"Was treibt einen Menschen, der sich ein Leben lang nichts hat zuschulden kommen lassen, zu einem Mord?"
Dieser Frage geht Ferdinad von Schirach in seinem neuen Buch in gewohnt brillanter Art auf den Grund.
34 Jahre hat der Italiener Fabrizio Collini als Werkzeugmacher bei Mercedes-Benz gearbeitet. Unauffällig und unbescholten. Und dann ermordet er in einem Berliner Luxushotel einen alten Mann. Grundlos, wie es scheint. Der junge Anwalt Caspar Leinen bekommt die Pflichtverteidigung in diesem Fall zugewiesen. Was für ihn zunächst wie eine vielversprechende Karrierechance aussieht, wird zu einem Albtraum, als er erfährt, wer das Mordopfer ist: Der Tote, ein angesehener deutscher Industrieller, ist der Großvater seines besten Freundes; in Leinens Erinnerung ein freundlicher, warmherziger Mensch. Wieder und wieder versucht er die Tat zu verstehen. Vergeblich, denn Collini gesteht zwar den Mord, aber zu seinem Motiv schweigt er. Und so muss Leinen einen Mann verteidigen, der nicht verteidigt werden will. Ein zunächst aussichtsloses Unterfangen, aber schließlich stößt er auf eine Spur, die weit hinausgeht über den Fall Collini und Leinen mitten hineinführt in ein erschreckendes Kapitel deutscher Justizgeschichte ...
Mehr Informationen zum Autor erhalten Sie auf seiner Website: http://www.schirach.de
Dieser Frage geht Ferdinad von Schirach in seinem neuen Buch in gewohnt brillanter Art auf den Grund.
34 Jahre hat der Italiener Fabrizio Collini als Werkzeugmacher bei Mercedes-Benz gearbeitet. Unauffällig und unbescholten. Und dann ermordet er in einem Berliner Luxushotel einen alten Mann. Grundlos, wie es scheint. Der junge Anwalt Caspar Leinen bekommt die Pflichtverteidigung in diesem Fall zugewiesen. Was für ihn zunächst wie eine vielversprechende Karrierechance aussieht, wird zu einem Albtraum, als er erfährt, wer das Mordopfer ist: Der Tote, ein angesehener deutscher Industrieller, ist der Großvater seines besten Freundes; in Leinens Erinnerung ein freundlicher, warmherziger Mensch. Wieder und wieder versucht er die Tat zu verstehen. Vergeblich, denn Collini gesteht zwar den Mord, aber zu seinem Motiv schweigt er. Und so muss Leinen einen Mann verteidigen, der nicht verteidigt werden will. Ein zunächst aussichtsloses Unterfangen, aber schließlich stößt er auf eine Spur, die weit hinausgeht über den Fall Collini und Leinen mitten hineinführt in ein erschreckendes Kapitel deutscher Justizgeschichte ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2011Diese fatale Schwäche für Pralinen oder Sellerie
Wenn die banalsten Dinge zur Chiffre der Undurchschaubarkeit des menschlichen Lebens werden: Ferdinand von Schirach schreibt einen Roman.
Von Patrick Bahners
Er darf das. Seinen ersten Roman zusammenzimmern und über der Eingangstür einen Satz von Großpapa Hemingway ans Gebälk nageln: "Wir sind wohl alle für das geschaffen, was wir tun." Bei jedem anderen Krimiautor sähe das affig aus. Nicht bei Ferdinand von Schirach, dem schreibenden Rechtsanwalt. Er ist ein harter Bursche, der als Kleinwildjäger durch das Unterholz der eigenen Prosa streift. Ungerührt bringt er Nebenfiguren zur Strecke, die getan haben, was sie zu tun hatten, und für mehr nicht geschaffen waren. Philipp, der Freund des Helden aus dem Internat am Bodensee, kommt kurz nach dem Abitur durch einen Holztieflader zu Tode, der plötzlich schräg auf der Straße steht. Die Eltern sitzen praktischerweise ebenfalls im Auto. Caspar Leinen, der Held, naturgemäß nicht. So ist von der Familie, als Caspar später den Mörder von Philipps Großvater verteidigen muss, weil er den Hörer des Notruftelefons der Pflichtverteidiger abgehoben hat, nur Johanna übrig, die verehrte ältere Schwester.
Während der ewigen Internatszeit war Johanna für Caspar unerreichbar gewesen, dann aber, in seinen letzten Ferien mit Philipp, kam sie netterweise aus London nach Venedig angereist, um ihm am allerletzten Abend einen Kuss zu geben. "Er sah ihr nach, und später konnte er sich an keine Zeit erinnern, in der er so glücklich war wie an diesen hellblauen Tagen am Meer." Wir sind wohl alle auch für das geschaffen, was uns angetan wird.
Der Großvater wird mit vollem Namen eingeführt, Hans Meyer. Und in der langen Rückblende auf lange Spätsommernachmittage voll von Schachpartien und Baumhausbauplanungen wird dem alten Herrn bei jeder Erwähnung die Ehre der vollständigen Namensnennung erwiesen. Er ist nie Philipps Großvater, sondern immer Hans Meyer. Aufgeweckte Leser - bei Wolfgang Ecke wurde man einst süchtig nach diesen kleinen Belohnungen! - haben sich gemerkt, dass der Name des Mordopfers bei der Eröffnung des Haftbefehls im Amtsgericht Berlin-Tiergarten mit Jean-Baptiste Meyer angegeben worden ist. Caspar Leinen erkennt den Namen aus dem Pass seines mit vier Schüssen in den Hinterkopf getöteten Ziehgroßvaters nicht, muss von Johanna darüber aufgeklärt werden, wen sein Mandant in der Brandenburg-Suite des Hotels Adlon aufgesucht hatte.
Der Autor, der als eiskalter Engel durch die Reihen seines Personals streicht, hält für den Erklärungsnotfall eine neue Nebenfigur in Reserve. Er dichtet Hans Meyer eine französische Mutter an: Sie nannte ihn "Jean-Baptiste nach Johannes dem Täufer". Und nicht nach Colbert oder Lully. Hans alias Jean-Baptiste Meyer, als Aufsichtsratschef eines Maschinenbaukonzerns einer der letzten Wirtschaftswundermänner, wird in der zweiten Romanhälfte als SS-Sturmbannführer enttarnt. In Italien hatte er nach einem Anschlag auf deutsche Soldaten die Tötung einer zehnmal größeren Gruppe von Partisanen angeordnet. Der Rentner Fabrizio Collini, der sich in der Lobby des Adlon widerstandslos festnehmen ließ, aber über das Tatmotiv jede Aussage verweigert, ist der Sohn eines Mannes, der auf Befehl Meyers erschossen wurde.
Dass der Kriegsverbrecher Meyer ausweislich der vom Autor angelegten Akten ein halber Franzose ist, geht in das Persönlichkeitsbild nicht ein, das der Roman von ihm zu geben versucht. Dabei sollte das Buch statt "Der Fall Collini" besser "Der Fall Meyer" heißen: In dem Kreuzverhör, das nach gängigem Muster die Spannung dem Höhepunkt zuführen soll, geht es nicht um die Bluttat im Hotelzimmer, sondern um die Rechtmäßigkeit von Geiselerschießungen im Zusammenhang der Partisanenbekämpfung. Seltsam, dass auch der Ermittlungsrichter den Fall nicht als Mordsache Meyer, sondern als Mordsache Collini führt, als wäre die Schuld des Italieners von Anfang an bewiesen.
In der Geschäftsstelle der für Kapitaldelikte zuständigen Staatsanwaltschaft, die wir mit den Augen des jungen Anwalts Leinen betrachten, stapeln sich überall die Akten, "geordnet nach einem undurchschaubaren Prinzip". Angeblich hat Leinen vor zwei Jahren eine Station seines Referendariats genau in dieser Abteilung absolviert. Sollte das Prinzip nicht doch das Alphabet oder das Eingangsdatum sein? Oder einfach das Aktenzeichen? Die banalste Einzelheit kann unter dem Blick des Desinteressierten zur Chiffre der Undurchschaubarkeit des Menschenlebens werden: Nach diesem Gesetz entsteht Ferdinand von Schirachs Prosa.
Den Effekt existentialistischer Abkühlung, der den Erzählungsbänden "Verbrechen" und "Schuld" maßloses Lob eingetragen hat, erzielt der Autor mit einem simplen Trick: Er baut Protokollsätze ein, die für die Sache ohne Belang sind und in der Geschichte ohne Bezug bleiben. Diese als Lakonismus bewunderte Manier ist in Wahrheit in grotesker Weise redundant. "Zwei Polizisten hatten die Vernehmung vorbereitet, die Akten der Staatsanwaltschaft lagen vor ihnen, gelbe Zettel klebten auf den Seiten, zu denen sie Fragen stellen wollten." Solche Sätze sollen gerade keine Atmosphäre schaffen. Der ältere der beiden Beamten "hatte drei erwachsene Kinder und eine Schwäche für Pralinen". Er könnte auch in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben und im Garten Sellerie anbauen.
Aus solchen nutzlosen Informationen spricht der Rechtsanwalt, der Beweise seiner Objektivität anhäuft: Organ der Rechtspflege, auch wenn er im Café gegenüber vom Gericht Wartezeit absitzt. "Nachdem er an der Theke bezahlt hatte, ging er über die Straße zum Haupteingang." Er bezahlte also nicht am Tisch bei der Kellnerin ("eine hübsche Türkin, über die es in Moabit viele Geschichten gab") und nahm nicht die Unterführung, die in der Turmstraße noch nicht gegraben worden ist. Im Gericht kommt der Kaffee "aus einem Automaten, er schmeckte nach Plastik und Milchpulver".
Wenn Caspar Leinen an handgeschöpftem Milchkaffee gelegen wäre, hätte er eine der vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen in großen Wirtschaftskanzleien annehmen müssen, die ihm nach dem zweiten Examen zugestellt wurden. Aber Leinen mag diese Sozietäten nicht. Dort geht es nur ums Geld! Und wer eine Sache nicht durch Geld aus der Welt geschafft hat, bevor sie bei Gericht zum Aufruf kommt, gilt als Verlierer. Leinen will bei Gericht auftreten. Will über "den geschundenen Menschen" reden und für den geschundenen Menschen. Und schon bei der ersten Pflichtverteidigung bebt der Boden der bürgerlichen Existenz, und die Kluft reißt auf, eine schauerlich gähnende Schlucht, zwischen der Pflicht und dem schönen Leben als eingebildeter Erbe. "Als er zu lesen begann, wusste er, dass er heute seine Kindheit zerstören würde und dass Johanna nicht mehr zurückkäme. Und dass all das keine Rolle spielte." Es muss auch keine Rolle spielen, denn auf der letzten Seite des Romans kommt Johanna zurück. Der Prozess ist eingestellt, der Angeklagte hat sich umgebracht, der Verteidiger muss nicht plädieren.
Was hat nun der Autor für den von ihm erfundenen geschundenen Menschen getan? Als schwitzenden Riesen führt er ihn ein. Im Land der Täter hat Fabrizio Collini sein Arbeitsleben verbracht, als Werkzeugmacher beim Daimler. Er schweigt. Statt seiner spricht sein Anwalt. Aber Leinen vervollständigt lediglich die Akten um die Akte Meyer, versetzt sich nicht in Collini hinein. Der Täter wird in dem Verfahren, das Ferdinand von Schirach veranstaltet, nicht zur Person. Vor dem Moment der Wahrheit nimmt der Autor Collini aus dem Spiel. Es bleibt eine kurze Botschaft an den Anwalt, eine Bitte um Verzeihung, "in der ungelenken Schrift seines Mandanten". Demnach hat dieser lebenslängliche Gastarbeiter, der "zuletzt" Meister war, nie ordentlich zu schreiben gelernt.
Apropos. Auch dieses Buch Ferdinand von Schirachs strotzt von falschen Konjunktiven, schiefen Bildern und kitschigen Sentenzen. Die Fans des Autors nehmen diese Unbeholfenheiten wohl als Indizien dafür, dass er Wahres berichte. Johanna Meyer fragt Caspar Leinen zum Schluss nach dem Erbgut des bösen Großvaters: "Bin ich das alles auch?" Und erhält die Antwort: "Du bist, wer du bist." Das ist bestenfalls ein Freispruch zweiter Klasse. Mit einem zweiten Roman, über Schuldvererbung in den besseren Kreisen unter Berücksichtigung der Hirnforschung, muss gerechnet werden. Daher sei hier in revisionssicherer Deutlichkeit festgestellt: Hemingway ist unschuldig.
Ferdinand von Schirach: "Der Fall Collini". Roman.
Piper Verlag, München 2011. 198 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die banalsten Dinge zur Chiffre der Undurchschaubarkeit des menschlichen Lebens werden: Ferdinand von Schirach schreibt einen Roman.
Von Patrick Bahners
Er darf das. Seinen ersten Roman zusammenzimmern und über der Eingangstür einen Satz von Großpapa Hemingway ans Gebälk nageln: "Wir sind wohl alle für das geschaffen, was wir tun." Bei jedem anderen Krimiautor sähe das affig aus. Nicht bei Ferdinand von Schirach, dem schreibenden Rechtsanwalt. Er ist ein harter Bursche, der als Kleinwildjäger durch das Unterholz der eigenen Prosa streift. Ungerührt bringt er Nebenfiguren zur Strecke, die getan haben, was sie zu tun hatten, und für mehr nicht geschaffen waren. Philipp, der Freund des Helden aus dem Internat am Bodensee, kommt kurz nach dem Abitur durch einen Holztieflader zu Tode, der plötzlich schräg auf der Straße steht. Die Eltern sitzen praktischerweise ebenfalls im Auto. Caspar Leinen, der Held, naturgemäß nicht. So ist von der Familie, als Caspar später den Mörder von Philipps Großvater verteidigen muss, weil er den Hörer des Notruftelefons der Pflichtverteidiger abgehoben hat, nur Johanna übrig, die verehrte ältere Schwester.
Während der ewigen Internatszeit war Johanna für Caspar unerreichbar gewesen, dann aber, in seinen letzten Ferien mit Philipp, kam sie netterweise aus London nach Venedig angereist, um ihm am allerletzten Abend einen Kuss zu geben. "Er sah ihr nach, und später konnte er sich an keine Zeit erinnern, in der er so glücklich war wie an diesen hellblauen Tagen am Meer." Wir sind wohl alle auch für das geschaffen, was uns angetan wird.
Der Großvater wird mit vollem Namen eingeführt, Hans Meyer. Und in der langen Rückblende auf lange Spätsommernachmittage voll von Schachpartien und Baumhausbauplanungen wird dem alten Herrn bei jeder Erwähnung die Ehre der vollständigen Namensnennung erwiesen. Er ist nie Philipps Großvater, sondern immer Hans Meyer. Aufgeweckte Leser - bei Wolfgang Ecke wurde man einst süchtig nach diesen kleinen Belohnungen! - haben sich gemerkt, dass der Name des Mordopfers bei der Eröffnung des Haftbefehls im Amtsgericht Berlin-Tiergarten mit Jean-Baptiste Meyer angegeben worden ist. Caspar Leinen erkennt den Namen aus dem Pass seines mit vier Schüssen in den Hinterkopf getöteten Ziehgroßvaters nicht, muss von Johanna darüber aufgeklärt werden, wen sein Mandant in der Brandenburg-Suite des Hotels Adlon aufgesucht hatte.
Der Autor, der als eiskalter Engel durch die Reihen seines Personals streicht, hält für den Erklärungsnotfall eine neue Nebenfigur in Reserve. Er dichtet Hans Meyer eine französische Mutter an: Sie nannte ihn "Jean-Baptiste nach Johannes dem Täufer". Und nicht nach Colbert oder Lully. Hans alias Jean-Baptiste Meyer, als Aufsichtsratschef eines Maschinenbaukonzerns einer der letzten Wirtschaftswundermänner, wird in der zweiten Romanhälfte als SS-Sturmbannführer enttarnt. In Italien hatte er nach einem Anschlag auf deutsche Soldaten die Tötung einer zehnmal größeren Gruppe von Partisanen angeordnet. Der Rentner Fabrizio Collini, der sich in der Lobby des Adlon widerstandslos festnehmen ließ, aber über das Tatmotiv jede Aussage verweigert, ist der Sohn eines Mannes, der auf Befehl Meyers erschossen wurde.
Dass der Kriegsverbrecher Meyer ausweislich der vom Autor angelegten Akten ein halber Franzose ist, geht in das Persönlichkeitsbild nicht ein, das der Roman von ihm zu geben versucht. Dabei sollte das Buch statt "Der Fall Collini" besser "Der Fall Meyer" heißen: In dem Kreuzverhör, das nach gängigem Muster die Spannung dem Höhepunkt zuführen soll, geht es nicht um die Bluttat im Hotelzimmer, sondern um die Rechtmäßigkeit von Geiselerschießungen im Zusammenhang der Partisanenbekämpfung. Seltsam, dass auch der Ermittlungsrichter den Fall nicht als Mordsache Meyer, sondern als Mordsache Collini führt, als wäre die Schuld des Italieners von Anfang an bewiesen.
In der Geschäftsstelle der für Kapitaldelikte zuständigen Staatsanwaltschaft, die wir mit den Augen des jungen Anwalts Leinen betrachten, stapeln sich überall die Akten, "geordnet nach einem undurchschaubaren Prinzip". Angeblich hat Leinen vor zwei Jahren eine Station seines Referendariats genau in dieser Abteilung absolviert. Sollte das Prinzip nicht doch das Alphabet oder das Eingangsdatum sein? Oder einfach das Aktenzeichen? Die banalste Einzelheit kann unter dem Blick des Desinteressierten zur Chiffre der Undurchschaubarkeit des Menschenlebens werden: Nach diesem Gesetz entsteht Ferdinand von Schirachs Prosa.
Den Effekt existentialistischer Abkühlung, der den Erzählungsbänden "Verbrechen" und "Schuld" maßloses Lob eingetragen hat, erzielt der Autor mit einem simplen Trick: Er baut Protokollsätze ein, die für die Sache ohne Belang sind und in der Geschichte ohne Bezug bleiben. Diese als Lakonismus bewunderte Manier ist in Wahrheit in grotesker Weise redundant. "Zwei Polizisten hatten die Vernehmung vorbereitet, die Akten der Staatsanwaltschaft lagen vor ihnen, gelbe Zettel klebten auf den Seiten, zu denen sie Fragen stellen wollten." Solche Sätze sollen gerade keine Atmosphäre schaffen. Der ältere der beiden Beamten "hatte drei erwachsene Kinder und eine Schwäche für Pralinen". Er könnte auch in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben und im Garten Sellerie anbauen.
Aus solchen nutzlosen Informationen spricht der Rechtsanwalt, der Beweise seiner Objektivität anhäuft: Organ der Rechtspflege, auch wenn er im Café gegenüber vom Gericht Wartezeit absitzt. "Nachdem er an der Theke bezahlt hatte, ging er über die Straße zum Haupteingang." Er bezahlte also nicht am Tisch bei der Kellnerin ("eine hübsche Türkin, über die es in Moabit viele Geschichten gab") und nahm nicht die Unterführung, die in der Turmstraße noch nicht gegraben worden ist. Im Gericht kommt der Kaffee "aus einem Automaten, er schmeckte nach Plastik und Milchpulver".
Wenn Caspar Leinen an handgeschöpftem Milchkaffee gelegen wäre, hätte er eine der vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen in großen Wirtschaftskanzleien annehmen müssen, die ihm nach dem zweiten Examen zugestellt wurden. Aber Leinen mag diese Sozietäten nicht. Dort geht es nur ums Geld! Und wer eine Sache nicht durch Geld aus der Welt geschafft hat, bevor sie bei Gericht zum Aufruf kommt, gilt als Verlierer. Leinen will bei Gericht auftreten. Will über "den geschundenen Menschen" reden und für den geschundenen Menschen. Und schon bei der ersten Pflichtverteidigung bebt der Boden der bürgerlichen Existenz, und die Kluft reißt auf, eine schauerlich gähnende Schlucht, zwischen der Pflicht und dem schönen Leben als eingebildeter Erbe. "Als er zu lesen begann, wusste er, dass er heute seine Kindheit zerstören würde und dass Johanna nicht mehr zurückkäme. Und dass all das keine Rolle spielte." Es muss auch keine Rolle spielen, denn auf der letzten Seite des Romans kommt Johanna zurück. Der Prozess ist eingestellt, der Angeklagte hat sich umgebracht, der Verteidiger muss nicht plädieren.
Was hat nun der Autor für den von ihm erfundenen geschundenen Menschen getan? Als schwitzenden Riesen führt er ihn ein. Im Land der Täter hat Fabrizio Collini sein Arbeitsleben verbracht, als Werkzeugmacher beim Daimler. Er schweigt. Statt seiner spricht sein Anwalt. Aber Leinen vervollständigt lediglich die Akten um die Akte Meyer, versetzt sich nicht in Collini hinein. Der Täter wird in dem Verfahren, das Ferdinand von Schirach veranstaltet, nicht zur Person. Vor dem Moment der Wahrheit nimmt der Autor Collini aus dem Spiel. Es bleibt eine kurze Botschaft an den Anwalt, eine Bitte um Verzeihung, "in der ungelenken Schrift seines Mandanten". Demnach hat dieser lebenslängliche Gastarbeiter, der "zuletzt" Meister war, nie ordentlich zu schreiben gelernt.
Apropos. Auch dieses Buch Ferdinand von Schirachs strotzt von falschen Konjunktiven, schiefen Bildern und kitschigen Sentenzen. Die Fans des Autors nehmen diese Unbeholfenheiten wohl als Indizien dafür, dass er Wahres berichte. Johanna Meyer fragt Caspar Leinen zum Schluss nach dem Erbgut des bösen Großvaters: "Bin ich das alles auch?" Und erhält die Antwort: "Du bist, wer du bist." Das ist bestenfalls ein Freispruch zweiter Klasse. Mit einem zweiten Roman, über Schuldvererbung in den besseren Kreisen unter Berücksichtigung der Hirnforschung, muss gerechnet werden. Daher sei hier in revisionssicherer Deutlichkeit festgestellt: Hemingway ist unschuldig.
Ferdinand von Schirach: "Der Fall Collini". Roman.
Piper Verlag, München 2011. 198 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2011Glutkern in Schmockhülle
Gut gemeint, arg misslungen: Ferdinand von Schirach führt in seinem Roman „Der Fall Collini“ einen Nazi-Prozess
„Schuld“ und „Verbrechen“ hießen die beiden Erzählungsbände, die den erfolgreichen Strafverteidiger Ferdinand von Schirach zum Bestsellerautor machten. Schuld und Verbrechen – das klang ein wenig nach Dostojewski, lebte aber vor allem vom Echtheitsversprechen: Da wusste einer Bescheid über Juristerei und menschliche Abgründe, hatte genügend Stoff aus der Praxis, dazu eine lakonisch knappe und unterkühlte Erzählweise und keine Scheu, ohne mit der Wimper zu zucken in tiefen Fleischwunden zu bohren. Gut und Böse liegen dicht beieinander, und oft ist es nur ein Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird. Das war die wichtigste Lehre aus diesen Geschichten. Schirach hat sie nun noch einmal zum Mitschreiben in einem Spiegel-Essay formuliert, der das Erscheinen seines ersten Romans „Der Fall Collini“ publizistisch flankiert. Er hätte ihn, um bei Dostojewski zu bleiben, auch „Sühne“ nennen können.
Im Roman – und im Begleitessay – setzt sich Schirach mit der Frage auseinander, ob Schuld vererbbar ist und was von ihr nach mehr als fünfzig Jahren übrig bleibt. Ferdinand von Schirach ist der Enkel von Hitlers Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Mit der historischen Last, die dieser Name signalisiert, hat er sich zeitlebens herumzuschlagen. Andererseits dürfte der Name auch einen Anteil an seiner raschen Berühmtheit als Schriftsteller haben. Mit seinem ersten Roman begibt Schirach sich jetzt aufs Gelände der NS-Geschichte, um auch hier seine Erfolgsformel zur Anwendung zu bringen. „Glauben Sie mir, die Menschen sind nicht weiß oder schwarz, sie sind grau“, sagt da ein alter, abgezockter Anwalt zu seinem jungen Kollegen im typischen Schirach-Ton, bei dem Banalitäten in lässigem Humphrey-Bogart-Stil mit Zigarette im Mundwinkel vorgetragen werden. Dabei beweist das Romangeschehen am Ende das Gegenteil: Es ist eben kein Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird. Jedenfalls nicht immer und überall.
Am Anfang steht ein brutaler Mord. Im Berliner Hotel Adlon wird ein alter Großindustrieller, der zur Führungsschicht der Republik gehört, mit vier Schüssen in den Hinterkopf hingerichtet, und weil dem Mörder das nicht genügt, tritt er Kopf und Gesicht des Opfers zu Brei, bis ihm der Absatz vom Schuh abbricht. Der Mörder heißt Collini. Nach mehr als dreißig Jahren Arbeit bei Mercedes Benz lebt der riesenhafte Italiener jetzt im Ruhestand. Er stellt sich nach der Tat, gibt aber keine Auskunft über sein Motiv. Warum er so eisern schweigt, ist nicht ganz klar, vielleicht nur deshalb, damit eine Romanhandlung in Gang kommen und der junge, aufstrebende Anwalt Caspar Leinen sich in seinem ersten Strafprozess gleich richtig bewähren kann.
Auch wenn man sich für diesen Anwalt zunächst nicht sonderlich interessiert, wird erst einmal seine Kindheitsgeschichte ausgebreitet, mit Internat, erstem Kuss und Jungenfreundschaft mit einem Großbürgersohn, für den es ganz selbstverständlich ist, im Bademantel und Zigarre rauchend, von Dienstboten und schlafenden Hunden umgeben, vor dem offenen Kamin der väterlichen Villa zu sitzen. So könnte auch ein englischer Adelsroman klingen. Da es aber um Deutschland geht, leitet der Großvater des Freundes einen mächtigen Konzern.
Jetzt ist dieser nette Großvater, der für den späteren Anwalt zu einem väterlichen Vertrauten geworden war, das Mordopfer und, wie sich nach langem und auch etwas langweiligem Hin und Her herausstellt, ein ehemaliger SS-Mann, der für die Hinrichtung von Partisanen in Italien verantwortlich ist. Schirachs Anwalts-Alter-Ego recherchiert also in eigener Sache, oder wie das in der immer etwas angeberischen Sprache des Romans heißt: „Er wusste, dass er heute seine Kindheit zerstören würde.“
„Der Fall Collini“ ist aus Sätzen zusammengefügt, die aus einem Gebrauchskatalog für Drehbuchschreiber zu stammen scheinen. Dabei handelt es sich, anders als die zur Schau getragene Coolness suggeriert, um mit Pathos aufgepumpte Hohlformeln. Der Anwalt begreift, dass es nicht um Gesetze und Paragraphen, sondern „um etwas ganz anderes ging: den geschundenen Menschen“. Oder er sinniert: „Irgendwo musste der Schlüssel sein, der den Mord erklären und die Welt wieder ordnen würde.“
Peinlich wird es, wenn die Liebe ins Spiel kommt. Denn selbstverständlich gibt es auch eine Liebesgeschichte zwischen dem Anwalt und der Enkelin des Opfers. Da kommt er dann nackt aus der Dusche und findet sie ganz überraschend im Hotelzimmer vor. Das geht dann so vor sich: „Irgendwann zog er den Reißverschluss ihres Kleides auf, streifte es von ihren Schultern und öffnete den BH.“ Ein paar Sätze weiter wird Vollzug gemeldet: „Er drang in sie ein.“ Das ist eine Sprache, mit der man eher noch das Abbiegen auf dem Verkehrsübungsplatz schildern könnte als einen Augenblick der Leidenschaft. Ein Roman unterscheidet sich eben doch von einem juristischen Protokoll.
Spannend wird das Buch immer dann, wenn Schirach sich auf die Feinheiten der Gesetzgebung konzentriert. Er zeigt, wie die Gesetzgebung der Bundesrepublik ausgerechnet im Jahr 1968, als die Studenten ihre Väter dazu bringen wollten, Rechenschaft abzulegen, so modifiziert wurde, dass Verbrechen, die zuvor als Mord eingestuft worden wären, nun nur noch als Totschlag zu bewerten waren und deshalb verjähren konnten. Verantwortlich für die unscheinbare, aber folgenreiche Ergänzung im „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ war Eduard Dreher, im Dritten Reich ein berüchtigter Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck.
Da schreibt Schirach mit gehörigem Zorn auf Gesetzgeber, die sich von ehemaligen Nazis die Paragraphen diktieren ließen. Der Roman aber ist nicht mehr als eine Art Verpackung für diesen politischen Glutkern, der in einem Essay wohl besser untergebracht wäre. Er rollt die Handlung aus wie einen allzu dünnen Teig. Das Bedürfnis des Anwalts, die juristischen Verfahrensweisen auch dem dümmsten Laien begreiflich zu machen, kommt dem Erzähler immer wieder in die Quere. Als Strafverteidiger vor Gericht ist er es gewohnt, auf Effekt zu erzählen. Das wird spätestens dann, wenn es um die Schilderung der Geiselerschießung geht, als literarische Haltung unangenehm und unangemessen.
Doch nicht nur die handwerklichen Mängel fallen auf – auch in der zentralen Frage nach Schuld und Verantwortung, Recht und Gerechtigkeit, Rache und Genugtuung bleibt der Roman seltsam unentschieden. Juristisch, das macht er deutlich, ist das Problem nicht zu lösen: Die Geiselerschießung könnte unter bestimmten Umständen sogar rechtmäßig gewesen sein. Nicht das heutige Empfinden ist für die Beurteilung der Tat entscheidend, sondern das Völkerrecht während des Krieges. Die moralische Bewertung aber folgt anderen Kategorien.
Doch um hier zu einer klaren Haltung zu gelangen, teilt der Roman viel zu wenig mit. Zwar wird die Leiche des Ermordeten auf dem Obduktionstisch nach allen Regeln der Kunst seziert. Genüsslich schwelgt der Autor in Details, trägt Schicht um Schicht Haut und Muskelgewebe ab und dringt entlang der Einschusskanäle ins Gehirn vor, und auch, wenn seinem Helden dabei die Knie weich werden, zittert seine Schreibhand nicht. Doch im Körperinneren ist nichts zu finden, keine Antwort auf die Frage nach Gut und Böse und den Besonderheiten einer Biographie. So bleibt auch dieser Abschnitt bloßer Effekt.
Eine in die Tiefe gehende Neugier hätte man sich eher in der Darstellung der Biographie des Großvaters gewünscht. Wie und warum wurde er zum SS-Mann? Seine damaligen Motive – und auf die käme es doch an – bleiben im Dunkeln, während die des Mörders Collini am Ende klar und verständlich sind. War der Großvater ein Nazi aus Überzeugung? Oder soll er als Beispiel für Schirachs These dienen, dass es oft nur ein Zufall sei, ob ein Mensch zum Täter oder zum Opfer wird? Die Handlung legt nahe: Er ist beides. Ein Guter, der das Falsche tat.
Doch um Schirach in diesem Gedanken folgen zu können, hätte er mehr über diesen Mann verraten müssen, als es die Akten, das Prozessgeschehen und die kitschigen Kindheitserinnerungen hergeben. Damit hängt auch die Schlusspointe in der Luft, wenn die Enkelin mit „zitternden Lippen“ fragt: „Bin ich das alles auch?“ Das ist die Frage, die sich auch der Enkel Ferdinand von Schirach seit langem gestellt hat, wie er in seinem Essay verrät. Die Antwort des Romanhelden ist auch seine eigene: „Du bist, wer du bist.“ Mehr als eine Tautologie hat er also nicht zu bieten. Alle Menschen sind grau, und Wahrheit ist eine Banalität. Mag sein, dass solche Botschaften tröstlich wirken.
JÖRG MAGENAU
FERDINAND VON SCHIRACH: Der Fall Collini. Roman. Piper Verlag, München 2011. 196 Seiten, 16,99 Euro.
„Glauben Sie mir, die
Menschen sind nicht weiß oder
schwarz, sie sind grau“
Der Roman ist nur eine Art
Verpackung für einen
historisch-juristischen Essay
Was er im Hotelzimmer vorfinden wird, weiß der Room Service im Berliner Adlon nicht, aber Ferdinand von Schirach (links) weiß es. Fotos: Paulus Ponizak, Caro
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Gut gemeint, arg misslungen: Ferdinand von Schirach führt in seinem Roman „Der Fall Collini“ einen Nazi-Prozess
„Schuld“ und „Verbrechen“ hießen die beiden Erzählungsbände, die den erfolgreichen Strafverteidiger Ferdinand von Schirach zum Bestsellerautor machten. Schuld und Verbrechen – das klang ein wenig nach Dostojewski, lebte aber vor allem vom Echtheitsversprechen: Da wusste einer Bescheid über Juristerei und menschliche Abgründe, hatte genügend Stoff aus der Praxis, dazu eine lakonisch knappe und unterkühlte Erzählweise und keine Scheu, ohne mit der Wimper zu zucken in tiefen Fleischwunden zu bohren. Gut und Böse liegen dicht beieinander, und oft ist es nur ein Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird. Das war die wichtigste Lehre aus diesen Geschichten. Schirach hat sie nun noch einmal zum Mitschreiben in einem Spiegel-Essay formuliert, der das Erscheinen seines ersten Romans „Der Fall Collini“ publizistisch flankiert. Er hätte ihn, um bei Dostojewski zu bleiben, auch „Sühne“ nennen können.
Im Roman – und im Begleitessay – setzt sich Schirach mit der Frage auseinander, ob Schuld vererbbar ist und was von ihr nach mehr als fünfzig Jahren übrig bleibt. Ferdinand von Schirach ist der Enkel von Hitlers Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Mit der historischen Last, die dieser Name signalisiert, hat er sich zeitlebens herumzuschlagen. Andererseits dürfte der Name auch einen Anteil an seiner raschen Berühmtheit als Schriftsteller haben. Mit seinem ersten Roman begibt Schirach sich jetzt aufs Gelände der NS-Geschichte, um auch hier seine Erfolgsformel zur Anwendung zu bringen. „Glauben Sie mir, die Menschen sind nicht weiß oder schwarz, sie sind grau“, sagt da ein alter, abgezockter Anwalt zu seinem jungen Kollegen im typischen Schirach-Ton, bei dem Banalitäten in lässigem Humphrey-Bogart-Stil mit Zigarette im Mundwinkel vorgetragen werden. Dabei beweist das Romangeschehen am Ende das Gegenteil: Es ist eben kein Zufall, ob ein Mensch Täter oder Opfer wird. Jedenfalls nicht immer und überall.
Am Anfang steht ein brutaler Mord. Im Berliner Hotel Adlon wird ein alter Großindustrieller, der zur Führungsschicht der Republik gehört, mit vier Schüssen in den Hinterkopf hingerichtet, und weil dem Mörder das nicht genügt, tritt er Kopf und Gesicht des Opfers zu Brei, bis ihm der Absatz vom Schuh abbricht. Der Mörder heißt Collini. Nach mehr als dreißig Jahren Arbeit bei Mercedes Benz lebt der riesenhafte Italiener jetzt im Ruhestand. Er stellt sich nach der Tat, gibt aber keine Auskunft über sein Motiv. Warum er so eisern schweigt, ist nicht ganz klar, vielleicht nur deshalb, damit eine Romanhandlung in Gang kommen und der junge, aufstrebende Anwalt Caspar Leinen sich in seinem ersten Strafprozess gleich richtig bewähren kann.
Auch wenn man sich für diesen Anwalt zunächst nicht sonderlich interessiert, wird erst einmal seine Kindheitsgeschichte ausgebreitet, mit Internat, erstem Kuss und Jungenfreundschaft mit einem Großbürgersohn, für den es ganz selbstverständlich ist, im Bademantel und Zigarre rauchend, von Dienstboten und schlafenden Hunden umgeben, vor dem offenen Kamin der väterlichen Villa zu sitzen. So könnte auch ein englischer Adelsroman klingen. Da es aber um Deutschland geht, leitet der Großvater des Freundes einen mächtigen Konzern.
Jetzt ist dieser nette Großvater, der für den späteren Anwalt zu einem väterlichen Vertrauten geworden war, das Mordopfer und, wie sich nach langem und auch etwas langweiligem Hin und Her herausstellt, ein ehemaliger SS-Mann, der für die Hinrichtung von Partisanen in Italien verantwortlich ist. Schirachs Anwalts-Alter-Ego recherchiert also in eigener Sache, oder wie das in der immer etwas angeberischen Sprache des Romans heißt: „Er wusste, dass er heute seine Kindheit zerstören würde.“
„Der Fall Collini“ ist aus Sätzen zusammengefügt, die aus einem Gebrauchskatalog für Drehbuchschreiber zu stammen scheinen. Dabei handelt es sich, anders als die zur Schau getragene Coolness suggeriert, um mit Pathos aufgepumpte Hohlformeln. Der Anwalt begreift, dass es nicht um Gesetze und Paragraphen, sondern „um etwas ganz anderes ging: den geschundenen Menschen“. Oder er sinniert: „Irgendwo musste der Schlüssel sein, der den Mord erklären und die Welt wieder ordnen würde.“
Peinlich wird es, wenn die Liebe ins Spiel kommt. Denn selbstverständlich gibt es auch eine Liebesgeschichte zwischen dem Anwalt und der Enkelin des Opfers. Da kommt er dann nackt aus der Dusche und findet sie ganz überraschend im Hotelzimmer vor. Das geht dann so vor sich: „Irgendwann zog er den Reißverschluss ihres Kleides auf, streifte es von ihren Schultern und öffnete den BH.“ Ein paar Sätze weiter wird Vollzug gemeldet: „Er drang in sie ein.“ Das ist eine Sprache, mit der man eher noch das Abbiegen auf dem Verkehrsübungsplatz schildern könnte als einen Augenblick der Leidenschaft. Ein Roman unterscheidet sich eben doch von einem juristischen Protokoll.
Spannend wird das Buch immer dann, wenn Schirach sich auf die Feinheiten der Gesetzgebung konzentriert. Er zeigt, wie die Gesetzgebung der Bundesrepublik ausgerechnet im Jahr 1968, als die Studenten ihre Väter dazu bringen wollten, Rechenschaft abzulegen, so modifiziert wurde, dass Verbrechen, die zuvor als Mord eingestuft worden wären, nun nur noch als Totschlag zu bewerten waren und deshalb verjähren konnten. Verantwortlich für die unscheinbare, aber folgenreiche Ergänzung im „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ war Eduard Dreher, im Dritten Reich ein berüchtigter Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck.
Da schreibt Schirach mit gehörigem Zorn auf Gesetzgeber, die sich von ehemaligen Nazis die Paragraphen diktieren ließen. Der Roman aber ist nicht mehr als eine Art Verpackung für diesen politischen Glutkern, der in einem Essay wohl besser untergebracht wäre. Er rollt die Handlung aus wie einen allzu dünnen Teig. Das Bedürfnis des Anwalts, die juristischen Verfahrensweisen auch dem dümmsten Laien begreiflich zu machen, kommt dem Erzähler immer wieder in die Quere. Als Strafverteidiger vor Gericht ist er es gewohnt, auf Effekt zu erzählen. Das wird spätestens dann, wenn es um die Schilderung der Geiselerschießung geht, als literarische Haltung unangenehm und unangemessen.
Doch nicht nur die handwerklichen Mängel fallen auf – auch in der zentralen Frage nach Schuld und Verantwortung, Recht und Gerechtigkeit, Rache und Genugtuung bleibt der Roman seltsam unentschieden. Juristisch, das macht er deutlich, ist das Problem nicht zu lösen: Die Geiselerschießung könnte unter bestimmten Umständen sogar rechtmäßig gewesen sein. Nicht das heutige Empfinden ist für die Beurteilung der Tat entscheidend, sondern das Völkerrecht während des Krieges. Die moralische Bewertung aber folgt anderen Kategorien.
Doch um hier zu einer klaren Haltung zu gelangen, teilt der Roman viel zu wenig mit. Zwar wird die Leiche des Ermordeten auf dem Obduktionstisch nach allen Regeln der Kunst seziert. Genüsslich schwelgt der Autor in Details, trägt Schicht um Schicht Haut und Muskelgewebe ab und dringt entlang der Einschusskanäle ins Gehirn vor, und auch, wenn seinem Helden dabei die Knie weich werden, zittert seine Schreibhand nicht. Doch im Körperinneren ist nichts zu finden, keine Antwort auf die Frage nach Gut und Böse und den Besonderheiten einer Biographie. So bleibt auch dieser Abschnitt bloßer Effekt.
Eine in die Tiefe gehende Neugier hätte man sich eher in der Darstellung der Biographie des Großvaters gewünscht. Wie und warum wurde er zum SS-Mann? Seine damaligen Motive – und auf die käme es doch an – bleiben im Dunkeln, während die des Mörders Collini am Ende klar und verständlich sind. War der Großvater ein Nazi aus Überzeugung? Oder soll er als Beispiel für Schirachs These dienen, dass es oft nur ein Zufall sei, ob ein Mensch zum Täter oder zum Opfer wird? Die Handlung legt nahe: Er ist beides. Ein Guter, der das Falsche tat.
Doch um Schirach in diesem Gedanken folgen zu können, hätte er mehr über diesen Mann verraten müssen, als es die Akten, das Prozessgeschehen und die kitschigen Kindheitserinnerungen hergeben. Damit hängt auch die Schlusspointe in der Luft, wenn die Enkelin mit „zitternden Lippen“ fragt: „Bin ich das alles auch?“ Das ist die Frage, die sich auch der Enkel Ferdinand von Schirach seit langem gestellt hat, wie er in seinem Essay verrät. Die Antwort des Romanhelden ist auch seine eigene: „Du bist, wer du bist.“ Mehr als eine Tautologie hat er also nicht zu bieten. Alle Menschen sind grau, und Wahrheit ist eine Banalität. Mag sein, dass solche Botschaften tröstlich wirken.
JÖRG MAGENAU
FERDINAND VON SCHIRACH: Der Fall Collini. Roman. Piper Verlag, München 2011. 196 Seiten, 16,99 Euro.
„Glauben Sie mir, die
Menschen sind nicht weiß oder
schwarz, sie sind grau“
Der Roman ist nur eine Art
Verpackung für einen
historisch-juristischen Essay
Was er im Hotelzimmer vorfinden wird, weiß der Room Service im Berliner Adlon nicht, aber Ferdinand von Schirach (links) weiß es. Fotos: Paulus Ponizak, Caro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kein gutes Haar lässt Patrick Bahners, der wie stets sehr ins Detail geht, an diesem Romanerstling des zuvor mit aus dem Rechtsleben gegriffenen Erzählbänden hervorgetrenen Ferdinand von Schirach. Wo er schon mal dabei ist, kritisiert Bahners auch das diesen Bänden ausgesprochene "Lob" als "maßlos". Zu den Dingen, die es in den Erzählungen bereits gab und die ihn am nun vorliegenden Roman besonders enervieren, gehört eine bestimmte Sorte von Sätzen, "Protokollsätzen", die zur Wirklichkeitsfindung nichts beitragen, auch wenn sie das als sinnlose Reihung von Sachverhalten zu tun vorgeben. Von der verwickelten Handlung ist auf jeden Fall soviel zu erfahren, dass der Autor durch die Geschichte der Familie des Protagonisten Caspar Leinen als "eiskalter Engel" geht und in Todesarten erfindungsreich die Brüchigkeit bürgerlicher Existenz vorführt. Das Motto von Hemingway macht den Rezensenten nicht glücklich, erschwerend kommen "falsche Konjunktive, schiefe Bilder und kitschige Sentenzen" hinzu. Ein freundliches Wort sucht man in dieser Besprechung vergebens.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ausgehärtet und genau kalkuliert ist von Schirachs Sprache, und das hat etwas äußerst Angenehmes, das Ungeheuere des Sachverhalts tritt so nur um so schärfer hervor.", Cicero 20151120
»Fesselnd wie ganz großes Kino.« Brigitte