Produktdetails
- Verlag: Pendo
- Seitenzahl: 366
- Abmessung: 190mm x 120mm x 26mm
- Gewicht: 354g
- ISBN-13: 9783858423832
- ISBN-10: 3858423831
- Artikelnr.: 08883243
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2000Zwei Wahrheiten sind eine zuviel
Ironisch folgen sie in der kürzlich erschienen Geschichte des Suhrkamp Verlags unmittelbar aufeinander: Die beiden Literaturpreisträger mit dem Anfangsbuchstaben "W" des Jahres 1996, Martin Walser, der den Hölderlin-Preis erhielt, und Binjamin Wilkomirski, damals ausgezeichnet mit dem Jewish National Book Award. Zwei Jahre später, bei der Buchmesse 1998, standen ihre Namen für die Sollbruchstelle der Erinnerungspolitik; Walser hätte sich für seine Sätze zur "Instrumentalisierung unserer Schande" keinen besseren Beleg wünschen können als Wilkomirskis erfundene Opfergeschichte aus den Vernichtungslagern. Wenige Wochen zuvor hatte der schweizerische Schriftsteller Daniel Ganzfried das Buch "Bruchstücke" als pure Fiktion bezeichnet: Bruno Dössekker, der sich "Wilkomirski" nennt, habe ein KZ nur als Tourist gesehen. Aber der Anonymus, der "Die Geschichte des Suhrkamp Verlages 1950-2000" (Frankfurt am Main 2000) schrieb, mag es an dieser Stelle eilig gehabt haben. Daß das vermeintliche Erinnerungsbuch Wilkomirskis im Oktober 1999 vom Markt genommen werden mußte, nachdem sich der Fälschungsverdacht bestätigte, bleibt unerwähnt.
Wie hatte es zu der Publikation kommen können? Immerhin hatte Hanno Helbling, früherer Feuilleton-Chef der "Neuen Zürcher Zeitung", die Verlagsleitung gewarnt: "So, wie es früher gut zu wissen war, daß man heimlicherweise von Königen abstammte, so hat er sich davon überzeugen können, daß er ein überlebendes Opfer von Auschwitz sei." Die Suhrkamp-Geschichte merkt an, man habe danach "bei den Wissenschaftlern von Yad Vashem" recherchiert, "die über die Geschichte der ,Kinder ohne Identität' forschen, das Erscheinen des Buches verzögert sich. Als es dann im August ausgeliefert wird, nimmt die Kritik es als wesentlich auf."
Freilich, so könnte es gewesen sein. Nur daß inzwischen einer da ist, der eine andere Geschichte erzählt. Der Schweizer Historiker Stefan Mächler, von Wilkomirskis Agentur mit einer unabhängigen Expertise beauftragt, macht in seiner nun veröffentlichten Arbeit auf die Ungereimtheiten in den Erklärungen des Verlags aufmerksam. Die Wissenschaftler, die man von seiten des Verlags befragte, waren keine, und sie arbeiteten nicht "bei Yad Vashem", der israelischen Holocaust-Gedenkstätte. Yad Vashem nämlich ist, wie dessen Leiter Yehuda Bauer bald klarstellte, niemals um ein inhaltliches Gutachten zur Echtheitsfrage gebeten worden: Die Auskunft, die man erteilt hatte, beschränkte sich auf die Angabe der Bibliotheksnummer von Wilkomirskis Video-Aufzeichnung. Lea Balint, damalige Hauptzeugin des Verlags, hat, so Mächler, "im Text irrtümlicherweise einen Doktortitel bekommen, und der Wortlaut legt nahe, sie als Mitarbeiterin von Yad Vashem zu verstehen". Mächler konstatiert eine Anhäufung von "Fehlleistungen" (Stefan Mächler: "Der Fall Wilkomirski". Über die Wahrheit einer Biographie. Pendo-Verlag, Zürich 2000. 369 S., Abb., br., 19,90 DM).
Am Anfang der Kunstperson "Wilkomirski" standen Psychotherapeuten, die ihren Patienten Dössekker zu immer neuen Phantasien ermutigten. Aber auch die Kritik spielte mit. Besonders fragwürdig, so Mächler, sei die Rolle von Klara Obermüller, einer in der Schweiz bekannten Literaturkritikerin: "Sie lobte in ihrer Besprechung das Werk, streute aber gleichzeitig Zweifel, vor deren Vertiefung sie wiederum warnte." Als Ganzfrieds Enthüllungen kurz vor der Publikation standen, versuchte sie dagegen zu intervenieren. Als Präsidentin der Zürcher Literaturkommission war sie für die Verleihung eines (inzwischen aberkannten) Preises verantwortlich.
Hauptverantwortlich aber dürfte Thomas Sparr sein, damals Lektor des Jüdischen Verlags. Er votierte trotz der Zweifel für eine Publikation, seine mangelhafte Recherche in Israel führte schließlich das internationale Debakel herbei. Sparr hatte sich, wie viele der späteren Leser, mit dem Buch derart emotional identifiziert, daß er es zuweilen öffentlich vortrug und der Presse erklärte, selten habe ihn ein Text "so verwirrt, ein Manuskript in einer Nacht seine literarischen Kategorien so sehr durcheinandergebracht". Aber je länger die Affäre dauerte, um so schweigsamer wurde er.
Damit kommen die Stilfragen ins Spiel, die den Fall begleiteten: Als das Buch vor knapp einem Jahr zurückgenommen wurde, gab es vom Suhrkamp Verlag eine kurze Erklärung, die nicht namentlich gezeichnet war. Deutlich anders das Bewußtsein individueller Verantwortung in den Vereinigten Staaten: Dort unterzeichnete Carol Brown Janeway, die amerikanische Übersetzerin und Lektorin des Buches, persönlich die Erklärung der Rücknahme.
Mächlers Buch gibt eine solide, allerdings langatmige Darstellung des Falles. Lesbarer ist das Buch von Elena Lappin ("Der Mann mit zwei Köpfen". Chronos-Verlag, Zürich 2000. 104 S., Abb., geb., 29.- DM). Ende 1998 begann sie eine Reise zu Gesprächspartnern in der Schweiz, in Polen und in Israel; langsam kristallisierte sich die Wahrheit hinter Wilkomirskis aus Filmen und Lektüren perfekt kombinierten Geschichten heraus. Wenn etwas von der Affäre bleibt, dann wird es das Buch dieser glänzenden Erzählerin sein. Beklemmend nehmen sich vor allem die Mystifikationen aus, zu denen die Verteidiger griffen, um den schlichten Sachfragen auszuweichen. Da war von zwei Wahrheiten die Rede, der inneren und der äußeren, von der Unmöglichkeit der Seelendurchleuchtung: Der Holocaust war dabei, zur pseudoreligiösen Ikone zu mutieren. Sowohl das Manuskript zum "Mann mit zwei Köpfen" wie das Gutachten von Mächler lagen dem Suhrkamp Verlag vor, der sich in beiden Fällen nicht zu einer Publikation entschließen konnte. Es ist müßig, über die Gründe im einzelnen zu spekulieren. Nur soviel begreift man: daß die abgemilderte Version der Haus-Geschichte von Suhrkamp und Mächlers Bericht tatsächlich nicht im selben Verlag erscheinen konnten.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ironisch folgen sie in der kürzlich erschienen Geschichte des Suhrkamp Verlags unmittelbar aufeinander: Die beiden Literaturpreisträger mit dem Anfangsbuchstaben "W" des Jahres 1996, Martin Walser, der den Hölderlin-Preis erhielt, und Binjamin Wilkomirski, damals ausgezeichnet mit dem Jewish National Book Award. Zwei Jahre später, bei der Buchmesse 1998, standen ihre Namen für die Sollbruchstelle der Erinnerungspolitik; Walser hätte sich für seine Sätze zur "Instrumentalisierung unserer Schande" keinen besseren Beleg wünschen können als Wilkomirskis erfundene Opfergeschichte aus den Vernichtungslagern. Wenige Wochen zuvor hatte der schweizerische Schriftsteller Daniel Ganzfried das Buch "Bruchstücke" als pure Fiktion bezeichnet: Bruno Dössekker, der sich "Wilkomirski" nennt, habe ein KZ nur als Tourist gesehen. Aber der Anonymus, der "Die Geschichte des Suhrkamp Verlages 1950-2000" (Frankfurt am Main 2000) schrieb, mag es an dieser Stelle eilig gehabt haben. Daß das vermeintliche Erinnerungsbuch Wilkomirskis im Oktober 1999 vom Markt genommen werden mußte, nachdem sich der Fälschungsverdacht bestätigte, bleibt unerwähnt.
Wie hatte es zu der Publikation kommen können? Immerhin hatte Hanno Helbling, früherer Feuilleton-Chef der "Neuen Zürcher Zeitung", die Verlagsleitung gewarnt: "So, wie es früher gut zu wissen war, daß man heimlicherweise von Königen abstammte, so hat er sich davon überzeugen können, daß er ein überlebendes Opfer von Auschwitz sei." Die Suhrkamp-Geschichte merkt an, man habe danach "bei den Wissenschaftlern von Yad Vashem" recherchiert, "die über die Geschichte der ,Kinder ohne Identität' forschen, das Erscheinen des Buches verzögert sich. Als es dann im August ausgeliefert wird, nimmt die Kritik es als wesentlich auf."
Freilich, so könnte es gewesen sein. Nur daß inzwischen einer da ist, der eine andere Geschichte erzählt. Der Schweizer Historiker Stefan Mächler, von Wilkomirskis Agentur mit einer unabhängigen Expertise beauftragt, macht in seiner nun veröffentlichten Arbeit auf die Ungereimtheiten in den Erklärungen des Verlags aufmerksam. Die Wissenschaftler, die man von seiten des Verlags befragte, waren keine, und sie arbeiteten nicht "bei Yad Vashem", der israelischen Holocaust-Gedenkstätte. Yad Vashem nämlich ist, wie dessen Leiter Yehuda Bauer bald klarstellte, niemals um ein inhaltliches Gutachten zur Echtheitsfrage gebeten worden: Die Auskunft, die man erteilt hatte, beschränkte sich auf die Angabe der Bibliotheksnummer von Wilkomirskis Video-Aufzeichnung. Lea Balint, damalige Hauptzeugin des Verlags, hat, so Mächler, "im Text irrtümlicherweise einen Doktortitel bekommen, und der Wortlaut legt nahe, sie als Mitarbeiterin von Yad Vashem zu verstehen". Mächler konstatiert eine Anhäufung von "Fehlleistungen" (Stefan Mächler: "Der Fall Wilkomirski". Über die Wahrheit einer Biographie. Pendo-Verlag, Zürich 2000. 369 S., Abb., br., 19,90 DM).
Am Anfang der Kunstperson "Wilkomirski" standen Psychotherapeuten, die ihren Patienten Dössekker zu immer neuen Phantasien ermutigten. Aber auch die Kritik spielte mit. Besonders fragwürdig, so Mächler, sei die Rolle von Klara Obermüller, einer in der Schweiz bekannten Literaturkritikerin: "Sie lobte in ihrer Besprechung das Werk, streute aber gleichzeitig Zweifel, vor deren Vertiefung sie wiederum warnte." Als Ganzfrieds Enthüllungen kurz vor der Publikation standen, versuchte sie dagegen zu intervenieren. Als Präsidentin der Zürcher Literaturkommission war sie für die Verleihung eines (inzwischen aberkannten) Preises verantwortlich.
Hauptverantwortlich aber dürfte Thomas Sparr sein, damals Lektor des Jüdischen Verlags. Er votierte trotz der Zweifel für eine Publikation, seine mangelhafte Recherche in Israel führte schließlich das internationale Debakel herbei. Sparr hatte sich, wie viele der späteren Leser, mit dem Buch derart emotional identifiziert, daß er es zuweilen öffentlich vortrug und der Presse erklärte, selten habe ihn ein Text "so verwirrt, ein Manuskript in einer Nacht seine literarischen Kategorien so sehr durcheinandergebracht". Aber je länger die Affäre dauerte, um so schweigsamer wurde er.
Damit kommen die Stilfragen ins Spiel, die den Fall begleiteten: Als das Buch vor knapp einem Jahr zurückgenommen wurde, gab es vom Suhrkamp Verlag eine kurze Erklärung, die nicht namentlich gezeichnet war. Deutlich anders das Bewußtsein individueller Verantwortung in den Vereinigten Staaten: Dort unterzeichnete Carol Brown Janeway, die amerikanische Übersetzerin und Lektorin des Buches, persönlich die Erklärung der Rücknahme.
Mächlers Buch gibt eine solide, allerdings langatmige Darstellung des Falles. Lesbarer ist das Buch von Elena Lappin ("Der Mann mit zwei Köpfen". Chronos-Verlag, Zürich 2000. 104 S., Abb., geb., 29.- DM). Ende 1998 begann sie eine Reise zu Gesprächspartnern in der Schweiz, in Polen und in Israel; langsam kristallisierte sich die Wahrheit hinter Wilkomirskis aus Filmen und Lektüren perfekt kombinierten Geschichten heraus. Wenn etwas von der Affäre bleibt, dann wird es das Buch dieser glänzenden Erzählerin sein. Beklemmend nehmen sich vor allem die Mystifikationen aus, zu denen die Verteidiger griffen, um den schlichten Sachfragen auszuweichen. Da war von zwei Wahrheiten die Rede, der inneren und der äußeren, von der Unmöglichkeit der Seelendurchleuchtung: Der Holocaust war dabei, zur pseudoreligiösen Ikone zu mutieren. Sowohl das Manuskript zum "Mann mit zwei Köpfen" wie das Gutachten von Mächler lagen dem Suhrkamp Verlag vor, der sich in beiden Fällen nicht zu einer Publikation entschließen konnte. Es ist müßig, über die Gründe im einzelnen zu spekulieren. Nur soviel begreift man: daß die abgemilderte Version der Haus-Geschichte von Suhrkamp und Mächlers Bericht tatsächlich nicht im selben Verlag erscheinen konnten.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Christiane Zintzen zeichnet den Fall Wilkomirski noch einmal nach, bevor sie auf Mächlers Untersuchung über die gefälschte Biografie zu sprechen kommt: Es geht um das umstrittene, mittlerweile sogar gesperrten Werk von Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948", erschienen bei Suhrkamp im Jahre 1995 und bald darauf Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen. Die vermeintliche Biographie wurde 1998 von einem Daniel Ganzfried als Fälschung bezeichnet, weil Wilkomirski - anders als sein Ich-Erzähler - nie Häftling in einem Konzentrationslagers gewesen war. Die Rezensentin ist beeindruckt von dem Material, dass Mächler zusammengetragen hat und der behutsamen Rekonstruktion von Wilkomirskis Geschichte. Dass es in der Darstellung Wiederholungen und Längen gibt, scheint ihr dagegen unbedeutend zu sein. Auch mit dem Erklärungsansatz des Autors, "dass die Rezeption als faktischen Realismus auffasste, was Wilkomirski als psychische Realität verstand", ist Zintzen einverstanden. Wie Mächler sind ihr die Fälschungsvorwürfe Ganzfrieds zu einfach. Die in dem Buch vertretene Auffassung, dass Wilkomirskis "Über-Identifikation" mit den Opfern des Holocausts eine eigene "psychische `Wahrheit`" beinhalte, erscheint ihr dagegen der "sanftere Weg" zu sein. Zintzen weist noch auf ein anderes Buch zu diesem Thema hin, ohne jedoch weiter darauf einzugehen: "Der Mann mit zwei Köpfen" von Elena Lappin, erschienen im Chronos Verlag, 2000.
© Perlentaucher Medien GmbH
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