Die Königs Erläuterung ist eine verlässliche und bewährte Textanalyse und Lektürehilfe für Schüler und weiterführende Informationsquelle für Lehrer und andere Interessierte: verständlich, übersichtlich und prägnant. Der Band bietet Schülern eine fundierte und umfassende Vorbereitung auf Abitur, Matura, Klausuren und Referate zu diesem Thema: Alle erforderlichen Informationen zur Textanalyse und Interpretation: Angaben zu Leben und Werk des Autors, ausführliche Inhaltsangabe, Aufbau, Personenkonstellation und Charakteristiken, Sachliche und sprachliche Erläuterungen, Stil und Sprache, Interpretationsansätze, Rezeptionsgeschichte und Abituraufgaben mit Lösungstipps. - Der inhaltliche Aufbau der Bände ist klar und folgerichtig. - Die Texte sind verständlich verfasst. - Die Gestaltung ist übersichtlich, was ein schnelles Zurechtfinden ermöglicht. - Die Inhalte erheben literaturwissenschaftlichen Anspruch.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2015Der Mann
im Bunker
Der Franzose Frédéric Beigbeder und zwei
Amerikaner suchen vergeblich nach J. D. Salinger
VON WILLI WINKLER
Der Schriftsteller wohnt am Ende der Welt, hohe Bäume umstehen sein Haus, hundertjährige Eichen, „dunkles Blattwerk“ verbirgt ihn, eine „Waldesgruft“ wie in der deutschen Romantik. Irgendwo da drin haust er, allein mit seinen Katzen, seinen Büchern, mit der Vergangenheit. Der Besucher möchte wie viele vor ihm den alten Mann aufstören, möchte ihn nach seinen Büchern befragen, die er vor einem halben Jahrhundert geschrieben hat, nach seinen Frauen, nach dem Leben an und für sich. Er steht vor der Tür des Mannes, der „mir die Freude am Lesen vermittelt hat, diesem amerikanischen Schriftsteller, der Zärtlichkeit und Revolte in Person war“ und – dreht um. Nein, er kann es nicht.
Der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder ist mit seinem Team über den Atlantik bis in diese nordamerikanische Einsiedelei gekommen, nein, nicht um einen Film über J. D. Salinger zu drehen, sondern „ich musste einfach dem Begründer des infantilen Phantasmas gegenübertreten, der die entwickelte Welt zum Träumen bringt“. Schön gefaselt, erst recht, wenn zu diesem Traum gehört, dass er nicht aufhören, dass der Traumbegründer nicht real werden darf. Beigbeder war nicht der erste, dem die simple Lektüre der Bücher Salingers nicht genügte, der meint, dem Autor unbedingt die Hand schütteln zu müssen. Wollte sich nicht auch Holden Caulfield vertrauensvoll an seinen Lieblingsschriftsteller wenden können, und wollte er nicht seinerseits der Beschützer für andere sein?
Und dann bestand der Autor, dieser menschenfreundliche Erfinder Caulfields, unbegreiflicherweise darauf, dass er in seinen Erzählungen bereits alles gesagt habe. Jede Form von Seelsorgerei war ihm zuwider. Keine Fan-Betreuung! Doch wer ihm nahe kam, sei’s persönlich oder beruflich, durfte auf ein ungeheures Verwertungsinteresse rechnen, konnte sicher sein, dass die staunende Welt diese Bröckchen so begierig aufnahm wie seine Erzählungen, die es nicht mehr gab, nicht mehr geben sollte.
1951, nach dem Erscheinen seines „Fänger im Roggen“, hatte Salinger sich von aller Welt verabschiedet und war in den hohen Norden, bis fast an die kanadische Grenze gezogen. Das Buch wurde ein unerhörter Erfolg und ist es bis heute geblieben, ein Klassiker, der sich neben dreiviertelseidenen Werken wie Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“ und Hesses unverwüstlichem „Steppenwolf“ erstaunlich gut gehalten hat. Das infantile Phantasma, das Beigbeder beschwört, der hoffnungslose Versuch, sich der Erwachsenenwelt mit ihrer ganzen Verlogenheit zu verweigern, hat wenig von seinem naiven Reiz verloren. Seine Abscheu vor der phonyness ist so kommun wie leider auch erledigt. Phony („verlogen“ in der jüngsten Übersetzung) war auch ein Lieblingswort des frühen Bob Dylan. „Propaganda, all is phony“, singt er, aber diese Kritik an der Bewusstseinsindustrie hat es inzwischen zu einem eigenen Eintrag der weltgrößten Propagandamaschine gebracht, auf Facebook.
Für heutige Begriffe ist es nicht der schlechteste Marketing-Trick, sich überhaupt nicht zu zeigen, um so seinen Marktwert zu steigern. Aber Salinger wollte einfach nicht mehr, oder wollte schweigen wie Melvilles Schreiber Bartleby. Im aufrauschenden Konsumismus der fünfziger und sechziger Jahre war eine solche Verweigerung nicht vorgesehen. Was trieb er da oben? Zen? Ufo-Forschung? Makrobiotisches Kaninchenabrichten? Jedenfalls verschwand er baute er eine Betonwand um sein Anwesen, bunkerte sich ein und herrschte zudringliche Fans an, wenn sie ihm beim Einkaufen auflauerten oder wenn er seine Post im Dorf abholen wollte. Er heiratete, zeugte Kinder, ließ sich scheiden, heiratete wieder, und veröffentlichte bald nichts mehr. Aber allem Vernehmen nach schrieb er. Die letzte Erzählung, „Hapworth 16, 1924“, war 1965 im New Yorker erschienen. In der Einsamkeit entstand ganz gewiss ein unbekanntes Meisterwerk.
Der psychisch kriegsversehrte Sergeant X in der Novelle „Für Esmé – mit Liebe und Schmutz“, leicht als Selbstportrait des Autors zu verstehen, schreibt in ein Buch des Propagandaministers Goebbels einen angeblich von Dostojewski stammenden Satz, der den existenzialistischen Anspruch des Autors zusammenfasst: „Was ist das, die Hölle? Ich behaupte, es ist die Qual, der Liebe unfähig zu sein.“ Da wusste er noch nichts von den Höllenqualen, die das Schreiben diesem Perfektionisten bereiten würde. F. Scott Fitzgerald, hatte sich an die Zeitschriften verkauft und dann zu Tode gesoffen, Hemingway half am Ende nur noch das Jagdgewehr. Salingers Pech war, dass er besser als jeder andere das jugendliche Leiden an der Welt schildern konnte. Künstlerpech auch, dass sich herostratische Mörder wie Mark David Chapman auf ihn berufen konnten. Nachdem er John Lennon erschossen hatte, las Chapman in seinem „Fänger im Roggen“ und wartete auf die Festnahme.
Beigbeder, der in der Werbung so erfolgreich war wie als ihr Kritiker, versteht sich auf grobe Striche. Salinger habe das „Motiv des Tramps“ übernommen, Holden Caulfield ist also ein Nachläufer der von Chaplin erfundenen Figur. Die „Lust, sich zu entziehen“, habe nicht Salinger, sondern Eugene O’Neill erfunden, der wiederum Emily Dickinson folgte. (Nicht vielleicht Johannes der Täufer oder sonst ein ungewaschener Anachoret?) Depressiven Schriftstellern solle man verbieten, Kinder zu zeugen, schlägt Beigbeder vor, andererseits empfiehlt er seinen männlichen mittelalten Lesern, sich ein Beispiel an Salinger – und Beigbeder – zu nehmen und sich an erheblich jüngere Frauen zu halten. So schmarrt er lustig fort.
Salinger, hätte er „Oona & Salinger“ lesen können, wäre bestimmt schreiend davon gelaufen und hätte die romanhafte Hommage mit irgendwelchen paravedistischen Flüchen bedacht. Schließlich hätte sie ihm nur bestätigt, welches Unheil seine Bücher bei den Lesern anrichten konnten, hier als zwanghafte Bekenntnissucht. Wollte wirklich jemand wissen, dass Frédéric Beigbeder mit fünfundvierzig Jahren „meine Jungfräulichkeit wiederhaben“ wollte und deshalb Frauen nachschnürt, die halb so alt sind?
Für J. D. Salinger gilt der schöne Satz Peter Handkes, das Problem an großer Literatur sei, dass sich „jedes Arschloch damit identifizieren“ könne. Salinger konnte es nicht verhindern, aber er verteidigte sich mit allen Mitteln. Ian Hamilton durfte aus den Briefen, die bereits im Archiv lagen, nicht zitieren, und Salinger war der Triumph vergönnt, dass er seinen verhinderten Biografen um acht Jahre überlebte. Beigeber schreibt die Briefe seines Idols dann lieber gleich selber: vulgär, drastisch, bestenfalls das eine oder andre Zitat hineingeflochten.
Dazu lässt er Salinger ganz viel im Stork Club herumsitzen, ein Verehrer und zugleich Verächter der drei giggelnden Mädchen, die bereits reich sind und noch weiter nach oben heiraten wollen. Eines davon ist Oona, Tochter des Literaturnobelpreisträgers Eugene O’Neill, aber praktisch vaterlos aufgewachsen, sechzehn erst, auffallend hübsch natürlich, bald Debütantin des Jahres und Beigbeder zufolge die Große Liebe bereits des 21jährigen Salinger.
Vielleicht stimmt es sogar, was sich der Schwärmer Beigbeder alles ausmalt an zweisamem Flüstern von Oona und Salinger zur Nacht, seiner Redseligkeit, ihrer zickenhaften Abwehr, wenn Salinger seinen Ehrgeiz preisgibt, der große amerikanische Schriftsteller zu werden. Mit Sicherheit hat er nicht verkündet, er wolle „den großen amerikanischen Roman“ schreiben, aber sicher ist leider auch, dass Oona nicht bei ihm blieb, als sich Salinger in den Krieg meldete, in den die USA im Dezember 1941 offiziell eintraten. Nach seiner Grundausbildung kam er nach England, nahm an der Invasion 1944 teil, eroberte fast an der Seite des verehrten Hemingway die Bar des Ritz in Paris, erlebte und überstand die mörderische Schlacht im Hürtgenwald und wurde nach der Kapitulation Vernehmungsoffizier im fränkischen Gunzenhausen, wo er höhere Nazis ausheben sollte.
Die ganze Zeit über schrieb er, und einige seiner Geschichten wurden sogar veröffentlicht. In den amerikanischen Zeitschriften, die auch im Krieg nach Europa gelangten, konnte er lesen, dass seine vaterlose Freundin einen sehr viel älteren Mann geheiratet hatte, den allerdings weltberühmten und sehr reichen Charlie Chaplin. Nicht lesen konnte er, was das FBI, das den angeblichen Kommunisten dauerüberwachte, spannergeil notierte: „Das O’Neill-Mädchen ist eine eher ruhige Person, die gern liest und zuhört, wenn Chaplin sich in seiner Lebensphilosophie ergeht. Er hält sich für außergewöhnlich belesen und intellektuell. Paulette Goddard begnügte sich etliche Jahre damit, einfach dazusitzen und ihm zuzuhören.“
Wenn er nicht längst tot wäre – Salinger starb 2010 im Alter von 91 Jahren –, müsste er heute mit dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs leben. Oona O’Neill war nicht die einzige Frau, mit der Chaplin ein Verhältnis begann, ehe sie volljährig war. Salinger hielt es nicht anders. Den 54jährigen Chaplin, der ihm die Freundin wegnahm, wusste er genug zu schmähen, er selber aber erlag beständig dem, was in schwülstigen Romanen als „Zauber der Jugend“ gefeiert würde. Er schrieb mit Vorliebe Studentinnen und Schülerinnen Anerkennungsbriefe, traf sich mit ihnen, pries sie für ihre Unschuld, warnte sie in der Manier von Holden Caulfields vor der allfälligen Korruption durch die Welt, bewahrte sie aber keineswegs vor seinen eigenen Zumutungen. In ihrem Buch „At Home in the World“ bringt seine zeitweilige Geliebte Joyce Maynard eine Zeichnung, auf der sie nach Kinderart auf dem Schoß eines knabendünnen älteren Mannes sitzt. Er hat auch sie nicht länger geschützt, sondern fortgeschickt, weil er doch schreiben wollte und dafür allein sein musste.
David Shields und Shane Salerno haben 2013 den Dokumentarfilm „Salinger“ herausgebracht, in dem unter anderem auch Philip Seymour Hoffman auftrat ( SZ vom 27. August 2013 ). Nebenbei ist aus dieser Dokumentation ein Brocken von einem Buch entstanden. Selbst der weniger geneigte Leser erfährt über den geheimnisvollen Autor alles, was er nicht wissen wollte, das aber drei, vier, fünf Mal von unterschiedlichsten Zeitzeugen, also Kriegskameraden, Kollegen, Freundinnen, Kindern und Salinger-Detektiven unterschiedlichster Observanz. „Salinger“ ist ein sagenhaft ödes Werk, dabei aber so reich an Material, dass man sich einen Autor wünscht, der aus dieser zusammengeleimten Zettelsammlung ein richtiges Buch machen würde. Ein bemerkenswerter Tiefpunkt moderner Biographik ist erreicht, wenn ein angeblicher Hodenhochstand (von zwei kundigen Frauen bestätigt!) mitverantwortlich sein soll für dieses besondere Salingerleben. Die Amerikaner sind manchmal schon besonders verrückt. Dann doch lieber der quasselige Beigbeder.
Zu den seltsamsten Fügungen – die aber naturgemäß weder den französischen Biografie-Erfinder noch die amerikanischen Dokumentaristen beschäftigt – in der Salinger-Legende gehört, dass der kriegstraumatisierte Salinger von dem kriegsgeschädigten Wehrmachtssoldaten Heinrich Böll (unter entscheidender Mithilfe seiner Frau Annemarie) übersetzt wurde. Diese Übertragungen kamen jedoch erst heraus, als Böll statt seiner lakonischen Erzählungen bereits seine sozialkritischen Romane zu schreiben begonnen hatte. Der deutsche Salinger hatte deshalb sehr lange noch viel von der Böll’schen Umständlichkeit; erst Eike Schönfeld hat 2003 den „Fänger im Roggen“ in seiner Neuübersetzung angemessen verschlankt. Er hat nun auch die drei frühen Erzählungen übertragen, die jetzt zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen sind. Sie sind merkwürdig blass und werden nichts am Salinger-Bild ändern, aber sie geben eine gelinde Ahnung von der herben Brillanz, zu der sich Salinger zwang, bis er nicht mehr konnte.
Der Autor A. E. Hotchner, der vor Jahrzehnten dem schreibkranken Ernest Hemingway zur Hand ging und später eine legendäre Hagiographie verfasst hat, malt sich bei Salerno und Shields die finale Schriftsteller-Hölle aus. Die Erben Salingers wären nach seinem Tod in sein Schreibverlies eingedrungen und hätten dort statt der erhofften unveröffentlichten Romane und Erzählungen, die dort angeblich für die Nachwelt aufbewahrt wurden, nichts gefunden. Kein Blatt Papier, nichts. Ein schöner Gedanke: der Perfektionist Salinger wäre am Ende glücklich geworden, weil er nicht mehr schreiben musste.
Frédéric Beigbeder: Oona & Salinger. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Piper Verlag, München 2015. 304 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
J. D. Salinger: Die jungen Leute. Drei Stories. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Mit einem Nachwort von Thomas Glavinic. Piper Verlag, München 2015. 80 Seiten, 14,99 Euro.
David Shields/Shane Salerno: Salinger. Ein Leben. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. Droemer Verlag, München 2015. 828 Seiten, 34 Euro. E-Book 29,99 Euro.
Jede Form von Seelsorgerei
war dem Erfinder von
Holden Caulfield zuwider
Salinger wäre bei
Beigbeders „Oona & Salinger“
schreiend davongelaufen
Salingers Freundin
heiratete den sehr viel
älteren Charlie Chaplin
Seit 1953 hatte J. D. Salinger Interviews verweigert, seit 1965 nichts mehr publiziert, sein Anwesen mit
einer Betonmauer geschützt. Am 20. August 1988 aber, er war inzwischen 69 Jahre alt, erwischte ihn ein Fotograf, als
er einen Einkaufswagen aus dem Supermarkt schob. Und Salinger schimpfte. Foto: Bulls / Infgoff
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
im Bunker
Der Franzose Frédéric Beigbeder und zwei
Amerikaner suchen vergeblich nach J. D. Salinger
VON WILLI WINKLER
Der Schriftsteller wohnt am Ende der Welt, hohe Bäume umstehen sein Haus, hundertjährige Eichen, „dunkles Blattwerk“ verbirgt ihn, eine „Waldesgruft“ wie in der deutschen Romantik. Irgendwo da drin haust er, allein mit seinen Katzen, seinen Büchern, mit der Vergangenheit. Der Besucher möchte wie viele vor ihm den alten Mann aufstören, möchte ihn nach seinen Büchern befragen, die er vor einem halben Jahrhundert geschrieben hat, nach seinen Frauen, nach dem Leben an und für sich. Er steht vor der Tür des Mannes, der „mir die Freude am Lesen vermittelt hat, diesem amerikanischen Schriftsteller, der Zärtlichkeit und Revolte in Person war“ und – dreht um. Nein, er kann es nicht.
Der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder ist mit seinem Team über den Atlantik bis in diese nordamerikanische Einsiedelei gekommen, nein, nicht um einen Film über J. D. Salinger zu drehen, sondern „ich musste einfach dem Begründer des infantilen Phantasmas gegenübertreten, der die entwickelte Welt zum Träumen bringt“. Schön gefaselt, erst recht, wenn zu diesem Traum gehört, dass er nicht aufhören, dass der Traumbegründer nicht real werden darf. Beigbeder war nicht der erste, dem die simple Lektüre der Bücher Salingers nicht genügte, der meint, dem Autor unbedingt die Hand schütteln zu müssen. Wollte sich nicht auch Holden Caulfield vertrauensvoll an seinen Lieblingsschriftsteller wenden können, und wollte er nicht seinerseits der Beschützer für andere sein?
Und dann bestand der Autor, dieser menschenfreundliche Erfinder Caulfields, unbegreiflicherweise darauf, dass er in seinen Erzählungen bereits alles gesagt habe. Jede Form von Seelsorgerei war ihm zuwider. Keine Fan-Betreuung! Doch wer ihm nahe kam, sei’s persönlich oder beruflich, durfte auf ein ungeheures Verwertungsinteresse rechnen, konnte sicher sein, dass die staunende Welt diese Bröckchen so begierig aufnahm wie seine Erzählungen, die es nicht mehr gab, nicht mehr geben sollte.
1951, nach dem Erscheinen seines „Fänger im Roggen“, hatte Salinger sich von aller Welt verabschiedet und war in den hohen Norden, bis fast an die kanadische Grenze gezogen. Das Buch wurde ein unerhörter Erfolg und ist es bis heute geblieben, ein Klassiker, der sich neben dreiviertelseidenen Werken wie Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“ und Hesses unverwüstlichem „Steppenwolf“ erstaunlich gut gehalten hat. Das infantile Phantasma, das Beigbeder beschwört, der hoffnungslose Versuch, sich der Erwachsenenwelt mit ihrer ganzen Verlogenheit zu verweigern, hat wenig von seinem naiven Reiz verloren. Seine Abscheu vor der phonyness ist so kommun wie leider auch erledigt. Phony („verlogen“ in der jüngsten Übersetzung) war auch ein Lieblingswort des frühen Bob Dylan. „Propaganda, all is phony“, singt er, aber diese Kritik an der Bewusstseinsindustrie hat es inzwischen zu einem eigenen Eintrag der weltgrößten Propagandamaschine gebracht, auf Facebook.
Für heutige Begriffe ist es nicht der schlechteste Marketing-Trick, sich überhaupt nicht zu zeigen, um so seinen Marktwert zu steigern. Aber Salinger wollte einfach nicht mehr, oder wollte schweigen wie Melvilles Schreiber Bartleby. Im aufrauschenden Konsumismus der fünfziger und sechziger Jahre war eine solche Verweigerung nicht vorgesehen. Was trieb er da oben? Zen? Ufo-Forschung? Makrobiotisches Kaninchenabrichten? Jedenfalls verschwand er baute er eine Betonwand um sein Anwesen, bunkerte sich ein und herrschte zudringliche Fans an, wenn sie ihm beim Einkaufen auflauerten oder wenn er seine Post im Dorf abholen wollte. Er heiratete, zeugte Kinder, ließ sich scheiden, heiratete wieder, und veröffentlichte bald nichts mehr. Aber allem Vernehmen nach schrieb er. Die letzte Erzählung, „Hapworth 16, 1924“, war 1965 im New Yorker erschienen. In der Einsamkeit entstand ganz gewiss ein unbekanntes Meisterwerk.
Der psychisch kriegsversehrte Sergeant X in der Novelle „Für Esmé – mit Liebe und Schmutz“, leicht als Selbstportrait des Autors zu verstehen, schreibt in ein Buch des Propagandaministers Goebbels einen angeblich von Dostojewski stammenden Satz, der den existenzialistischen Anspruch des Autors zusammenfasst: „Was ist das, die Hölle? Ich behaupte, es ist die Qual, der Liebe unfähig zu sein.“ Da wusste er noch nichts von den Höllenqualen, die das Schreiben diesem Perfektionisten bereiten würde. F. Scott Fitzgerald, hatte sich an die Zeitschriften verkauft und dann zu Tode gesoffen, Hemingway half am Ende nur noch das Jagdgewehr. Salingers Pech war, dass er besser als jeder andere das jugendliche Leiden an der Welt schildern konnte. Künstlerpech auch, dass sich herostratische Mörder wie Mark David Chapman auf ihn berufen konnten. Nachdem er John Lennon erschossen hatte, las Chapman in seinem „Fänger im Roggen“ und wartete auf die Festnahme.
Beigbeder, der in der Werbung so erfolgreich war wie als ihr Kritiker, versteht sich auf grobe Striche. Salinger habe das „Motiv des Tramps“ übernommen, Holden Caulfield ist also ein Nachläufer der von Chaplin erfundenen Figur. Die „Lust, sich zu entziehen“, habe nicht Salinger, sondern Eugene O’Neill erfunden, der wiederum Emily Dickinson folgte. (Nicht vielleicht Johannes der Täufer oder sonst ein ungewaschener Anachoret?) Depressiven Schriftstellern solle man verbieten, Kinder zu zeugen, schlägt Beigbeder vor, andererseits empfiehlt er seinen männlichen mittelalten Lesern, sich ein Beispiel an Salinger – und Beigbeder – zu nehmen und sich an erheblich jüngere Frauen zu halten. So schmarrt er lustig fort.
Salinger, hätte er „Oona & Salinger“ lesen können, wäre bestimmt schreiend davon gelaufen und hätte die romanhafte Hommage mit irgendwelchen paravedistischen Flüchen bedacht. Schließlich hätte sie ihm nur bestätigt, welches Unheil seine Bücher bei den Lesern anrichten konnten, hier als zwanghafte Bekenntnissucht. Wollte wirklich jemand wissen, dass Frédéric Beigbeder mit fünfundvierzig Jahren „meine Jungfräulichkeit wiederhaben“ wollte und deshalb Frauen nachschnürt, die halb so alt sind?
Für J. D. Salinger gilt der schöne Satz Peter Handkes, das Problem an großer Literatur sei, dass sich „jedes Arschloch damit identifizieren“ könne. Salinger konnte es nicht verhindern, aber er verteidigte sich mit allen Mitteln. Ian Hamilton durfte aus den Briefen, die bereits im Archiv lagen, nicht zitieren, und Salinger war der Triumph vergönnt, dass er seinen verhinderten Biografen um acht Jahre überlebte. Beigeber schreibt die Briefe seines Idols dann lieber gleich selber: vulgär, drastisch, bestenfalls das eine oder andre Zitat hineingeflochten.
Dazu lässt er Salinger ganz viel im Stork Club herumsitzen, ein Verehrer und zugleich Verächter der drei giggelnden Mädchen, die bereits reich sind und noch weiter nach oben heiraten wollen. Eines davon ist Oona, Tochter des Literaturnobelpreisträgers Eugene O’Neill, aber praktisch vaterlos aufgewachsen, sechzehn erst, auffallend hübsch natürlich, bald Debütantin des Jahres und Beigbeder zufolge die Große Liebe bereits des 21jährigen Salinger.
Vielleicht stimmt es sogar, was sich der Schwärmer Beigbeder alles ausmalt an zweisamem Flüstern von Oona und Salinger zur Nacht, seiner Redseligkeit, ihrer zickenhaften Abwehr, wenn Salinger seinen Ehrgeiz preisgibt, der große amerikanische Schriftsteller zu werden. Mit Sicherheit hat er nicht verkündet, er wolle „den großen amerikanischen Roman“ schreiben, aber sicher ist leider auch, dass Oona nicht bei ihm blieb, als sich Salinger in den Krieg meldete, in den die USA im Dezember 1941 offiziell eintraten. Nach seiner Grundausbildung kam er nach England, nahm an der Invasion 1944 teil, eroberte fast an der Seite des verehrten Hemingway die Bar des Ritz in Paris, erlebte und überstand die mörderische Schlacht im Hürtgenwald und wurde nach der Kapitulation Vernehmungsoffizier im fränkischen Gunzenhausen, wo er höhere Nazis ausheben sollte.
Die ganze Zeit über schrieb er, und einige seiner Geschichten wurden sogar veröffentlicht. In den amerikanischen Zeitschriften, die auch im Krieg nach Europa gelangten, konnte er lesen, dass seine vaterlose Freundin einen sehr viel älteren Mann geheiratet hatte, den allerdings weltberühmten und sehr reichen Charlie Chaplin. Nicht lesen konnte er, was das FBI, das den angeblichen Kommunisten dauerüberwachte, spannergeil notierte: „Das O’Neill-Mädchen ist eine eher ruhige Person, die gern liest und zuhört, wenn Chaplin sich in seiner Lebensphilosophie ergeht. Er hält sich für außergewöhnlich belesen und intellektuell. Paulette Goddard begnügte sich etliche Jahre damit, einfach dazusitzen und ihm zuzuhören.“
Wenn er nicht längst tot wäre – Salinger starb 2010 im Alter von 91 Jahren –, müsste er heute mit dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs leben. Oona O’Neill war nicht die einzige Frau, mit der Chaplin ein Verhältnis begann, ehe sie volljährig war. Salinger hielt es nicht anders. Den 54jährigen Chaplin, der ihm die Freundin wegnahm, wusste er genug zu schmähen, er selber aber erlag beständig dem, was in schwülstigen Romanen als „Zauber der Jugend“ gefeiert würde. Er schrieb mit Vorliebe Studentinnen und Schülerinnen Anerkennungsbriefe, traf sich mit ihnen, pries sie für ihre Unschuld, warnte sie in der Manier von Holden Caulfields vor der allfälligen Korruption durch die Welt, bewahrte sie aber keineswegs vor seinen eigenen Zumutungen. In ihrem Buch „At Home in the World“ bringt seine zeitweilige Geliebte Joyce Maynard eine Zeichnung, auf der sie nach Kinderart auf dem Schoß eines knabendünnen älteren Mannes sitzt. Er hat auch sie nicht länger geschützt, sondern fortgeschickt, weil er doch schreiben wollte und dafür allein sein musste.
David Shields und Shane Salerno haben 2013 den Dokumentarfilm „Salinger“ herausgebracht, in dem unter anderem auch Philip Seymour Hoffman auftrat ( SZ vom 27. August 2013 ). Nebenbei ist aus dieser Dokumentation ein Brocken von einem Buch entstanden. Selbst der weniger geneigte Leser erfährt über den geheimnisvollen Autor alles, was er nicht wissen wollte, das aber drei, vier, fünf Mal von unterschiedlichsten Zeitzeugen, also Kriegskameraden, Kollegen, Freundinnen, Kindern und Salinger-Detektiven unterschiedlichster Observanz. „Salinger“ ist ein sagenhaft ödes Werk, dabei aber so reich an Material, dass man sich einen Autor wünscht, der aus dieser zusammengeleimten Zettelsammlung ein richtiges Buch machen würde. Ein bemerkenswerter Tiefpunkt moderner Biographik ist erreicht, wenn ein angeblicher Hodenhochstand (von zwei kundigen Frauen bestätigt!) mitverantwortlich sein soll für dieses besondere Salingerleben. Die Amerikaner sind manchmal schon besonders verrückt. Dann doch lieber der quasselige Beigbeder.
Zu den seltsamsten Fügungen – die aber naturgemäß weder den französischen Biografie-Erfinder noch die amerikanischen Dokumentaristen beschäftigt – in der Salinger-Legende gehört, dass der kriegstraumatisierte Salinger von dem kriegsgeschädigten Wehrmachtssoldaten Heinrich Böll (unter entscheidender Mithilfe seiner Frau Annemarie) übersetzt wurde. Diese Übertragungen kamen jedoch erst heraus, als Böll statt seiner lakonischen Erzählungen bereits seine sozialkritischen Romane zu schreiben begonnen hatte. Der deutsche Salinger hatte deshalb sehr lange noch viel von der Böll’schen Umständlichkeit; erst Eike Schönfeld hat 2003 den „Fänger im Roggen“ in seiner Neuübersetzung angemessen verschlankt. Er hat nun auch die drei frühen Erzählungen übertragen, die jetzt zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen sind. Sie sind merkwürdig blass und werden nichts am Salinger-Bild ändern, aber sie geben eine gelinde Ahnung von der herben Brillanz, zu der sich Salinger zwang, bis er nicht mehr konnte.
Der Autor A. E. Hotchner, der vor Jahrzehnten dem schreibkranken Ernest Hemingway zur Hand ging und später eine legendäre Hagiographie verfasst hat, malt sich bei Salerno und Shields die finale Schriftsteller-Hölle aus. Die Erben Salingers wären nach seinem Tod in sein Schreibverlies eingedrungen und hätten dort statt der erhofften unveröffentlichten Romane und Erzählungen, die dort angeblich für die Nachwelt aufbewahrt wurden, nichts gefunden. Kein Blatt Papier, nichts. Ein schöner Gedanke: der Perfektionist Salinger wäre am Ende glücklich geworden, weil er nicht mehr schreiben musste.
Frédéric Beigbeder: Oona & Salinger. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Piper Verlag, München 2015. 304 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
J. D. Salinger: Die jungen Leute. Drei Stories. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Mit einem Nachwort von Thomas Glavinic. Piper Verlag, München 2015. 80 Seiten, 14,99 Euro.
David Shields/Shane Salerno: Salinger. Ein Leben. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. Droemer Verlag, München 2015. 828 Seiten, 34 Euro. E-Book 29,99 Euro.
Jede Form von Seelsorgerei
war dem Erfinder von
Holden Caulfield zuwider
Salinger wäre bei
Beigbeders „Oona & Salinger“
schreiend davongelaufen
Salingers Freundin
heiratete den sehr viel
älteren Charlie Chaplin
Seit 1953 hatte J. D. Salinger Interviews verweigert, seit 1965 nichts mehr publiziert, sein Anwesen mit
einer Betonmauer geschützt. Am 20. August 1988 aber, er war inzwischen 69 Jahre alt, erwischte ihn ein Fotograf, als
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2021Wildnis und Zuhause
Zum 50. Mal: "Schöne Aussichten"
FRANKFURT Kamtschatka? Terra incognita. Niemand auf dem Podium im Frankfurter Literaturhaus wusste mit der nordostsibirischen Halbinsel etwas anzufangen. Dabei ist unter dem Titel "An das Wilde glauben" (Matthes & Seitz) erst vor Kurzem ein Buch der Ethnografin Nastassja Martin über Kamtschatka erschienen und in der F.A.Z. gleich zweimal besprochen worden. Jetzt aber war es ein Roman, den die professionelle Tennisdame und Autorin Andrea Petkovic als Gast der Kritikerrunde "Schöne Aussichten" vorstellte, des "Flaggschiffs" des Literaturhauses, wie Programmchef Hauke Hückstädt zur 50. Ausgabe glücklich hervorhob. Nicht ganz zufällig also hat Petkovics New Yorker Nachbarin Julia Phillips ihren Kriminalroman "Das Verschwinden der Erde" (dtv) genannt. Kamtschatka ist schon verschwunden, jedenfalls aus dem Bewusstsein des Westens.
Zwei Mädchen, elf und acht Jahre alt, sind nicht mehr aufzufinden. Der Roman löst den Fall. "Ein Kaleidoskop der Persönlichkeiten an einem unbekannten Flecken der Welt", so Petkovic. Wie ein Trauerflor ziehe sich das Verschwinden der Landschaft durch den Text. Mara Delius, Literaturkritikerin der Tageszeitung Die Welt und zum letzten Mal mit dabei, lobte die "verdichtete Atmosphäre" und tadelte die "erklärenden Sätze". Hubert Spiegel, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., hat das Buch gern gelesen, vermisste aber mehr Auskünfte über die Indigenen und die russischen Kolonisten. Da witterte Moderator Alf Mentzer vom Hessischen Rundfunk "kulturelle Aneignung" im Roman. "Nein", rief Delius. Als gebürtige Serbin wies Petkovic noch eigens auf "die Verhältnisse zwischen Mann und Frau in einer postsowjetischen Gesellschaft" hin.
Unter dem Titel "Levys Testament" (Suhrkamp) habe Ulrike Edschmid "drei Romane in einem auf 140 Seiten" verfasst, so Spiegel. Delius stellte das Buch vor mit der Frage, die den Text durchziehe: "Wie kann ein Jude ein Zuhause finden?" Die Mutter des Protagonisten mit seiner geheimen Familien- und öffentlichen Aufstiegsgeschichte in der Opernkunst habe ja auch vorausgesagt: "Du wirst dich nie zu Hause fühlen." Petkovic hätte sich "mehr klassische Erzähltechnik" gewünscht und nannte die Autorin "eine Meisterin des Weglassens". Als die Sportlerin auf ihren Lieblingsverein Tottenham Hotspur zu sprechen kam und Mentzer die Verbindung zu einer Shakespeare-Figur in "Henry IV." zog, hatte Spiegel "einen neuen Lieblingsverein" gefunden. Dennoch wandte er ein, man müsse viel über Zeitgeschichte wissen, um der Autorin folgen zu können.
Dann stellte er Judith Hermanns neuen Roman vor, der unter dem Titel "Daheim" bei S. Fischer erschienen ist: "Auch diese plastischen Figuren haben kein Zuhause." Spiegel wusste vor allem "den Wechsel aus Präzision und Unschärfe" zu schätzen: "Spannend geschrieben und entschlackt. Das tut gut." Delius konstatierte "wenig Affekte", Mentzer sprach von einer Aversion der Autorin gegen psychologische Erklärungen. Petkovic, die Romane mit Psychologie liebt, fand das Buch "zäh", aber als "impressionistisches Gemälde" wusste sie es zu schätzen. Von "trostlosen Verhältnissen" sprach Spiegel, von einer Frau, die nur im Hafenbecken schwimme, weil sie Angst habe vor dem offenen Meer. Ein "atmosphärisches Mobile" zwischen Freiheit und Begrenzung nannte Mentzer den Roman, aber: "Gelungen." "Absolut", kam das Echo von Spiegel.
Auch J. D. Salinger mit seinem pubertierend-fluchenden "Fänger im Roggen" (Kiwi) fand allgemeines Wohlgefallen und bestand damit den "Haltbarkeitstest". Petkovic war "total verliebt" in den Außenseiter Holden Caulfield und hätte ihn am liebsten zu einem brauchbaren Menschen erzogen. Er sei ja auch im Grunde "ein gutherziger Bursche", bestätigte Spiegel und zitierte aus Hesses Rezension von 1954: Das Buch führe "vom Ekel zur Liebe". Mehr könne Dichtung nicht erreichen.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum 50. Mal: "Schöne Aussichten"
FRANKFURT Kamtschatka? Terra incognita. Niemand auf dem Podium im Frankfurter Literaturhaus wusste mit der nordostsibirischen Halbinsel etwas anzufangen. Dabei ist unter dem Titel "An das Wilde glauben" (Matthes & Seitz) erst vor Kurzem ein Buch der Ethnografin Nastassja Martin über Kamtschatka erschienen und in der F.A.Z. gleich zweimal besprochen worden. Jetzt aber war es ein Roman, den die professionelle Tennisdame und Autorin Andrea Petkovic als Gast der Kritikerrunde "Schöne Aussichten" vorstellte, des "Flaggschiffs" des Literaturhauses, wie Programmchef Hauke Hückstädt zur 50. Ausgabe glücklich hervorhob. Nicht ganz zufällig also hat Petkovics New Yorker Nachbarin Julia Phillips ihren Kriminalroman "Das Verschwinden der Erde" (dtv) genannt. Kamtschatka ist schon verschwunden, jedenfalls aus dem Bewusstsein des Westens.
Zwei Mädchen, elf und acht Jahre alt, sind nicht mehr aufzufinden. Der Roman löst den Fall. "Ein Kaleidoskop der Persönlichkeiten an einem unbekannten Flecken der Welt", so Petkovic. Wie ein Trauerflor ziehe sich das Verschwinden der Landschaft durch den Text. Mara Delius, Literaturkritikerin der Tageszeitung Die Welt und zum letzten Mal mit dabei, lobte die "verdichtete Atmosphäre" und tadelte die "erklärenden Sätze". Hubert Spiegel, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., hat das Buch gern gelesen, vermisste aber mehr Auskünfte über die Indigenen und die russischen Kolonisten. Da witterte Moderator Alf Mentzer vom Hessischen Rundfunk "kulturelle Aneignung" im Roman. "Nein", rief Delius. Als gebürtige Serbin wies Petkovic noch eigens auf "die Verhältnisse zwischen Mann und Frau in einer postsowjetischen Gesellschaft" hin.
Unter dem Titel "Levys Testament" (Suhrkamp) habe Ulrike Edschmid "drei Romane in einem auf 140 Seiten" verfasst, so Spiegel. Delius stellte das Buch vor mit der Frage, die den Text durchziehe: "Wie kann ein Jude ein Zuhause finden?" Die Mutter des Protagonisten mit seiner geheimen Familien- und öffentlichen Aufstiegsgeschichte in der Opernkunst habe ja auch vorausgesagt: "Du wirst dich nie zu Hause fühlen." Petkovic hätte sich "mehr klassische Erzähltechnik" gewünscht und nannte die Autorin "eine Meisterin des Weglassens". Als die Sportlerin auf ihren Lieblingsverein Tottenham Hotspur zu sprechen kam und Mentzer die Verbindung zu einer Shakespeare-Figur in "Henry IV." zog, hatte Spiegel "einen neuen Lieblingsverein" gefunden. Dennoch wandte er ein, man müsse viel über Zeitgeschichte wissen, um der Autorin folgen zu können.
Dann stellte er Judith Hermanns neuen Roman vor, der unter dem Titel "Daheim" bei S. Fischer erschienen ist: "Auch diese plastischen Figuren haben kein Zuhause." Spiegel wusste vor allem "den Wechsel aus Präzision und Unschärfe" zu schätzen: "Spannend geschrieben und entschlackt. Das tut gut." Delius konstatierte "wenig Affekte", Mentzer sprach von einer Aversion der Autorin gegen psychologische Erklärungen. Petkovic, die Romane mit Psychologie liebt, fand das Buch "zäh", aber als "impressionistisches Gemälde" wusste sie es zu schätzen. Von "trostlosen Verhältnissen" sprach Spiegel, von einer Frau, die nur im Hafenbecken schwimme, weil sie Angst habe vor dem offenen Meer. Ein "atmosphärisches Mobile" zwischen Freiheit und Begrenzung nannte Mentzer den Roman, aber: "Gelungen." "Absolut", kam das Echo von Spiegel.
Auch J. D. Salinger mit seinem pubertierend-fluchenden "Fänger im Roggen" (Kiwi) fand allgemeines Wohlgefallen und bestand damit den "Haltbarkeitstest". Petkovic war "total verliebt" in den Außenseiter Holden Caulfield und hätte ihn am liebsten zu einem brauchbaren Menschen erzogen. Er sei ja auch im Grunde "ein gutherziger Bursche", bestätigte Spiegel und zitierte aus Hesses Rezension von 1954: Das Buch führe "vom Ekel zur Liebe". Mehr könne Dichtung nicht erreichen.
CLAUDIA SCHÜLKE
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