Die Londoner Unterwelt ist in Aufruhr: Der gefürchtete amerikanische Gangster Clarence Devereux will seine Geschäfte nach England ausdehnen. Auch Professor Moriarty soll seine Hände im Spiel haben - aber ist er nicht, ebenso wie Sherlock Holmes, an den Reichenbachfällen in den Tod gestürzt? Und welche Rolle spielt der undurchsichtige Detektiv Chase, der plötzlich in London auftaucht? Als der Machtkampf der Giganten des Verbrechens seine Opfer fordert und eine grausam zugerichtete Leiche gefunden wird, macht sich Inspector Jones von Scotland Yard daran, die Machenschaften des Amerikaners aufzudecken. Eine blutige Spur führt von den Docks bis in die Katakomben des Smithfield Meat Market. Kann es sein, dass Moriarty noch lebt? Ganz in der Tradition seines Sherlock-Holmes-Romans Das Geheimnis des weißen Bandes schickt Anthony Horowitz erneut die Ermittler von Scotland Yard auf Verbrecherjagd - und Athelney Jones beweist, dass er Sherlock Holmes ein würdiger Nachfolger ist.
buecher-magazin.deAthelney Jones von Scotland Yard wäre gern wie Sherlock Holmes - doch der Inspektor gesteht: "Mir entging wieder alles Wichtige, während Holmes die Verhaftung vornahm." Doch das, so Jones, werde nicht wieder vorkommen. Zumal er jetzt die Chance zu Großem hat: Holmes ist bei einem Unglück in der Schweiz genauso verstorben wie sein Widersacher Professor Moriarty. Und so ist der Inspektor gefordert, London vom Unheil zu befreien. Dieses trägt den Namen Clarence Devereux, der mit seiner Untergrundorganisation die Stadt in Atem hält. Unterstützung erhält Jones von Frederick Chase. Der New Yorker Detektiv ist zugleich Ich-Erzähler und Horowitz' zentrale Figur eines frechen Ganovenstücks. Fans des Holmes-Urhebers Doyle werden den rasanten und teils brutalen Stil seines Nachfolgers weniger schätzen, aber Horowitz versteht es meisterlich zu blenden. Uve Teschner ist in diesem listigen Spiel ein perfekter Komplize. Genüsslich führt er mit einwandfreier Akzentuierung und markantem Stimmensemble durch die wendungsreiche Handlung. Ein zweites Anhören wird dringend angeraten. Sowohl die Handlung als auch Teschners Stimme werden sich anders anhören.
© BÜCHERmagazin, Olaf Ernst (ole)
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»Der Roman hat alles, was einen klassischen Holmes Fall auszeichnet: Aberwitzige Deduktionen, avancierte Gimmicks ... Tatorte in den dunkelsten Winkeln Londons, exzentrische Figuren ... eine verblüffende Auflösung.« Martin Halter Frankfurter Allgemeine Zeitung 20141215
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2014Giftpfeile vom Vegetarier
Der erste Sherlock Holmes ohne Holmes: Anthony Horowitz' "Der Fall Moriarty"
"Dort, tief unten in jenem schrecklichen Kessel voll wirbelndem Wasser und brodelndem Schaum, werden sie für alle Zeiten ruhen: der gefährlichste Verbrecher seiner Generation und ihr vornehmster Streiter für das Recht", notierte untröstlich Dr. Watson, nachdem sein Freund Sherlock Holmes am 4. Mai 1891 im Kampf mit dem "Napoleon des Verbrechens" in die Reichenbachfälle gestürzt war. Professor Moriarty erholte sich nie von seinem tiefen Fall, aber "Das letzte Problem" war noch lange nicht das Ende von Holmes. Von empörten Lesern bedrängt und der Aussicht auf fette Honorare verlockt, ließ Arthur Conan Doyle seinen Detektiv 1893 unter fadenscheinigen Vorwänden von den Toten auferstehen.
Nicht nur Watsons Ghostwriter wurde schwach: "Der große Hiatus", wie das Problem des dreijährigen Untertauchens unter Holmesianern heißt, inspirierte zahlreiche Lückenbüßer und Leichenfledderer zu Sequels und Spekulationen über Holmes' spirituelle Auszeit in Tibet. Anthony Horowitz ist der Napoleon dieser Trittbrettfahrer. Der achtundfünfzigjährige Brite schreibt selbst Krimis und Drehbücher für Agatha Christies Poirot und "Inspektor Barnaby" und hat als Einziger den Segen der Erben Conan Doyles.
In zwei gelungenen Holmes-Pastiches ("Das Geheimnis des weißen Bandes", "Die drei Königinnen") hat Horowitz gezeigt, dass er viktorianische Gaslicht-Atmosphäre und den Watson-Sound ohne moderne Hilfsmittel erzeugen kann; nie käme er auf die Idee, Holmes in die Gegenwart zu holen, wie es Benedict Cumberbatch in der Fernsehserie getan hat.
Diesmal stand er vor einer großen Aufgabe: "Der Fall Moriarty" ist der erste Holmes-Roman ohne Holmes. Der Verstorbene, rühmt Inspektor Lestrade in seinem Nachruf, war ein Genie, auch wenn er fragwürdige Methoden und eine merkwürdige Art hatte und sein "feines Netz von spitzfindigen Theorien oft aus dünner Luft" gestrickt war. In Scotland-Yard-Inspektor Athelney Jones und dem Pinkerton-Detektiv Frederick Chase stehen bereits Nachfolger in den Startlöchern. Man kennt Jones als beschränktes Beamtenhirn mit Gehstock und rotem Kopf; Holmes selbst hat ihm ein vernichtendes Urteil ausgestellt: "Wenn Gregson oder Lestrade oder Athelney Jones am Ende ihrer Weisheit sind - was bei ihnen übrigens der Normalfall ist -, dann wird die Sache mir unterbreitet."
Dabei kann Jones nicht nur Fährten, Zigarrenasche, Dresscodes und Geheimschriften wie der Meister lesen, sondern ist geradezu besessen von seinem Idol. Er hat einen Gedächtnisschrein mit Phiolen, Bunsenbrennern und türkischen Pantoffeln eingerichtet und träumt davon, den wenig glamourösen Polizeidienst zu quittieren. Sein gelehriger Assistent Chase zeigt sich geschmeichelt: "Sie Holmes und ich Watson? Ist vielleicht gar keine so schlechte Idee." Zusammen wären sie ein unschlagbares Duo: Amerikanischer Pragmatismus und europäischer Geist, der begriffsstutzige Privatschnüffler aus New York und der beste Mann von Scotland Yard; persönliche Differenzen müssen um der öffentlichen Sicherheit willen hintangestellt werden. Denn Holmes und Moriarty haben mit ihrem spektakulären Doppelselbstmord den Weg freigemacht für das absolut Böse. In Clarence Devereux hat der Napoleon des Verbrechens einen Erben gefunden, der noch skrupelloser, verschlagener und mächtiger ist, und Jones ist entschlossen, ihm sein Waterloo zu bereiten. Moriarty war immerhin Mathematiker und Gentleman, er bewies Sportsgeist, Diskretion, Rudimente von Anstand. Der König der amerikanischen Unterwelt dagegen, lichtscheu, agoraphob und seit seinen Anfängen in den Schlachthöfen Chicagos Vegetarier, schreckt bei der Ausweitung seiner Kampfzone nach Europa vor nichts zurück. Jones heftet sich mit bewährten Mitteln an Devereux' Fersen, aber der Schurke hat sich als Diplomat in der amerikanischen Botschaft verschanzt.
Die Erzähler im britischen Whodunit sind, wie man seit Agatha Christies "Murder of Roger Ackroyd" weiß, nicht immer zuverlässig. Wer Dr. Watson salopp Ungereimtheiten ("Ich finde, der Junge übertreibt's einfach") vorwirft und Holmes' scharfe Logik mit "gesundem Menschenverstand" zerpflückt, ist wenig vertrauenswürdig, auch wenn er noch so treudoof "Gütiger Himmel!" ruft. Der Roman hat alles, was einen klassischen Holmes-Fall auszeichnet: Aberwitzige Deduktionen, avancierte Gimmicks wie Telegraph, Kinematograph und Schießstock, Tatorte in den dunkelsten Winkeln Londons, exzentrische Figuren, bizarre Morde und eine verblüffende Auflösung. Was ihm fehlt, sind Drogen, Geigensoli, Ironie - kurz: das gewisse Etwas. Jones ist nicht der, für den er sich hält, Chase ist nicht der, der er zu sein vorgibt, und Horowitz auch nicht der kongeniale Erbe von Arthur Conan Doyle.
MARTIN HALTER
Anthony Horowitz: "Der Fall Moriarty". Roman. Aus dem Englischen von Lutz W.Wolff. Insel Verlag, Berlin 2014. 342 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der erste Sherlock Holmes ohne Holmes: Anthony Horowitz' "Der Fall Moriarty"
"Dort, tief unten in jenem schrecklichen Kessel voll wirbelndem Wasser und brodelndem Schaum, werden sie für alle Zeiten ruhen: der gefährlichste Verbrecher seiner Generation und ihr vornehmster Streiter für das Recht", notierte untröstlich Dr. Watson, nachdem sein Freund Sherlock Holmes am 4. Mai 1891 im Kampf mit dem "Napoleon des Verbrechens" in die Reichenbachfälle gestürzt war. Professor Moriarty erholte sich nie von seinem tiefen Fall, aber "Das letzte Problem" war noch lange nicht das Ende von Holmes. Von empörten Lesern bedrängt und der Aussicht auf fette Honorare verlockt, ließ Arthur Conan Doyle seinen Detektiv 1893 unter fadenscheinigen Vorwänden von den Toten auferstehen.
Nicht nur Watsons Ghostwriter wurde schwach: "Der große Hiatus", wie das Problem des dreijährigen Untertauchens unter Holmesianern heißt, inspirierte zahlreiche Lückenbüßer und Leichenfledderer zu Sequels und Spekulationen über Holmes' spirituelle Auszeit in Tibet. Anthony Horowitz ist der Napoleon dieser Trittbrettfahrer. Der achtundfünfzigjährige Brite schreibt selbst Krimis und Drehbücher für Agatha Christies Poirot und "Inspektor Barnaby" und hat als Einziger den Segen der Erben Conan Doyles.
In zwei gelungenen Holmes-Pastiches ("Das Geheimnis des weißen Bandes", "Die drei Königinnen") hat Horowitz gezeigt, dass er viktorianische Gaslicht-Atmosphäre und den Watson-Sound ohne moderne Hilfsmittel erzeugen kann; nie käme er auf die Idee, Holmes in die Gegenwart zu holen, wie es Benedict Cumberbatch in der Fernsehserie getan hat.
Diesmal stand er vor einer großen Aufgabe: "Der Fall Moriarty" ist der erste Holmes-Roman ohne Holmes. Der Verstorbene, rühmt Inspektor Lestrade in seinem Nachruf, war ein Genie, auch wenn er fragwürdige Methoden und eine merkwürdige Art hatte und sein "feines Netz von spitzfindigen Theorien oft aus dünner Luft" gestrickt war. In Scotland-Yard-Inspektor Athelney Jones und dem Pinkerton-Detektiv Frederick Chase stehen bereits Nachfolger in den Startlöchern. Man kennt Jones als beschränktes Beamtenhirn mit Gehstock und rotem Kopf; Holmes selbst hat ihm ein vernichtendes Urteil ausgestellt: "Wenn Gregson oder Lestrade oder Athelney Jones am Ende ihrer Weisheit sind - was bei ihnen übrigens der Normalfall ist -, dann wird die Sache mir unterbreitet."
Dabei kann Jones nicht nur Fährten, Zigarrenasche, Dresscodes und Geheimschriften wie der Meister lesen, sondern ist geradezu besessen von seinem Idol. Er hat einen Gedächtnisschrein mit Phiolen, Bunsenbrennern und türkischen Pantoffeln eingerichtet und träumt davon, den wenig glamourösen Polizeidienst zu quittieren. Sein gelehriger Assistent Chase zeigt sich geschmeichelt: "Sie Holmes und ich Watson? Ist vielleicht gar keine so schlechte Idee." Zusammen wären sie ein unschlagbares Duo: Amerikanischer Pragmatismus und europäischer Geist, der begriffsstutzige Privatschnüffler aus New York und der beste Mann von Scotland Yard; persönliche Differenzen müssen um der öffentlichen Sicherheit willen hintangestellt werden. Denn Holmes und Moriarty haben mit ihrem spektakulären Doppelselbstmord den Weg freigemacht für das absolut Böse. In Clarence Devereux hat der Napoleon des Verbrechens einen Erben gefunden, der noch skrupelloser, verschlagener und mächtiger ist, und Jones ist entschlossen, ihm sein Waterloo zu bereiten. Moriarty war immerhin Mathematiker und Gentleman, er bewies Sportsgeist, Diskretion, Rudimente von Anstand. Der König der amerikanischen Unterwelt dagegen, lichtscheu, agoraphob und seit seinen Anfängen in den Schlachthöfen Chicagos Vegetarier, schreckt bei der Ausweitung seiner Kampfzone nach Europa vor nichts zurück. Jones heftet sich mit bewährten Mitteln an Devereux' Fersen, aber der Schurke hat sich als Diplomat in der amerikanischen Botschaft verschanzt.
Die Erzähler im britischen Whodunit sind, wie man seit Agatha Christies "Murder of Roger Ackroyd" weiß, nicht immer zuverlässig. Wer Dr. Watson salopp Ungereimtheiten ("Ich finde, der Junge übertreibt's einfach") vorwirft und Holmes' scharfe Logik mit "gesundem Menschenverstand" zerpflückt, ist wenig vertrauenswürdig, auch wenn er noch so treudoof "Gütiger Himmel!" ruft. Der Roman hat alles, was einen klassischen Holmes-Fall auszeichnet: Aberwitzige Deduktionen, avancierte Gimmicks wie Telegraph, Kinematograph und Schießstock, Tatorte in den dunkelsten Winkeln Londons, exzentrische Figuren, bizarre Morde und eine verblüffende Auflösung. Was ihm fehlt, sind Drogen, Geigensoli, Ironie - kurz: das gewisse Etwas. Jones ist nicht der, für den er sich hält, Chase ist nicht der, der er zu sein vorgibt, und Horowitz auch nicht der kongeniale Erbe von Arthur Conan Doyle.
MARTIN HALTER
Anthony Horowitz: "Der Fall Moriarty". Roman. Aus dem Englischen von Lutz W.Wolff. Insel Verlag, Berlin 2014. 342 S., geb., 19,95 [Euro].
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