Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003Das absolute Kind
Endlich neudeutsch: J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen”
Man geht ein Risiko ein, wenn man reist, und die gefährlichsten Reisen sind die Zeitreisen. Ich komme gerade von einer solchen Zeitreise. Ich habe nach dreißig Jahren eines der mythenverhangensten Bücher des 20. Jahrhunderts wieder gelesen, dabei auch eines der Bücher, die in meinem ersten Lesejahrzehnt eine bedeutende Rolle gespielt haben: J.D. Salingers „The Catcher in the Rye”.
Die Originalausgabe erschien 1951 und machte den damals 32 Jahre alten Salinger zu einem der populärsten Autoren der USA. Bald darauf publizierte ein Schweizer Verlag eine Übersetzung für Tanzstunden-Anstandswauwaus, die so weit von der Vorlage entfernt war, dass man die Rechte wieder verlor. 1962 bearbeitete Heinrich Böll den deutschen Text für Kiepenheuer und Witsch, und so trat „Der Fänger im Roggen” seinen Siegeszug im deutschen Sprachraum an. Im selben Verlag erscheint jetzt eine Neuübersetzung von Eike Schönfeld, und die orientiert sich an Salingers Originalmanuskript, in das sogar der englische Verleger massiv eingegriffen hatte, um gewisse Härten im Ausdruck zu mildern.
Und wie ist es mir auf meiner Zeitreise ergangen? Vieles war mir sehr fremd, und ich glaube, dass es manch einem wie mir ergehen könnte. Wenn man mit sechzehn den „Fänger im Roggen” gelesen hat, bewahrt man in seinem Gedächtnis wohl weniger die Erinnerung an ein Buch mit Story und Plot als vielmehr die Erfahrung einer Begegnung. Es ist die Begegnung mit dem Protagonisten, dem sechzehnjährigen Holden Caulfield, oder genauer: mit dem Zustand Holden. Beinahe zu meinem Entsetzen bemerkte ich jetzt, dass ich glatt vergessen hatte, wo ein Großteil des Buches spielt: in New York City, in Hotels und Kneipen und rund um den Central Park. Ich hatte vergessen, wie sich Holdens Upper-Class-Familie zusammensetzt und welche psychologischen Muster sich daraus ergeben. Ich hatte vergessen, dass sein jüngerer Bruder unlängst gestorben ist und Holden seitdem mit einer ziemlich klassischen Psychose „oder so” herumläuft.
Das große Ungenügen
Doch damit hatte ich – welch Wunder – in der Hauptsache die Schwächen des Buches vergessen. Denn wenn zwei oder schon drei Generationen den „Fänger im Roggen” mit so viel Begeisterung und Empathie lesen, dann liegt es nicht an der Story, ihren Spielorten und ihren heute etwas konventionell erscheinenden psychologischen Fundierungen. Es liegt vielmehr daran, dass Salinger die Darstellung eines bis heute hochaktuellen Zustands gelungen ist. Pubertät ist ein Wort dafür, aber eines, das längst nicht alles trifft und vieles vereinfacht. Natürlich sind die einschlägigen und zu seiner Qual ganz unerfüllten Sehnsüchte eine wesentliche Triebfeder für Holdens Reden und Handeln. Aber sein Zustand geht nicht in Frustrationen auf, die ebenso vorübergehend sind wie Pickel und missglückte Rendezvous. Da ist etwas Tieferes, eine Art Zentrum des Ungenügens, um das Holden immer wieder kreist. Und da ist ein vages Konzept, wie man es anstellen könnte, nicht selbst ein Teil des großen Ungenügens zu werden.
Holdens Standardattribut für das Nicht-Hinzunehmende ist „verlogen”. Seit einiger Zeit ist er in die Welt der Konventionen geraten. Die aber sind, mit den Augen eines wissenden Kindes gesehen, nichts als Lügen, mit denen die so genannten Erwachsenen ihre wahren Absichten und Überzeugungen tarnen. Holden findet das zum Kotzen, aber er will sich nicht durch den Reisberg fressen, um als Geldverdiener auf der 5th Avenue anzukommen. Er züchtet vielmehr in sich jenes wissende, absolute Kind, das in er in seinem verstorbenen Bruder und seiner kleinen Schwester verehrt. Er versucht, dessen Fantasie, Radikalität und kritische Naivität in die Welt der Erwachsenen mitzunehmen und dort zum Maßstab des Handelns zu machen. Kann man sich heute vorstellen, wie umwerfend dieses Konzept 1951 gewesen sein muss?
Und natürlich scheitert es. Es scheitert nicht erst, wenn Holden aus dem Ordnungsgefüge der Schule fällt oder seine Rendezvous in die Katastrophe driften. Es scheitert immer schon viel eher, nämlich wenn er denkt und spricht. Salinger lässt Holden in der Anstalt, in die er nach seiner Odyssee durch New York gerät, die Tage vor seinem Zusammenbruch rekapitulieren. Ich denke, das ist eine Hilfskonstruktion; tatsächlich tendiert seine Darstellung auf die schiere Gegenwart des Bewusstseinsstroms. Mag das Buch auch reich an „tollen Szenen” oder Dialogen sein – geprägt wird der „Fänger” durch Holdens Suada über die Unmöglichkeit, das Chaos seiner Empfindungen in Sätze zu verwandeln, nach denen man handeln könnte.
Nackte Kaiser überall
Holden redet vor sich hin, und er beobachtet nicht nur seine Umgebung, sondern auch sich selbst beim Reden, häufig mit dem Resultat, dass ihm am Ende seiner Tiraden die Objekte seiner Verachtung wieder leid tun. Dabei redet er – und das ist Salingers große Leistung – in einem (Kunst- )Jargon, der die beiden Extreme seines Bewusstseins in einem einzigen Tonfall zusammenklingen lässt: die bis zur Überheblichkeit gesteigerte Selbstgewissheit des Kindes, das überall nackte Kaiser sieht, und die bemitleidenswerte Unsicherheit eines Heranwachsenden, der zu erfahren beginnt, was geschieht, wenn man seine Wahrheiten verbreitet.
Man sollte auf keinen Fall zu streng mit der Böllschen Version ins Gericht gehen. Um 1960 war, was deutsche Literatursprache sein wollte, offenbar noch nicht in der Lage, sich Salingers amerikanischem Alltags-Jugend- Kunstidiom hautnah anzuschmiegen; gemessen an dieser Voraussetzung ist Böll allerhand gelungen. Mit der Neuübersetzung liest man kein anderes oder gar neues Buch. Man erlebt statt dessen, um wie viel mehr das Deutsche selbst heute imstande ist, eine ebenso lebenssatte wie kunstvolle Alltagsrede darzustellen. Dabei ist nicht besonders wichtig, dass eine Reihe von Begriffen gegen zeitgemäßere oder forcierte (Arsch statt Hintern) ausgetauscht sind; wichtig ist vielmehr, wie Schönfeld sich bemüht, Holdens Sprachmelange aus Lässigkeit und Sprödigkeit, aus Hingerotztem und Hochreflektiertem im Deutschen nachzubilden.
Holden Caulfield ist heute Anfang Siebzig. Für die Jugendbewegung der Sechziger fühlte er sich viel zu alt, außerdem fand er sie verlogen. Er hat lieber geheiratet und Kinder bekommen. Als seine Ehe scheiterte, wurden die Kinder auf Edel-Internaten im Geist von Berkeley 1967 oder Paris 1968 erzogen. Holden zog in den Westen, heiratete wieder und betrieb ökologische Landwirtschaft. Aus Opposition gegen ihren Vater beschlossen seine Kinder in den achtziger Jahren, viel Geld zu verdienen. Sie sind heute um die vierzig. Sie glauben, ganz anders zu sein als ihr Vater, irgendwie gefestigter. Ihren eigenen Kindern, Holdens Enkeln, verweigern sie allerdings aus Prinzip jeden guten Rat, den erstens finden sie gute Ratschläge auch verlogen, und zweitens kennen sie keine. Holdens Enkel besuchen in den Sommerferien ihren Großvater. Sie lieben ihn. Er erzählt so viel, und er kann sich so wunderbar aufregen.
BURKHARD SPINNEN
J.D. SALINGER: Der Fänger im Roggen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 272 Seiten, 15 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Endlich neudeutsch: J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen”
Man geht ein Risiko ein, wenn man reist, und die gefährlichsten Reisen sind die Zeitreisen. Ich komme gerade von einer solchen Zeitreise. Ich habe nach dreißig Jahren eines der mythenverhangensten Bücher des 20. Jahrhunderts wieder gelesen, dabei auch eines der Bücher, die in meinem ersten Lesejahrzehnt eine bedeutende Rolle gespielt haben: J.D. Salingers „The Catcher in the Rye”.
Die Originalausgabe erschien 1951 und machte den damals 32 Jahre alten Salinger zu einem der populärsten Autoren der USA. Bald darauf publizierte ein Schweizer Verlag eine Übersetzung für Tanzstunden-Anstandswauwaus, die so weit von der Vorlage entfernt war, dass man die Rechte wieder verlor. 1962 bearbeitete Heinrich Böll den deutschen Text für Kiepenheuer und Witsch, und so trat „Der Fänger im Roggen” seinen Siegeszug im deutschen Sprachraum an. Im selben Verlag erscheint jetzt eine Neuübersetzung von Eike Schönfeld, und die orientiert sich an Salingers Originalmanuskript, in das sogar der englische Verleger massiv eingegriffen hatte, um gewisse Härten im Ausdruck zu mildern.
Und wie ist es mir auf meiner Zeitreise ergangen? Vieles war mir sehr fremd, und ich glaube, dass es manch einem wie mir ergehen könnte. Wenn man mit sechzehn den „Fänger im Roggen” gelesen hat, bewahrt man in seinem Gedächtnis wohl weniger die Erinnerung an ein Buch mit Story und Plot als vielmehr die Erfahrung einer Begegnung. Es ist die Begegnung mit dem Protagonisten, dem sechzehnjährigen Holden Caulfield, oder genauer: mit dem Zustand Holden. Beinahe zu meinem Entsetzen bemerkte ich jetzt, dass ich glatt vergessen hatte, wo ein Großteil des Buches spielt: in New York City, in Hotels und Kneipen und rund um den Central Park. Ich hatte vergessen, wie sich Holdens Upper-Class-Familie zusammensetzt und welche psychologischen Muster sich daraus ergeben. Ich hatte vergessen, dass sein jüngerer Bruder unlängst gestorben ist und Holden seitdem mit einer ziemlich klassischen Psychose „oder so” herumläuft.
Das große Ungenügen
Doch damit hatte ich – welch Wunder – in der Hauptsache die Schwächen des Buches vergessen. Denn wenn zwei oder schon drei Generationen den „Fänger im Roggen” mit so viel Begeisterung und Empathie lesen, dann liegt es nicht an der Story, ihren Spielorten und ihren heute etwas konventionell erscheinenden psychologischen Fundierungen. Es liegt vielmehr daran, dass Salinger die Darstellung eines bis heute hochaktuellen Zustands gelungen ist. Pubertät ist ein Wort dafür, aber eines, das längst nicht alles trifft und vieles vereinfacht. Natürlich sind die einschlägigen und zu seiner Qual ganz unerfüllten Sehnsüchte eine wesentliche Triebfeder für Holdens Reden und Handeln. Aber sein Zustand geht nicht in Frustrationen auf, die ebenso vorübergehend sind wie Pickel und missglückte Rendezvous. Da ist etwas Tieferes, eine Art Zentrum des Ungenügens, um das Holden immer wieder kreist. Und da ist ein vages Konzept, wie man es anstellen könnte, nicht selbst ein Teil des großen Ungenügens zu werden.
Holdens Standardattribut für das Nicht-Hinzunehmende ist „verlogen”. Seit einiger Zeit ist er in die Welt der Konventionen geraten. Die aber sind, mit den Augen eines wissenden Kindes gesehen, nichts als Lügen, mit denen die so genannten Erwachsenen ihre wahren Absichten und Überzeugungen tarnen. Holden findet das zum Kotzen, aber er will sich nicht durch den Reisberg fressen, um als Geldverdiener auf der 5th Avenue anzukommen. Er züchtet vielmehr in sich jenes wissende, absolute Kind, das in er in seinem verstorbenen Bruder und seiner kleinen Schwester verehrt. Er versucht, dessen Fantasie, Radikalität und kritische Naivität in die Welt der Erwachsenen mitzunehmen und dort zum Maßstab des Handelns zu machen. Kann man sich heute vorstellen, wie umwerfend dieses Konzept 1951 gewesen sein muss?
Und natürlich scheitert es. Es scheitert nicht erst, wenn Holden aus dem Ordnungsgefüge der Schule fällt oder seine Rendezvous in die Katastrophe driften. Es scheitert immer schon viel eher, nämlich wenn er denkt und spricht. Salinger lässt Holden in der Anstalt, in die er nach seiner Odyssee durch New York gerät, die Tage vor seinem Zusammenbruch rekapitulieren. Ich denke, das ist eine Hilfskonstruktion; tatsächlich tendiert seine Darstellung auf die schiere Gegenwart des Bewusstseinsstroms. Mag das Buch auch reich an „tollen Szenen” oder Dialogen sein – geprägt wird der „Fänger” durch Holdens Suada über die Unmöglichkeit, das Chaos seiner Empfindungen in Sätze zu verwandeln, nach denen man handeln könnte.
Nackte Kaiser überall
Holden redet vor sich hin, und er beobachtet nicht nur seine Umgebung, sondern auch sich selbst beim Reden, häufig mit dem Resultat, dass ihm am Ende seiner Tiraden die Objekte seiner Verachtung wieder leid tun. Dabei redet er – und das ist Salingers große Leistung – in einem (Kunst- )Jargon, der die beiden Extreme seines Bewusstseins in einem einzigen Tonfall zusammenklingen lässt: die bis zur Überheblichkeit gesteigerte Selbstgewissheit des Kindes, das überall nackte Kaiser sieht, und die bemitleidenswerte Unsicherheit eines Heranwachsenden, der zu erfahren beginnt, was geschieht, wenn man seine Wahrheiten verbreitet.
Man sollte auf keinen Fall zu streng mit der Böllschen Version ins Gericht gehen. Um 1960 war, was deutsche Literatursprache sein wollte, offenbar noch nicht in der Lage, sich Salingers amerikanischem Alltags-Jugend- Kunstidiom hautnah anzuschmiegen; gemessen an dieser Voraussetzung ist Böll allerhand gelungen. Mit der Neuübersetzung liest man kein anderes oder gar neues Buch. Man erlebt statt dessen, um wie viel mehr das Deutsche selbst heute imstande ist, eine ebenso lebenssatte wie kunstvolle Alltagsrede darzustellen. Dabei ist nicht besonders wichtig, dass eine Reihe von Begriffen gegen zeitgemäßere oder forcierte (Arsch statt Hintern) ausgetauscht sind; wichtig ist vielmehr, wie Schönfeld sich bemüht, Holdens Sprachmelange aus Lässigkeit und Sprödigkeit, aus Hingerotztem und Hochreflektiertem im Deutschen nachzubilden.
Holden Caulfield ist heute Anfang Siebzig. Für die Jugendbewegung der Sechziger fühlte er sich viel zu alt, außerdem fand er sie verlogen. Er hat lieber geheiratet und Kinder bekommen. Als seine Ehe scheiterte, wurden die Kinder auf Edel-Internaten im Geist von Berkeley 1967 oder Paris 1968 erzogen. Holden zog in den Westen, heiratete wieder und betrieb ökologische Landwirtschaft. Aus Opposition gegen ihren Vater beschlossen seine Kinder in den achtziger Jahren, viel Geld zu verdienen. Sie sind heute um die vierzig. Sie glauben, ganz anders zu sein als ihr Vater, irgendwie gefestigter. Ihren eigenen Kindern, Holdens Enkeln, verweigern sie allerdings aus Prinzip jeden guten Rat, den erstens finden sie gute Ratschläge auch verlogen, und zweitens kennen sie keine. Holdens Enkel besuchen in den Sommerferien ihren Großvater. Sie lieben ihn. Er erzählt so viel, und er kann sich so wunderbar aufregen.
BURKHARD SPINNEN
J.D. SALINGER: Der Fänger im Roggen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 272 Seiten, 15 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2021Wildnis und Zuhause
Zum 50. Mal: "Schöne Aussichten"
FRANKFURT Kamtschatka? Terra incognita. Niemand auf dem Podium im Frankfurter Literaturhaus wusste mit der nordostsibirischen Halbinsel etwas anzufangen. Dabei ist unter dem Titel "An das Wilde glauben" (Matthes & Seitz) erst vor Kurzem ein Buch der Ethnografin Nastassja Martin über Kamtschatka erschienen und in der F.A.Z. gleich zweimal besprochen worden. Jetzt aber war es ein Roman, den die professionelle Tennisdame und Autorin Andrea Petkovic als Gast der Kritikerrunde "Schöne Aussichten" vorstellte, des "Flaggschiffs" des Literaturhauses, wie Programmchef Hauke Hückstädt zur 50. Ausgabe glücklich hervorhob. Nicht ganz zufällig also hat Petkovics New Yorker Nachbarin Julia Phillips ihren Kriminalroman "Das Verschwinden der Erde" (dtv) genannt. Kamtschatka ist schon verschwunden, jedenfalls aus dem Bewusstsein des Westens.
Zwei Mädchen, elf und acht Jahre alt, sind nicht mehr aufzufinden. Der Roman löst den Fall. "Ein Kaleidoskop der Persönlichkeiten an einem unbekannten Flecken der Welt", so Petkovic. Wie ein Trauerflor ziehe sich das Verschwinden der Landschaft durch den Text. Mara Delius, Literaturkritikerin der Tageszeitung Die Welt und zum letzten Mal mit dabei, lobte die "verdichtete Atmosphäre" und tadelte die "erklärenden Sätze". Hubert Spiegel, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., hat das Buch gern gelesen, vermisste aber mehr Auskünfte über die Indigenen und die russischen Kolonisten. Da witterte Moderator Alf Mentzer vom Hessischen Rundfunk "kulturelle Aneignung" im Roman. "Nein", rief Delius. Als gebürtige Serbin wies Petkovic noch eigens auf "die Verhältnisse zwischen Mann und Frau in einer postsowjetischen Gesellschaft" hin.
Unter dem Titel "Levys Testament" (Suhrkamp) habe Ulrike Edschmid "drei Romane in einem auf 140 Seiten" verfasst, so Spiegel. Delius stellte das Buch vor mit der Frage, die den Text durchziehe: "Wie kann ein Jude ein Zuhause finden?" Die Mutter des Protagonisten mit seiner geheimen Familien- und öffentlichen Aufstiegsgeschichte in der Opernkunst habe ja auch vorausgesagt: "Du wirst dich nie zu Hause fühlen." Petkovic hätte sich "mehr klassische Erzähltechnik" gewünscht und nannte die Autorin "eine Meisterin des Weglassens". Als die Sportlerin auf ihren Lieblingsverein Tottenham Hotspur zu sprechen kam und Mentzer die Verbindung zu einer Shakespeare-Figur in "Henry IV." zog, hatte Spiegel "einen neuen Lieblingsverein" gefunden. Dennoch wandte er ein, man müsse viel über Zeitgeschichte wissen, um der Autorin folgen zu können.
Dann stellte er Judith Hermanns neuen Roman vor, der unter dem Titel "Daheim" bei S. Fischer erschienen ist: "Auch diese plastischen Figuren haben kein Zuhause." Spiegel wusste vor allem "den Wechsel aus Präzision und Unschärfe" zu schätzen: "Spannend geschrieben und entschlackt. Das tut gut." Delius konstatierte "wenig Affekte", Mentzer sprach von einer Aversion der Autorin gegen psychologische Erklärungen. Petkovic, die Romane mit Psychologie liebt, fand das Buch "zäh", aber als "impressionistisches Gemälde" wusste sie es zu schätzen. Von "trostlosen Verhältnissen" sprach Spiegel, von einer Frau, die nur im Hafenbecken schwimme, weil sie Angst habe vor dem offenen Meer. Ein "atmosphärisches Mobile" zwischen Freiheit und Begrenzung nannte Mentzer den Roman, aber: "Gelungen." "Absolut", kam das Echo von Spiegel.
Auch J. D. Salinger mit seinem pubertierend-fluchenden "Fänger im Roggen" (Kiwi) fand allgemeines Wohlgefallen und bestand damit den "Haltbarkeitstest". Petkovic war "total verliebt" in den Außenseiter Holden Caulfield und hätte ihn am liebsten zu einem brauchbaren Menschen erzogen. Er sei ja auch im Grunde "ein gutherziger Bursche", bestätigte Spiegel und zitierte aus Hesses Rezension von 1954: Das Buch führe "vom Ekel zur Liebe". Mehr könne Dichtung nicht erreichen.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum 50. Mal: "Schöne Aussichten"
FRANKFURT Kamtschatka? Terra incognita. Niemand auf dem Podium im Frankfurter Literaturhaus wusste mit der nordostsibirischen Halbinsel etwas anzufangen. Dabei ist unter dem Titel "An das Wilde glauben" (Matthes & Seitz) erst vor Kurzem ein Buch der Ethnografin Nastassja Martin über Kamtschatka erschienen und in der F.A.Z. gleich zweimal besprochen worden. Jetzt aber war es ein Roman, den die professionelle Tennisdame und Autorin Andrea Petkovic als Gast der Kritikerrunde "Schöne Aussichten" vorstellte, des "Flaggschiffs" des Literaturhauses, wie Programmchef Hauke Hückstädt zur 50. Ausgabe glücklich hervorhob. Nicht ganz zufällig also hat Petkovics New Yorker Nachbarin Julia Phillips ihren Kriminalroman "Das Verschwinden der Erde" (dtv) genannt. Kamtschatka ist schon verschwunden, jedenfalls aus dem Bewusstsein des Westens.
Zwei Mädchen, elf und acht Jahre alt, sind nicht mehr aufzufinden. Der Roman löst den Fall. "Ein Kaleidoskop der Persönlichkeiten an einem unbekannten Flecken der Welt", so Petkovic. Wie ein Trauerflor ziehe sich das Verschwinden der Landschaft durch den Text. Mara Delius, Literaturkritikerin der Tageszeitung Die Welt und zum letzten Mal mit dabei, lobte die "verdichtete Atmosphäre" und tadelte die "erklärenden Sätze". Hubert Spiegel, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., hat das Buch gern gelesen, vermisste aber mehr Auskünfte über die Indigenen und die russischen Kolonisten. Da witterte Moderator Alf Mentzer vom Hessischen Rundfunk "kulturelle Aneignung" im Roman. "Nein", rief Delius. Als gebürtige Serbin wies Petkovic noch eigens auf "die Verhältnisse zwischen Mann und Frau in einer postsowjetischen Gesellschaft" hin.
Unter dem Titel "Levys Testament" (Suhrkamp) habe Ulrike Edschmid "drei Romane in einem auf 140 Seiten" verfasst, so Spiegel. Delius stellte das Buch vor mit der Frage, die den Text durchziehe: "Wie kann ein Jude ein Zuhause finden?" Die Mutter des Protagonisten mit seiner geheimen Familien- und öffentlichen Aufstiegsgeschichte in der Opernkunst habe ja auch vorausgesagt: "Du wirst dich nie zu Hause fühlen." Petkovic hätte sich "mehr klassische Erzähltechnik" gewünscht und nannte die Autorin "eine Meisterin des Weglassens". Als die Sportlerin auf ihren Lieblingsverein Tottenham Hotspur zu sprechen kam und Mentzer die Verbindung zu einer Shakespeare-Figur in "Henry IV." zog, hatte Spiegel "einen neuen Lieblingsverein" gefunden. Dennoch wandte er ein, man müsse viel über Zeitgeschichte wissen, um der Autorin folgen zu können.
Dann stellte er Judith Hermanns neuen Roman vor, der unter dem Titel "Daheim" bei S. Fischer erschienen ist: "Auch diese plastischen Figuren haben kein Zuhause." Spiegel wusste vor allem "den Wechsel aus Präzision und Unschärfe" zu schätzen: "Spannend geschrieben und entschlackt. Das tut gut." Delius konstatierte "wenig Affekte", Mentzer sprach von einer Aversion der Autorin gegen psychologische Erklärungen. Petkovic, die Romane mit Psychologie liebt, fand das Buch "zäh", aber als "impressionistisches Gemälde" wusste sie es zu schätzen. Von "trostlosen Verhältnissen" sprach Spiegel, von einer Frau, die nur im Hafenbecken schwimme, weil sie Angst habe vor dem offenen Meer. Ein "atmosphärisches Mobile" zwischen Freiheit und Begrenzung nannte Mentzer den Roman, aber: "Gelungen." "Absolut", kam das Echo von Spiegel.
Auch J. D. Salinger mit seinem pubertierend-fluchenden "Fänger im Roggen" (Kiwi) fand allgemeines Wohlgefallen und bestand damit den "Haltbarkeitstest". Petkovic war "total verliebt" in den Außenseiter Holden Caulfield und hätte ihn am liebsten zu einem brauchbaren Menschen erzogen. Er sei ja auch im Grunde "ein gutherziger Bursche", bestätigte Spiegel und zitierte aus Hesses Rezension von 1954: Das Buch führe "vom Ekel zur Liebe". Mehr könne Dichtung nicht erreichen.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Michael Schmitts Besprechung klingt nach Erlösung: Endlich gibt es eine rundum gelungene Übersetzung von J. D. Salingers Kultroman "Der Fänger im Roggen". Der Übersetzer Eike Schönfeld habe die - 1995 erschienene - rekonstruierte amerikanische Originalfassung des "Fängers" als Ausgangstext benutzt und einen lakonisch-dichten deutschen Text geschaffen, dessen frische Sprache niemals "bemüht" klinge und auch nicht versuche, sich einer "künstlichen Jugendsprache" anzubiedern. Schönfelds Sprachgestaltung, so Schmitt, verleiht dem Werk eine "unvergleichlich viel größere Dynamik", verglichen mit Irene Muehlons gezierter und altbackener Fassung, die Heinrich Böll später nur "sanft" revidierte. Bei Schönfeld wirke Holden "plastischer", und auch alle andere Charaktere gewinnen an Profil. Dank Schönfeld, so das Fazit des Rezensenten, halten deutsche Leser nun den Schlüssel zum "Fänger im Roggen" in Händen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
perlentaucher.de
Und am Ende ein Roman, den wirklich jeder kennt: Jerome D. Salingers Fänger im Roggen, endlich neu übersetzt nach der ungeglätteten Originalausgabe. Reinhard Baumgart feiert in der "Zeit" ein "Wiedersehen nach langer Zeit", aber er äußert sich leise enttäuscht über Eike Schönfelds Neuübersetzung. Er nennt sie zwar gelungen, findet aber auch den Helden in seiner "Weinerlichkeit und Übertreibungsemphase" zur Kenntlichkeit entstellt. Auch Burkhard Spinnen in der "SZ" und Paul Ingendaay in der "FAZ" haben sich gerne auf die Zeitreisen begeben, und beide loben die Übersetzung, Spinnen weil sie die "Sprachmelange" des Protagonisten aus "Hingerotztem und Hochreflektiertem" so gut treffe, Ingendaay, weil sie sich der Sprache des Protagonisten "wie eine zweite Haut" anschmiege.
»Der Gewinn des neuen deutschen Fänger im Roggen ist Eike Schönfelds durchdachte und couragierte Übersetzung, die für diesen Roman ein zweites Leben bedeuten wird.«
(Paul Ingendaay, FAZ)
»Die Übersetzung Eike Schönfelds zeigt die stilistischen Qualitäten des Romans in neuem Glanz. Es ist, als lese man ein neues Buch - geschrieben für junge Leser von heute.«
(tele.at)
Und am Ende ein Roman, den wirklich jeder kennt: Jerome D. Salingers Fänger im Roggen, endlich neu übersetzt nach der ungeglätteten Originalausgabe. Reinhard Baumgart feiert in der "Zeit" ein "Wiedersehen nach langer Zeit", aber er äußert sich leise enttäuscht über Eike Schönfelds Neuübersetzung. Er nennt sie zwar gelungen, findet aber auch den Helden in seiner "Weinerlichkeit und Übertreibungsemphase" zur Kenntlichkeit entstellt. Auch Burkhard Spinnen in der "SZ" und Paul Ingendaay in der "FAZ" haben sich gerne auf die Zeitreisen begeben, und beide loben die Übersetzung, Spinnen weil sie die "Sprachmelange" des Protagonisten aus "Hingerotztem und Hochreflektiertem" so gut treffe, Ingendaay, weil sie sich der Sprache des Protagonisten "wie eine zweite Haut" anschmiege.
»Der Gewinn des neuen deutschen Fänger im Roggen ist Eike Schönfelds durchdachte und couragierte Übersetzung, die für diesen Roman ein zweites Leben bedeuten wird.«
(Paul Ingendaay, FAZ)
»Die Übersetzung Eike Schönfelds zeigt die stilistischen Qualitäten des Romans in neuem Glanz. Es ist, als lese man ein neues Buch - geschrieben für junge Leser von heute.«
(tele.at)
»Mit der Neuübersetzung erlebt man, um wie viel mehr das Deutsche selbst heute imstande ist, eine ebenso lebenssatte wie kunstvolle Alltagsrede darzustellen.« Burkhard Spinnen Süddeutsche Zeitung