Die Legende vom Papst Gregorius ist Thomas Mann früher, als er selbst erinnerte, bekannt geworden: Im Wintersemester 1894/1895 als Hospitant in den Vorlesungen des Münchner Germanisten Wilhelm Hertz über Hartmann von Aue. Auf diesen im Inzest gezeugten »christlichen Ödipus« mit der »Kraft der Reue zur Vergebung jeglicher Sünde« stieß er dann wieder, auf der Suche nach einem Stoff »zur Verarbeitung als groteske Puppenspiele« für seinen Helden Adrian Leverkühn, »in dem alten Buch 'Gesta Romanorum'«; erst da, im Oktober 1945, wurde er sich, den Legendenstoff im entstehenden Doktor Faustus zusammenfassend, des Reizes der Eigengestaltung bewußt; der Faust-Tragödie sollte nach antikem Beispiel das Satyrspiel - »dieses in Gott vergnügte Büchlein« - folgen.
Unter Nutzung aller Mittel, »die der Psychologie und Erzählkunst in sieben Jahrhunderten zugewachsen sind«, formte, ja stilisierte er »ein zeitlich ziemlich unbestimmtes übernational-abendländisches Mittelalter mit einem Sprachraum, wo das Archaische und das Moderne, Altdeutsche, Altfranzösische, gelegentlich englische Elemente sich humoristisch mischen«.
Unter Nutzung aller Mittel, »die der Psychologie und Erzählkunst in sieben Jahrhunderten zugewachsen sind«, formte, ja stilisierte er »ein zeitlich ziemlich unbestimmtes übernational-abendländisches Mittelalter mit einem Sprachraum, wo das Archaische und das Moderne, Altdeutsche, Altfranzösische, gelegentlich englische Elemente sich humoristisch mischen«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2022Legende vom
guten Sünder
Gerade Thomas Mann, der das scheinbar unpolitische großbürgerliche Alltagsleben geradezu zelebrierte, erweist sich bei näherer Betrachtung als gesellschaftskritische Stimme. Dass sich dies selbst in dem ironischen Altersroman „Der Erwählte“ zeigen würde, ist allerdings überraschend. Folgt man dem spannenden Kommentarband dieser Legende vom „guten Sünder“ Gregorius, in geschwisterlicher Liebe gezeugt, die eigene Mutter heiratend und schließlich zum Papst avancierend, sieht man nicht mehr nur die kleinbürgerlich-moralischen Irritationen auf der Erzähloberfläche, sondern erfährt auch, wie politisch dieser Roman möglicherweise bald wieder gelesen werden muss. Mann pflegt die ironisch distanzierte Darstellung mittelalterlicher Lebens- und Denkweisen, deren Irrationalität ihn geradezu fasziniert. Es ist aber die Faszination des Bösen. Denn die Wirkung des Aberglaubens und der Angsthysterien ist eine recht konkrete und trifft immer auch die Minderheit der Vernunftorientierten. Querverbindungen, die auf einmal wieder präsent zu sein scheinen. Die Mechanismen von Angst, Wunderglaube, Propaganda und Gruppenhysterie wirken heute wie eh und je.
HELMUT MAURÓ
Thomas Mann:
Der Erwählte. Roman. Hg. von Heinrich
Detering und Maren Ermisch. (Frankfurter Ausgabe, Band 11,
1 und 2). S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 857 S.,
139,00 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
guten Sünder
Gerade Thomas Mann, der das scheinbar unpolitische großbürgerliche Alltagsleben geradezu zelebrierte, erweist sich bei näherer Betrachtung als gesellschaftskritische Stimme. Dass sich dies selbst in dem ironischen Altersroman „Der Erwählte“ zeigen würde, ist allerdings überraschend. Folgt man dem spannenden Kommentarband dieser Legende vom „guten Sünder“ Gregorius, in geschwisterlicher Liebe gezeugt, die eigene Mutter heiratend und schließlich zum Papst avancierend, sieht man nicht mehr nur die kleinbürgerlich-moralischen Irritationen auf der Erzähloberfläche, sondern erfährt auch, wie politisch dieser Roman möglicherweise bald wieder gelesen werden muss. Mann pflegt die ironisch distanzierte Darstellung mittelalterlicher Lebens- und Denkweisen, deren Irrationalität ihn geradezu fasziniert. Es ist aber die Faszination des Bösen. Denn die Wirkung des Aberglaubens und der Angsthysterien ist eine recht konkrete und trifft immer auch die Minderheit der Vernunftorientierten. Querverbindungen, die auf einmal wieder präsent zu sein scheinen. Die Mechanismen von Angst, Wunderglaube, Propaganda und Gruppenhysterie wirken heute wie eh und je.
HELMUT MAURÓ
Thomas Mann:
Der Erwählte. Roman. Hg. von Heinrich
Detering und Maren Ermisch. (Frankfurter Ausgabe, Band 11,
1 und 2). S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 857 S.,
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Edo Reents, selbst Verfasser von Schriften über Thomas Mann, schaut ganz genau auf die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, der nun Band 11 mit Manns letzten Roman "Der Erwählte" und einem Kommentar von Heinrich Detering und Maren Ermisch hinzugefügt wurde. Und im Wesentlichen ist Reents zufrieden mit der Arbeit der beiden Germanisten: Die Rezeptionsgeschichte des Romans, den Hass in Deutschland und die Würdigung im Ausland beleuchten die Herausgeber umfassend, mit Blick auf zahlreiche Kritiken, auch jene die 1950 in der FAZ erschien, wie Reents beschämt feststellt: Damals bezeichnete der Literaturkritiker Gerhard Nebel Mann als "Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland". Vorbildlich auch, wie Detering und Ermisch Entstehungsgeschichte und Quellenlage recherchieren und Mann bisweilen ein "niederes Abschreiben" nachweisen, meint der Kritiker. Ein paar Details, etwa zu Manns Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen, übersehen die Herausgeber, aber das kann der Rezensent verzeihen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Thomas Mann erweist sich als gesellschaftskritische Stimme [...] Die Mechanismen von Angst, Wunderglaube, Propaganda und Gruppenhysterie wirken heute wie eh und je. Süddeutsche Zeitung 20220730