Den jungen, mittellosen Schriftsteller Kif Kehlmann erreicht mitten in der Nacht ein Anruf. Er soll die Memoiren des berühmtesten Kriminellen Australiens schreiben, Siegfried Heidl. Heidl hat den Banken siebenhundert Millionen Dollar abgenommen und muss sich nun vor Gericht verantworten. Bis zum Tag der Urteilsverkündung will sein Verleger das Manuskript auf dem Tisch haben. Trotz des enormen Drucks willigt Kehlmann ein, muss aber erkennen, dass Heidl sich gar nicht für das Buch interessiert. Also beginnt er zu erfinden. Je näher aber der Abgabetermin rückt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Heidl und ihm selbst, zwischen Erfindung und Erinnerung. Betreibt Heidl Sabotage, will er, dass Kehlmanns Leben selbst sich ändert, das erfundene und das wahre?
buecher-magazin.deKif Kehlmann, ein junger Autor mit finanziellen Problemen, übernimmt den Auftrag, die Memoiren des berühmten Betrügers Siegfried Heidl aufzuschreiben. Der hatte schon in seiner deutschen Heimat ahnungslose Klienten um Hunderttausende von D-Mark betrogen. Nach seiner Flucht nach Australien setzte er seine Karriere fort und erleichterte australische Banken um rund 700 Millionen australische Dollar. Nun aber droht ihm ein Prozess. Innerhalb von sechs Wochen soll Kehlmann seine Geschichte aufschreiben, an der, wie der junge Autor zu spät erfährt, schon andere vor ihm gescheitert sind. Denn Heidl entpuppt sich als gerissener Ganove, der den schmalen Pfad zwischen Dichtung und Wahrheit immer wieder verlässt. Der Autor ist fasziniert von diesem Mann, der keine Skrupel kennt. Bei den Gesprächen mit Heidl begegnet er seinen eigenen Dämonen und wird immer tiefer in das Lügengeflecht hineingezogen. Sein Leben verändert sich drastisch, denn Heidl, genialer Erzähler mit großspurigen Sprüchen, infiltriert den jungen Mann, der ihm immer mehr auf dem Leim geht. Am Ende ist er eine Art Alter Ego des Mannes, dessen Biografie er eigentlich aufzeichnen sollte. Und dass Kehlmann seinen Traum verrät, ein großer Schriftsteller zu werden, ist die logische Konsequenz.
© BÜCHERmagazin, Margarete von Schwarzkopf (mvs)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018Wenn ich lüge, sind alle zufrieden
Ein Schriftsteller namens Kif Kehlmann wird zum Verbrecher in Richard Flanagans Groteske „Der Erzähler“
Wenn die Hauptfigur eines Romans ein Schriftsteller mit Namen Kif Kehlmann ist, ahnen wir, dass wir uns auf die Parodie eines Künstlerromans gefasst machen sollten – wie könnte ein bekiffter Kehlmann ein ernst zu nehmender Schriftsteller sein? Genauso kommt es dann auch in Richard Flanagans „Der Erzähler“: Allein wenn man zusieht, wie sich der junge Autor anno 1992 in einem Abbruchhaus auf Tasmanien, in dem er mit Frau Suzy und Tochter Bo direkt neben einem Junkie-Treff lebt, seitwärts kopfüber in seinen vollgerümpelten Schreibplatz hineinschrauben muss, um an seinem demnächst hoffentlich weltberühmten ersten Roman zu arbeiten, ist glasklar: Hier regiert das Gesetz der Groteske. Um alles auf die Spitze zu treiben, steht Suzy kurz vor der Geburt von Zwillingen, das Auto sowie häusliche Installationen brechen immer wieder zusammen, und Kehlmann will partout nichts Literarisches einfallen – aus der literarischen wird flugs eine existenzielle Krise, der Schriftsteller muss dringend Geld heranschaffen.
Und schon kommt, zappzarapp, ein Angebot! Zu verdanken hat Kehlmann es seinem Jugendfreund Ray, der inzwischen als Leibwächter des australischen Superkriminellen Siegfried Heidl arbeitet. Der deutschstämmige Betrüger hat australische Banken um 700 Millionen Dollar erleichtert und sieht seinem Prozess entgegen, nach dessen Ende er lebenslänglich im Knast verschwinden wird. Zuvor will „Ziggy“ noch seine Autobiografie schreiben und braucht einen Ghostwriter: Kif Kehlmann. Etliche Autoren haben den Auftrag nach kurzer Zeit hingeworfen, Kif aber hat keine Alternative, er braucht die 10 000 Dollar. Und muss in den sechs Wochen bis zum Prozessbeginn Heidls Lebensgeschichte zusammenschustern.
Was komplizierter ist, als er dachte. Heidl, der mit Zitaten von Nietzsche und Tomas Tebbe, „dem bedeutendsten deutschen Installationisten seiner Zeit“, vor sich hin „heidelt“, gibt wolkige Lebensweisheiten von sich und ergeht sich in Ausführungen zur Toxoplasmose, die die Menschen auf dem Erregerweg von Ratten über Katzen mit unheilbarer Verrücktheit infiziert. Zu seiner Lebensgeschichte will er nichts sagen. Gibt er doch einmal etwas zu Protokoll, widerruft er es bei nächster Gelegenheit: „Es gibt keine Wahrheit, nur Interpretationen. Ohne die Wahrheit sind wir besser dran.“ Das ist für den Ghostwriter natürlich eine eher unglückliche Ausgangsposition. Dass es am Ende trotzdem ein Buch geben wird (das auf dem Markt erbärmlich untergeht), ist zu dem Zeitpunkt schon unwichtig. Heidl jedenfalls wird bis dahin tot, Kehlmann kriminell sein, und ein Schriftsteller ist er künftig auch nicht mehr – er wird zum Produzenten von Reality-TV-Shows, die Vermengung von Fakten und Fiktion ist sein Job.
Wie in jeder anständigen Komödie geht es bei alledem im Grunde um ernste Fragen: Wie nahe stehen einander, von Berufs wegen gewissermaßen, Betrüger und Künstler? Verfügen nicht beide über die Fantasie, die erfahrbare Wirklichkeit in eine andere Welt zu verwandeln? Besitzen sie nicht die Verführungskraft, andere von der Tatsächlichkeit ihrer Vorstellungen zu überzeugen? Die Bereitschaft zur Grausamkeit, mit der sie, in der Fantasie wie in der Realität, ihre Sichtweise durchzusetzen versuchen, teilen sie auf jeden Fall, ebenso die Lust am Bösen. Kif Kehlmann zeigt schon als Halbwüchsiger, als er noch mit Ray auf die bizarrsten Touren geht, Interesse und Vergnügen am Leiden anderer, Heidl beging offenbar Morde oder war doch deren Anstifter. Wie weit liegen da Vorstellung und Realität auseinander?
Siegfried Heidl vermochte in seiner Glanzzeit als Verbrecher durch die Vorspiegelung der unwahrscheinlichsten Tatsachen seine Geldgeber davon zu überzeugen, dass er ein mickriges, aber immerhin solides Sicherheitsunternehmen in einen international operierenden Konzern verwandeln konnte, dass er mit der Nasa und der CIA zusammenarbeitete, in Laos wie in der DDR tätig war. „Die Leute stellen alle möglichen Fragen, Kif“, belehrt er seinen Biografen. „Wenn ich ihnen die Wahrheit sage, nennen sie mich einen Lügner. Und wenn ich lüge, sind alle zufrieden.“
So wird es denn auch in der Zusammenarbeit mit dem Ghostwriter bleiben, die er eigentlich verweigert: Heidl macht Kif zu seinem Komplizen, weil der die Biografie mangels nachprüfbarer Angaben erfinden muss. Damit das Buch erscheinen kann, fälscht er Heidls Unterschrift, wahrscheinlich begeht er einen Mord. Oder eben auch nicht: Der Schriftsteller ist der Schüler des Betrügers, Täuschung und Lüge sind sein Metier.
Vorausgesetzt, man hat Sinn für einen manchmal heftig krachenden Monty-Python-Humor und nimmt auch nicht übel, dass Frauen hier nur als alles verzeihende Übermutter oder als abgezehrte Karrierefrau vorkommen, die ihren (natürlich schwulen) Friseur dafür bezahlt, dass er sie alle 14 Tage streichelt, ist das eine ziemlich kurzweilige Lektüre, die in schnell wechselnden Szenen aus Kehlmanns Perspektive die Geschichte von Kif, Ray und Heidl rekapituliert.
Doch will Flanagan es dabei nicht belassen, unbedingt muss er auch noch der jüngsten Mode der Gegenwartsliteratur eins mitgeben. Eine junge amerikanische „Erfolgsschriftstellerin“, deren Genre die „Autofiktion“ à la Knausgård ist, proklamiert: „Es ist doch total fake, Geschichten zu erfinden, um irgendwas zu vermitteln. Plot, Figuren, es war einmal. Allein beim Gedanken an fiktionale Charaktere, die in einer fiktionalen Geschichte fiktional handeln, muss ich kotzen. Hoffentlich muss ich nie wieder einen Roman lesen.“ Grinsend fügt ihr Freund hinzu: „Romane entmachten die Wirklichkeit.“ Und damit hat er vielleicht sogar recht, jedenfalls, was Richard Flanagans Roman betrifft.
Mit „Der Erzähler“ nämlich kehrt der Booker-Prize-Träger des Jahres 2014 zu seinen Anfängen als Schriftsteller zurück, die sich, wie er in einem Interview sagte, exakt so ausnahmen wie die des Kif Kehlmann. Als 31-Jähriger mit schwangerer Ehefrau in durchschlagender literarischer Erfolglosigkeit auf seiner Heimatinsel Tasmanien lebend, bekam Flanagan die Chance, dem damaligen australischen Großverbrecher deutscher Herkunft, John Friedrich, zu einer Autobiografie zu verhelfen. Doch bevor die Arbeit abgeschlossen war, wurde der Gangster tot aufgefunden – wie es schien, hatte er sich erschossen, nicht anders als Siegfried Heidl im Roman.
Zu dieser realen Geschichte liefert „Der Erzähler“ nun quasi die fiktionale Originalversion. Die natürlich auch wieder unwahr ist, denn keineswegs ist ja Flanagan ein erfolgloser Schriftsteller geblieben, und man möchte hoffen, dass er auch nicht, wie Kif, dem Verbrecher mit einem gezielten Kopfschuss beim Selbstmord assistiert hat. Seiner Erzählung aber geschieht ausgerechnet das, was auch schon Ziggy Heidl zum Absturz brachte: Sie verliert sich in Seiten-, Neben- und Nachgeschichten, bis der rote Faden endgültig gerissen ist.
Wenn ein fiktiver ehemaliger Schriftsteller im autobiografischen Rückblick beschreibt, wie er einst die gefakte Autobiografie eines Gangsters zu schreiben versuchte, und damit zugleich die tatsächliche Autobiografie des realen Autors Richard Flanagan rekonstruiert, dann ist dies auch für den geübtesten auktorialen Allmachtsfantasten offenbar eine Umdrehung zu viel.
FRAUKE MEYER-GOSAU
„Es gibt keine Wahrheit,
nur Interpretationen.
Ohne die Wahrheit
sind wir besser dran.“
Man möchte hoffen, dass
er dem Verbrecher nicht beim
Selbstmord assistiert hat
Richard Flanagan:
Der Erzähler. Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Piper Verlag,
München 2018.
448 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Schriftsteller namens Kif Kehlmann wird zum Verbrecher in Richard Flanagans Groteske „Der Erzähler“
Wenn die Hauptfigur eines Romans ein Schriftsteller mit Namen Kif Kehlmann ist, ahnen wir, dass wir uns auf die Parodie eines Künstlerromans gefasst machen sollten – wie könnte ein bekiffter Kehlmann ein ernst zu nehmender Schriftsteller sein? Genauso kommt es dann auch in Richard Flanagans „Der Erzähler“: Allein wenn man zusieht, wie sich der junge Autor anno 1992 in einem Abbruchhaus auf Tasmanien, in dem er mit Frau Suzy und Tochter Bo direkt neben einem Junkie-Treff lebt, seitwärts kopfüber in seinen vollgerümpelten Schreibplatz hineinschrauben muss, um an seinem demnächst hoffentlich weltberühmten ersten Roman zu arbeiten, ist glasklar: Hier regiert das Gesetz der Groteske. Um alles auf die Spitze zu treiben, steht Suzy kurz vor der Geburt von Zwillingen, das Auto sowie häusliche Installationen brechen immer wieder zusammen, und Kehlmann will partout nichts Literarisches einfallen – aus der literarischen wird flugs eine existenzielle Krise, der Schriftsteller muss dringend Geld heranschaffen.
Und schon kommt, zappzarapp, ein Angebot! Zu verdanken hat Kehlmann es seinem Jugendfreund Ray, der inzwischen als Leibwächter des australischen Superkriminellen Siegfried Heidl arbeitet. Der deutschstämmige Betrüger hat australische Banken um 700 Millionen Dollar erleichtert und sieht seinem Prozess entgegen, nach dessen Ende er lebenslänglich im Knast verschwinden wird. Zuvor will „Ziggy“ noch seine Autobiografie schreiben und braucht einen Ghostwriter: Kif Kehlmann. Etliche Autoren haben den Auftrag nach kurzer Zeit hingeworfen, Kif aber hat keine Alternative, er braucht die 10 000 Dollar. Und muss in den sechs Wochen bis zum Prozessbeginn Heidls Lebensgeschichte zusammenschustern.
Was komplizierter ist, als er dachte. Heidl, der mit Zitaten von Nietzsche und Tomas Tebbe, „dem bedeutendsten deutschen Installationisten seiner Zeit“, vor sich hin „heidelt“, gibt wolkige Lebensweisheiten von sich und ergeht sich in Ausführungen zur Toxoplasmose, die die Menschen auf dem Erregerweg von Ratten über Katzen mit unheilbarer Verrücktheit infiziert. Zu seiner Lebensgeschichte will er nichts sagen. Gibt er doch einmal etwas zu Protokoll, widerruft er es bei nächster Gelegenheit: „Es gibt keine Wahrheit, nur Interpretationen. Ohne die Wahrheit sind wir besser dran.“ Das ist für den Ghostwriter natürlich eine eher unglückliche Ausgangsposition. Dass es am Ende trotzdem ein Buch geben wird (das auf dem Markt erbärmlich untergeht), ist zu dem Zeitpunkt schon unwichtig. Heidl jedenfalls wird bis dahin tot, Kehlmann kriminell sein, und ein Schriftsteller ist er künftig auch nicht mehr – er wird zum Produzenten von Reality-TV-Shows, die Vermengung von Fakten und Fiktion ist sein Job.
Wie in jeder anständigen Komödie geht es bei alledem im Grunde um ernste Fragen: Wie nahe stehen einander, von Berufs wegen gewissermaßen, Betrüger und Künstler? Verfügen nicht beide über die Fantasie, die erfahrbare Wirklichkeit in eine andere Welt zu verwandeln? Besitzen sie nicht die Verführungskraft, andere von der Tatsächlichkeit ihrer Vorstellungen zu überzeugen? Die Bereitschaft zur Grausamkeit, mit der sie, in der Fantasie wie in der Realität, ihre Sichtweise durchzusetzen versuchen, teilen sie auf jeden Fall, ebenso die Lust am Bösen. Kif Kehlmann zeigt schon als Halbwüchsiger, als er noch mit Ray auf die bizarrsten Touren geht, Interesse und Vergnügen am Leiden anderer, Heidl beging offenbar Morde oder war doch deren Anstifter. Wie weit liegen da Vorstellung und Realität auseinander?
Siegfried Heidl vermochte in seiner Glanzzeit als Verbrecher durch die Vorspiegelung der unwahrscheinlichsten Tatsachen seine Geldgeber davon zu überzeugen, dass er ein mickriges, aber immerhin solides Sicherheitsunternehmen in einen international operierenden Konzern verwandeln konnte, dass er mit der Nasa und der CIA zusammenarbeitete, in Laos wie in der DDR tätig war. „Die Leute stellen alle möglichen Fragen, Kif“, belehrt er seinen Biografen. „Wenn ich ihnen die Wahrheit sage, nennen sie mich einen Lügner. Und wenn ich lüge, sind alle zufrieden.“
So wird es denn auch in der Zusammenarbeit mit dem Ghostwriter bleiben, die er eigentlich verweigert: Heidl macht Kif zu seinem Komplizen, weil der die Biografie mangels nachprüfbarer Angaben erfinden muss. Damit das Buch erscheinen kann, fälscht er Heidls Unterschrift, wahrscheinlich begeht er einen Mord. Oder eben auch nicht: Der Schriftsteller ist der Schüler des Betrügers, Täuschung und Lüge sind sein Metier.
Vorausgesetzt, man hat Sinn für einen manchmal heftig krachenden Monty-Python-Humor und nimmt auch nicht übel, dass Frauen hier nur als alles verzeihende Übermutter oder als abgezehrte Karrierefrau vorkommen, die ihren (natürlich schwulen) Friseur dafür bezahlt, dass er sie alle 14 Tage streichelt, ist das eine ziemlich kurzweilige Lektüre, die in schnell wechselnden Szenen aus Kehlmanns Perspektive die Geschichte von Kif, Ray und Heidl rekapituliert.
Doch will Flanagan es dabei nicht belassen, unbedingt muss er auch noch der jüngsten Mode der Gegenwartsliteratur eins mitgeben. Eine junge amerikanische „Erfolgsschriftstellerin“, deren Genre die „Autofiktion“ à la Knausgård ist, proklamiert: „Es ist doch total fake, Geschichten zu erfinden, um irgendwas zu vermitteln. Plot, Figuren, es war einmal. Allein beim Gedanken an fiktionale Charaktere, die in einer fiktionalen Geschichte fiktional handeln, muss ich kotzen. Hoffentlich muss ich nie wieder einen Roman lesen.“ Grinsend fügt ihr Freund hinzu: „Romane entmachten die Wirklichkeit.“ Und damit hat er vielleicht sogar recht, jedenfalls, was Richard Flanagans Roman betrifft.
Mit „Der Erzähler“ nämlich kehrt der Booker-Prize-Träger des Jahres 2014 zu seinen Anfängen als Schriftsteller zurück, die sich, wie er in einem Interview sagte, exakt so ausnahmen wie die des Kif Kehlmann. Als 31-Jähriger mit schwangerer Ehefrau in durchschlagender literarischer Erfolglosigkeit auf seiner Heimatinsel Tasmanien lebend, bekam Flanagan die Chance, dem damaligen australischen Großverbrecher deutscher Herkunft, John Friedrich, zu einer Autobiografie zu verhelfen. Doch bevor die Arbeit abgeschlossen war, wurde der Gangster tot aufgefunden – wie es schien, hatte er sich erschossen, nicht anders als Siegfried Heidl im Roman.
Zu dieser realen Geschichte liefert „Der Erzähler“ nun quasi die fiktionale Originalversion. Die natürlich auch wieder unwahr ist, denn keineswegs ist ja Flanagan ein erfolgloser Schriftsteller geblieben, und man möchte hoffen, dass er auch nicht, wie Kif, dem Verbrecher mit einem gezielten Kopfschuss beim Selbstmord assistiert hat. Seiner Erzählung aber geschieht ausgerechnet das, was auch schon Ziggy Heidl zum Absturz brachte: Sie verliert sich in Seiten-, Neben- und Nachgeschichten, bis der rote Faden endgültig gerissen ist.
Wenn ein fiktiver ehemaliger Schriftsteller im autobiografischen Rückblick beschreibt, wie er einst die gefakte Autobiografie eines Gangsters zu schreiben versuchte, und damit zugleich die tatsächliche Autobiografie des realen Autors Richard Flanagan rekonstruiert, dann ist dies auch für den geübtesten auktorialen Allmachtsfantasten offenbar eine Umdrehung zu viel.
FRAUKE MEYER-GOSAU
„Es gibt keine Wahrheit,
nur Interpretationen.
Ohne die Wahrheit
sind wir besser dran.“
Man möchte hoffen, dass
er dem Verbrecher nicht beim
Selbstmord assistiert hat
Richard Flanagan:
Der Erzähler. Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Piper Verlag,
München 2018.
448 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Flanagan schreibt so, dass es weh tut, er versteckt den Dreck nicht hinter ziselierten Masken, nennt die Dinge beim Namen, hart und blutig, bis an den Rand der Stereotypie.« Neue Züricher Zeitung 20190313