber einiges von Jena. Richtet Salewski den Blick zurück, bezieht er sich natürlich auf Ereignisse, die 1914/ 18 bekannt waren. Wenn Hitler die Zukunftsperspektive dominiert, so beherrscht Napoleon den Blick zurück.
Die von diesen Diktatoren inszenierten Kriege bilden die Klammer um den Ersten Weltkrieg. Und doch war dieser gerade darum anders, weil er nicht von einer einzelnen Persönlichkeit dominiert wurde. Zwar schoss sich die Propaganda der Entente auf den Kaiser ein; Salewski aber tut es nicht. Er verteidigt die Verfassung des Kaiserreichs, wobei er darauf hinweist, dass Deutschland bei seiner Einigung 1871 noch weithin ein agrarisches Land war. Obsolet gemacht wurden die von Bismarck installierten konservativen Gegengewichte nur durch das enorme Tempo des damaligen wirtschaftlichen und industriellen Wachstums. Auch war die Reichsverfassung nach Salewski anpassungsfähiger, als es den Anschein hatte. So konstatiert er, dass das Reich 1917 „zwar nicht de iure, aber de facto bereits eine parlamentarische Demokratie geworden” sei. Theoretisch mochte der Kanzler dem Kaiser rechenschaftspflichtig sein; in Wirklichkeit konnte er nichts gegen den Reichstag und die Mitte-Links-Parteien tun: Der Burgfrieden war auf die Unterstützung der SPD angewiesen. Als diese sich 1917 spaltete, musste auch der Kanzler Verfassungsreformen befürworten, um zu verhindern, dass die Mehrheitssozialisten sich wieder der Revolution zuwandten. Er stürzte nicht wegen Hindenburg und Ludendorff, sondern weil er den Reichstag nicht mehr in der Hand hatte.
Salewski kommt zu dem Schluss, dass noch Anfang Oktober 1918 die innenpolitische Stellung des Kaisers gefestigt schien, da selbst Ebert Monarchist war. Was seine Abdankung erzwang, war das Interesse der SPD, die Initiative von den Kommunisten zurückzugewinnen, und der äußere Druck des Kriegsgegners, der fest entschlossen war, die deutsche Autokratie als Hindernis auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden hinzustellen.
Wenn aber der Krieg nicht in erster Linie zur Beseitigung des deutschen Militarismus geführt wurde, wofür dann? Sa-lewski sieht den Kriegsausbruch als das Ergebnis einer allzu geflissentlichen Bereitschaft, im Krisenfall mit militärischen Aktionen zu drohen: Deutschland fühlte sich eingekreist und musste daher seinen Hauptverbündeten Österreich-Ungarn unterstützen, als dieser sich durch die Ermordung Franz Ferdinands mit einer Angelegenheit auf Leben und Tod konfrontiert glaubte. Für Salewski führten zwei Faktoren dazu, dass sich eine regionale Krise zu einem Weltkrieg auswuchs. Zum einen die Weigerung Österreich-Ungarns, die serbische Antwort auf sein Ultimatum zu akzeptieren: Der Kaiser war damit zufrieden, die Österreicher hätten es auch sein sollen. Zum anderen die Planungen des deutschen Generalstabs, der sich auf den Zweifrontenkrieg versteift hatte und zu flexiblem Krisenmanagement nicht mehr in der Lage war. Historiker des Kaiserreichs werden bedauern, dass Salewski die irrationale Seite am Charakter Wilhelms II. vernachlässigt, während Militärhistoriker ihn fragen werden, wie sich seine Einschätzung Schlieffens mit der These des englischsprachigen Gelehrten Terence Zuber verträgt, es habe gar keinen Schlieffenplan gegeben.
Von seinem Vorwurf einer allseitigen Verantwortlichkeit für den Krieg nimmt Salewski Großbritannien aus, das sich erst engagierte, als Deutschland im neutralen Belgien einmarschiert war. Er hat zweifellos insofern recht, als erst die Verletzung der belgischen Neutralität den Krieg für alle politischen Lager in Großbritannien akzeptabel machte. Er unterschätzt jedoch die Festigkeit der britischen Bündniszusagen an Frankreich und Russland (auf die Großbritannien zur Sicherung seines überseeischen Empire angewiesen war).
An einer Militärgeschichte des Krieges liegt Salewski weniger. So wird die Landkriegsführung von ihm nicht immer sicher erfasst. Er betont ständig, dass der Angreifer eine numerische Überlegenheit von 3 zu 1 benötigte, um unter den Bedingungen des Grabenkrieges erfolgreich zu sein, aber er sagt nicht, warum das so gewesen sein soll. In Wahrheit hing der Ausgang von Schlachten des Ersten Weltkriegs vom ausgeklügelten Einsatz der Artillerie ab. War er gegeben, so gestaltete sich das Einbrechen in feindliche Stellungen vergleichsweise einfach. Das große Problem blieb das Ausbrechen, das häufig eine Frage des Kommandos und der Verbindungslinien war. Salewskis Aufmerksamkeit gilt zu sehr den Panzern, einem damals noch relativ unausgereiften Waffensystem, und zu wenig dem eigentlichen Werkzeug dieses Krieges, den Geschützen.
Das Buch ist in einem sehr lockeren Ton gehalten; Salewski erzählt häufig in der Ichform und bringt sogar ein oder zwei autobiographische Streiflichter. Angesichts des Vorsatzes, lesbar zu schreiben, muss man sich wundern, wie wenig Bezug auf die persönlichen Erlebnisse der Frontsoldaten oder der Fabrikarbeiter genommen wird. Es ist Geschichtsschreibung von oben nach unten, nicht von unten nach oben. Trotz allem ist dies wohl die leserfreundlichste einbändige Darstellung der deutschen Beteiligung am Ersten Weltkrieg, die es derzeit gibt.
HEW STRACHAN
MICHAEL SALEWSKI: Der Erste Weltkrieg. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003. 400 Seiten, 29,90 Euro.
Deutsch von Olga Anders.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Beifällig, wenn auch mit manchem Einwand, nimmt Hew Strachan die Darstellung Michael Salewskis zur Kenntnis und geht besonders auf dessen Konstrukt eines deutschen "kurzen Jahrhunderts" von 1870 bis 1945 ein: der erste Weltkrieg als Mittelstück historischen Klammer, die von Napoleon zu Hitler reicht. Der Blick nach vorn, etwa wenn Salewski einen Zusammenhang zwischen Verdun und dem Einmarsch in die Sowjetunion 1941 konstruiere, "riecht nach rückwärts gewandter Prophetie", meint Strachan. Salewski konzentriere sich auf die Herausarbeitung der Ursachen des Krieges und sei eher weniger an einer Militärgeschichte interessiert - die Darstellung der Kriegsführung gelinge ihm so weniger gut als die Entwirrung der politischen Lage im Kaiserreich und in Europa. Strachan würdigt den "lockeren Ton" des Buches, der aber nicht darüber hinwegtäuschen könne, dass hier nach wie vor "Geschichte von oben nach unten" geschrieben werde - "die persönlichen Erlebnisse der Frontsoldaten oder der Fabrikarbeiter" kommen nicht vor. "Trotz allem" resümiert Strachan, "ist dies wohl die leserfreundlichste einbändige Darstellung der deutschen Beteiligung am Ersten Weltkrieg, die es derzeit gibt."
© Perlentaucher Medien GmbH
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