Von Krimipreisträger Max Annas: Der erste große Kriminalroman, der in der DDR spielt. An einer Bahnstrecke nahe Jena wird 1983 eine entstellte Leiche gefunden. Wie ist der junge Mosambikaner zu Tode gekommen? Oberleutnant Otto Castorp von der Morduntersuchungskommission Gera sucht Zeugen und stößt auf Schweigen. Doch Indizien weisen auf ein rassistisches Verbrechen. Als sich dies nicht länger übersehen lässt, werden die Ermittlungen auf Weisung von oben eingestellt. Denn so ein Mord ist in der DDR nicht vorstellbar. Also ermittelt Otto Castorp auf eigene Faust weiter. Und wird dabei beobachtet.
Ein packender Kriminalroman, der Auftakt einer Serie, ein Buch, das weit über die achtziger Jahre und die DDR hinausweist.
Ein packender Kriminalroman, der Auftakt einer Serie, ein Buch, das weit über die achtziger Jahre und die DDR hinausweist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2019Täter, die es gar nicht gibt
Max Annas rekonstruiert einen Mord aus DDR-Zeiten
Auf Seite 187 ist der Fall nicht gelöst, aber abgegeben. "Für uns ist die Arbeit zu Ende", spricht der Leiter der Morduntersuchungskommission (MUK) im thüringischen Gera. "Wenn es begann, nach Politik zu riechen, übernahmen die Genossen" - die von der Spezialkommission des Ministeriums für Staatssicherheit. Das weiß Otto Castorp, Oberleutnant bei den Kriminalern, nur zu gut, schließlich arbeitet sein Bruder Bodo beim MfS. Sie gehen zusammen auf den Fußballplatz, und jeden Sonntag sitzen sie brav zum Mittagessen bei ihren Eltern, damit die sich an ihren staatsschützenden Söhnen erfreuen können.
Wir sind in den mittleren achtziger Jahren in der DDR und im fünften Roman seit 2014 von Max Annas, den der 1963 in Köln geborene Autor - ein Späteinsteiger im Genre, der sich rasant entwickelt hat - soeben vorgelegt hat. "Morduntersuchungskommission" ist der Auftakt einer Serie, Band zwei ist in Arbeit. Annas bringt historische Anschauung mit: In den Achtzigern hat er sich nach eigenen Angaben im Arbeiter- und-Bauern-Staat herumgetrieben, bis man ihm die Einreise verweigerte, als es beinahe schon zu spät war - 1989.
Diese Erfahrung nutzt er auf angenehm zurückhaltende Weise. Die Atmosphäre dieser schon bleiern werdenden Zeit evoziert er vorsichtig, er tupft, anstatt zu prunken. Weder wird mit Biersorten oder Zigarettenmarken Echtheit behauptet, noch knattern ständig Plaste- und-Elaste-Bomber durch die Seiten - DDR-Nostalgie hat bei Annas keinen Raum. Stattdessen ein schlankes Glossar, darin Begriffe wie "Erster Angriff", was "Sicherung des Auffindungs- oder Tatortes, gegebenenfalls Festnahme oder Fahndung" bedeutet.
Aber viel ist nicht mehr zu holen bei dieser übel zugerichteten Leiche, welche die MUK nahe den Bahngleisen findet. Ein Schwarzer, einer jener 90 000 Vertragsarbeiter, die von den siebziger Jahren an aus Angola, Kuba, Vietnam, Algerien und Moçambique ins Land geholt wurden, um den Sozialismus aufzubauen. Aber ein Mord an einem Vertreter eines Brudervolkes? Sieht so Völkerfreundschaft aus? Man wird der Familie schreiben: Arbeitsunfall, schrecklich zugerichtet, besser den Sarg nicht öffnen.
Es ist nicht der einzige Leichenfund in diesem Roman, aber der zentrale. Denn als die MUK den Fall abgeben muss, macht Otto allein weiter. Was er nicht bedenkt, ist, dass er vielleicht selbst überwacht werden könnte bei seinen Privatermittlungen. Denn das Schicksal des Schwarzen lässt ihm keine Ruhe. Und so kommt er mit klassischer Polizeiarbeit Schritt für Schritt zu der Erkenntnis, dass er es mit Tätern zu hat, die es offiziell in der DDR gar nicht gibt - Nazis.
Annas rekurriert auf einen bis heute nicht vollständig aufgeklärten echten Fall aus dem Jahr 1986. Manuel Diogo, dem er das Buch widmet, wurde in einem Zug von Berlin nach Dessau von Neonazis ermordet. Der Elan, diesen und ähnliche Fälle nach der Wiedervereinigung aufzuklären, scheint bei den Staatsanwaltschaften nicht stark ausgeprägt gewesen zu sein. Und so ist Annas' Roman auch ein Bemühen um Gerechtigkeit gegenüber dem Leiden Diogos, der im Buch Teo Macamo heißt. Dass das Setting im dreißigsten Jahr des Mauerfalls und angesichts der politischen Lage im deutschen Osten punktlandet, schadet der Aufmerksamkeit gewiss nicht.
Und Annas bleibt seinem Thema, der Ausländerfeindlichkeit, treu, dem er sich nach zwei Romanen, die in Afrika spielten ("Die Farm", "Die Mauer"), auf deutschem Grund und Boden zugewendet hat ("Illegal" und "Finsterwalde"). Einen ähnlichen Fall hat zuletzt Philipp Reinartz in "Fremdland" verhandelt (F.A.Z. vom 4. März 2019). Annas schreibt einen schlackenlosen Stil, der nicht nach Cliffhangern schielt und nicht zu sehr auf die Noir-Tube drückt. Er entwickelt die Geschichte aus dem Alltag der Polizeiroutine, folgt Otto Castorp ins Familienleben und zu einer Geliebten, die mehr ist, als sie vorgibt zu sein.
Im Kern geht es darum, dass Castorp ein guter Bulle ist. Und um ein solcher zu bleiben, riskiert er seine Laufbahn. Als er zur Rede gestellt wird, warum er trotz anderslautenden Befehls weiter ermittelt, sagt er: "Es gibt diese Momente, die gehen einfach über das hinaus, was wir in der Ausbildung und im Studium lernen." Man sieht den Schwierigkeiten, in die er im nächsten Fall geraten wird, gelassen entgegen.
HANNES HINTERMEIER
Max Annas:
"Morduntersuchungskommission". Roman.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2019.
352 S., geb., 20.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Max Annas rekonstruiert einen Mord aus DDR-Zeiten
Auf Seite 187 ist der Fall nicht gelöst, aber abgegeben. "Für uns ist die Arbeit zu Ende", spricht der Leiter der Morduntersuchungskommission (MUK) im thüringischen Gera. "Wenn es begann, nach Politik zu riechen, übernahmen die Genossen" - die von der Spezialkommission des Ministeriums für Staatssicherheit. Das weiß Otto Castorp, Oberleutnant bei den Kriminalern, nur zu gut, schließlich arbeitet sein Bruder Bodo beim MfS. Sie gehen zusammen auf den Fußballplatz, und jeden Sonntag sitzen sie brav zum Mittagessen bei ihren Eltern, damit die sich an ihren staatsschützenden Söhnen erfreuen können.
Wir sind in den mittleren achtziger Jahren in der DDR und im fünften Roman seit 2014 von Max Annas, den der 1963 in Köln geborene Autor - ein Späteinsteiger im Genre, der sich rasant entwickelt hat - soeben vorgelegt hat. "Morduntersuchungskommission" ist der Auftakt einer Serie, Band zwei ist in Arbeit. Annas bringt historische Anschauung mit: In den Achtzigern hat er sich nach eigenen Angaben im Arbeiter- und-Bauern-Staat herumgetrieben, bis man ihm die Einreise verweigerte, als es beinahe schon zu spät war - 1989.
Diese Erfahrung nutzt er auf angenehm zurückhaltende Weise. Die Atmosphäre dieser schon bleiern werdenden Zeit evoziert er vorsichtig, er tupft, anstatt zu prunken. Weder wird mit Biersorten oder Zigarettenmarken Echtheit behauptet, noch knattern ständig Plaste- und-Elaste-Bomber durch die Seiten - DDR-Nostalgie hat bei Annas keinen Raum. Stattdessen ein schlankes Glossar, darin Begriffe wie "Erster Angriff", was "Sicherung des Auffindungs- oder Tatortes, gegebenenfalls Festnahme oder Fahndung" bedeutet.
Aber viel ist nicht mehr zu holen bei dieser übel zugerichteten Leiche, welche die MUK nahe den Bahngleisen findet. Ein Schwarzer, einer jener 90 000 Vertragsarbeiter, die von den siebziger Jahren an aus Angola, Kuba, Vietnam, Algerien und Moçambique ins Land geholt wurden, um den Sozialismus aufzubauen. Aber ein Mord an einem Vertreter eines Brudervolkes? Sieht so Völkerfreundschaft aus? Man wird der Familie schreiben: Arbeitsunfall, schrecklich zugerichtet, besser den Sarg nicht öffnen.
Es ist nicht der einzige Leichenfund in diesem Roman, aber der zentrale. Denn als die MUK den Fall abgeben muss, macht Otto allein weiter. Was er nicht bedenkt, ist, dass er vielleicht selbst überwacht werden könnte bei seinen Privatermittlungen. Denn das Schicksal des Schwarzen lässt ihm keine Ruhe. Und so kommt er mit klassischer Polizeiarbeit Schritt für Schritt zu der Erkenntnis, dass er es mit Tätern zu hat, die es offiziell in der DDR gar nicht gibt - Nazis.
Annas rekurriert auf einen bis heute nicht vollständig aufgeklärten echten Fall aus dem Jahr 1986. Manuel Diogo, dem er das Buch widmet, wurde in einem Zug von Berlin nach Dessau von Neonazis ermordet. Der Elan, diesen und ähnliche Fälle nach der Wiedervereinigung aufzuklären, scheint bei den Staatsanwaltschaften nicht stark ausgeprägt gewesen zu sein. Und so ist Annas' Roman auch ein Bemühen um Gerechtigkeit gegenüber dem Leiden Diogos, der im Buch Teo Macamo heißt. Dass das Setting im dreißigsten Jahr des Mauerfalls und angesichts der politischen Lage im deutschen Osten punktlandet, schadet der Aufmerksamkeit gewiss nicht.
Und Annas bleibt seinem Thema, der Ausländerfeindlichkeit, treu, dem er sich nach zwei Romanen, die in Afrika spielten ("Die Farm", "Die Mauer"), auf deutschem Grund und Boden zugewendet hat ("Illegal" und "Finsterwalde"). Einen ähnlichen Fall hat zuletzt Philipp Reinartz in "Fremdland" verhandelt (F.A.Z. vom 4. März 2019). Annas schreibt einen schlackenlosen Stil, der nicht nach Cliffhangern schielt und nicht zu sehr auf die Noir-Tube drückt. Er entwickelt die Geschichte aus dem Alltag der Polizeiroutine, folgt Otto Castorp ins Familienleben und zu einer Geliebten, die mehr ist, als sie vorgibt zu sein.
Im Kern geht es darum, dass Castorp ein guter Bulle ist. Und um ein solcher zu bleiben, riskiert er seine Laufbahn. Als er zur Rede gestellt wird, warum er trotz anderslautenden Befehls weiter ermittelt, sagt er: "Es gibt diese Momente, die gehen einfach über das hinaus, was wir in der Ausbildung und im Studium lernen." Man sieht den Schwierigkeiten, in die er im nächsten Fall geraten wird, gelassen entgegen.
HANNES HINTERMEIER
Max Annas:
"Morduntersuchungskommission". Roman.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2019.
352 S., geb., 20.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Max Annas' Krimi nimmt den realen Fall eines ermordeten Vertragsarbeiterts in der DDR nur zum Aufhänger, um daraus einen fantasievollen Krimi zu machen, weiß Rezensentin Christiane Müller-Lobeck. Der eigentlich gemütliche Kommissar Otto Castorp will hinter das Geheimnis um den Tod eines Mosambikaners kommen, dessen Leiche auf der Bahnstrecke zwischen Berlin und Dessau gefunden wurde, obwohl die Ermittlungen offiziell eingestellt wurden, erzählt die Kritikerin. Die Geschichte räumt Müller-Lobeck zufolge mit dem Mythos auf, es habe in der DDR noch keine Neonazis gegeben, und auch die Emanzipation der Frau stellt Annas als weniger fortgeschritten dar als oft behauptet. Müller-Lobeck fand den Krimi nicht nur lehrreich, er hat sie auch so gut unterhalten, dass sie auf weitere DDR-Geschichten mit Castorp hofft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Max Annas braucht keine gängigen Krimi-Tricks, um seine Story packend zu halten. ... Als Leser hofft man indes, dass Oberleutnant Castorp in Gera wegen seiner Sololäufe nicht abgesetzt wird, denn das Buch ist als Auftakt einer Serie angekündigt. Hanspeter Eggenberger Tages-Anzeiger 20190905
Rezensent Ulrich Noller wartet nach diesem ersten Fall für den MUK-Ermittler Otto Castorp gespannt auf den nächsten. Die an einem realen ungeklärten Mord von 1983 inspirierte Geschichte handelt von der brutalen Ermordung eines Schwarzen und zeigt dem Kritiker zufolge, dass auch in der DDR ein Fremdenhass-Problem existierte, vielleicht sogar Neonazis. Da das nicht zum offiziellen Bild passt, das die DDR von sich zeichnet, wird die Ermittlung eingestellt und Selbstmord angenommen, aber Castorp bleibt trotzdem dran, erzählt der begeisterte Kritiker. Er lobt den Krimi als nüchtern, dafür aber umso spannender, und verspricht ein grandioses, unerwartetes Finale, von dem er aber nicht zu viel verraten will.
© Perlentaucher Medien GmbH
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