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Das häufig verwendete Argument der 'Unvermeidbarkeit' des Ersten Weltkrieges, der prägenden Urkatastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts, ist im Licht der hier vorliegenden Neuinterpretation und der Auswertung bislang unter Verschluß gehaltener Quellen nicht länger haltbar.

Produktbeschreibung
Das häufig verwendete Argument der 'Unvermeidbarkeit' des Ersten Weltkrieges, der prägenden Urkatastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts, ist im Licht der hier vorliegenden Neuinterpretation und der Auswertung bislang unter Verschluß gehaltener Quellen nicht länger haltbar.
Autorenporträt
Niall Ferguson, ist Professor für Geschichte an der Harvard University mit Schwerpunkt Finanz- und Wirtschaftsgeschichte sowie Senior Research Fellow der Oxford University. Er ist ein sehr profilierter Historiker der angelsächsischen Welt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.1999

Nicht Deutschland lehrte England das Fürchten, sondern Europa
Niemand wollte den großen Krieg, und doch war er unvermeidlich: Die Wissenschaft findet gute Gründe für den Fatalismus der Handelnden

Die meisten Europäer halten den Ersten Weltkrieg für die Urkatastrophe dieses Jahrhunderts. Sie nennen ihn la grande guerre, the great war oder la grande guerra. Der Zweite Weltkrieg gilt ihnen, wie der Name andeutet, als ein sekundäres Phänomen. Nicht so den Deutschen. Im Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland zum ersten Mal seit 1813, seit dem Rückzug Napoleons, wieder Schauplatz eines Krieges, wenn auch erst gegen dessen Ende. Die vollständige Niederlage, die Besetzung, die Aufteilung des Reiches besiegelten einen politisch-moralischen Zusammenbruch, der 1933 begonnen hatte mit der Ermächtigung Adolf Hitlers und der NSDAP. Alles, was sich in einer Geschichte als Entwicklungsgeschichte ereignet, bereitet sich vor, hat seine fernwirkenden Ursachen in der Tiefe der Jahre. Die Deutschen beugten sich über ihre Vergangenheiten, um ihr ureigenes Scheitern zu begreifen. Ganz mit sich selbst beschäftigt, isolierten sie sich, ihren Fall in jeder Bedeutung des Wortes, vom übrigen Europa, das höchstens insoweit Berücksichtigung fand, als es die Einmaligkeit deutscher Daseinsverfehlung unmittelbar veranschaulichen konnte und nachdrücklich zu bestätigen vermochte, wie sehr Deutschland als kollektives Individuum die anderen beunruhigt, gekränkt, verletzt oder herausgefordert hatte.

Der Erste Weltkrieg und die Zeit vor ihm verengten sich unter solchen Voraussetzungen zu einem sehr deutschen Abenteuer, das vor allem darüber unterrichten sollte, wie und weshalb es zum Nationalsozialismus kam, möglicherweise kommen mußte. Es waren rein innerdeutsche Spannungen und Fragestellungen, die nach Antworten verlangten. Unter solchen Voraussetzungen war es nicht überraschend, daß deutsche Historiker einen Primat der Innenpolitik geltend machten und jede Bemühung, nach außen hin zu wirken, als Reflex unbewältigter Zerrungen und Verkrampfungen auffaßten.

Deutschland und nicht Europa stand im Mittelpunkt für Fritz Fischer und all jene, die ihm folgten, als er 1961 den deutschen "Griff nach der Weltmacht" und 1969 den deutschen "Krieg der Illusionen" schilderte. Der Erste Weltkrieg wurde in diesem Sinne zu einem spezifisch deutschen Krieg; seine Betrachtung diente dem Vorhaben, umfassend zu erklären, wie Deutschland aufgrund struktureller Mängel in seiner Gesamtverfassung seit 1870 leichtsinnig die Chance verwirkte, sich zu einer moralisch anständigen Großmacht im Verein der großen Mächte zu bilden.

Ein junger schottischer Historiker, Niall Ferguson, vermag mit solchen Bemühungen wenig anzufangen. In seiner Untersuchung zur Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkrieges interessieren ihn nicht mögliche Kontinuitäten, die in Deutschland möglicherweise im Nationalsozialismus erst zu ihrer vollen Entfaltung gelangten. Er möchte ganz einfach verstehen, wie es zum großen Krieg kam. Die unter dem Eindruck Adolf Hitlers gewonnenen systematischen Erklärungen deutscher Politik zu Beginn dieses Jahrhunderts befriedigen ihn überhaupt nicht. Er verwirft mit größter Unbefangenheit den sogenannten Primat der Innenpolitik, die These, daß aufgrund struktureller Zwänge eine unzulänglich demokratisierte, halbfeudale, sehr autoritäre und deshalb militaristische Gesellschaft sich in den Krieg stürzte, weil sie keinen anderen Ausweg mehr wußte, um ihrer Widersprüche Herr zu werden.

Ein Modell wie der Primat der Innenpolitik muß sich verallgemeinern lassen. Eine Übertragung auf die übrigen europäischen Staaten ist aber nicht möglich, wie Ferguson mit Vergleichen belegt, womit er zugleich dessen Erklärungskraft auch für rein deutsche Belange verwirft. Gilt der Primat der Innenpolitik nicht, dann erübrigt sich auch die mit ihm verbundene Vorstellung des Griffes nach der Weltmacht. Für Ferguson hat es diesen Griff nie gegeben. Er gehört zu den Konstruktionen, die es gerade deutschen Historikern erschweren, mit ihrer Geschichte ins reine zu kommen, soweit das überhaupt möglich ist. Ferguson wendet sich gegen deutsche Traditionen, die zwar auch hier längst ihre starre Verbindlichkeit eingebüßt haben, aber als gesunkenes Kulturgut dennoch fortleben.

Freilich gab es in England immer Vorbehalte, einen Primat der Innenpolitik anzuerkennen, und insofern resümiert Ferguson nur eine Skepsis, die andere - Zara Steiner, James Joll, John V. F. Keiger oder Dominik Lieven - vor ihm formulierten. Sie wiesen eindringlich darauf hin, daß die Außenpolitik eine Sphäre für sich war, betrieben von dafür "Zuständigen", die einen Einspruch des Parlaments fürchteten. Das Foreign Office wie die Beamten am Quai d'Orsay brauchten ihn in der Regel auch nicht zu fürchten. Vollständig mit innenpolitischen Fragen beschäftigt, kümmerten sich Abgeordnete kaum um Außenpolitik und überließen sie den Fachleuten, die kaum weniger unverhohlen die Parlamentarier verachteten, ging es um die "große Politik", als deutsche Beamte des Auswärtigen Amtes. Trotz aller Parlamentarisierung gehörte die auswärtige Politik zu den "arcana imperii", die möglichst allzu offener Diskussion entzogen bleiben sollten. Im übrigen unterschieden sich nach englischer Auffassung die gesellschaftlichen Verhältnisse und Spannungen in den europäischen Staaten nicht grundsätzlich voneinander.

In Deutschland mochten vorindustrielle Eliten sich immer noch einflußreich bemerkbar machen. Aber das verhielt sich in Frankreich, England oder Rußland nicht anders. Das Deutsche Reich mag nur unvollkommen parlamentarisiert gewesen sein. Diesen Mangel teilte es mit Rußland, aber auch mit England. Dort gab es wohl eine Ministerverantwortlichkeit, aber knapp vierzig Prozent der erwachsenen Männer besaßen 1914 nicht das Wahlrecht. Das Unterhaus blieb bis zum Ersten Weltkrieg fast ein adeliger Club, gegen dessen Entscheidungen das Oberhaus bis 1911 wirksamen Einspruch zu erheben vermochte. Frankreich war eine Republik, aber eine durch Skandale und Korruption erschütterte, die höchstens ein zynisches Vertrauen erlaubte, das Royalisten, Kaisertreue oder Antisemiten ihr ohnehin verweigerten.

Die Furcht vor Sozialisten war unter französischen Bürgern kaum geringer als unter preußischen. Gleichwohl bildete unmittelbar vor dem Krieg die SPD die stärkste Fraktion im Reichstag. Die Frauenemanzipation, die Furcht vor Katholiken und sprachlichen oder nationalen Minderheiten sorgten überall für einige Unruhe. Trotz aller Industrialisierung mußte erhebliche Rücksicht auf die Agrarier genommen werden, die in Preußen wie im anderen Europa keineswegs mehr mit dem Adel allein identisch waren. Der Militarismus prägte in allen Ländern das Verhalten. Schließlich gehörte es zu den bürgerlich-liberalen Errungenschaften, nicht dem Adel allein das Vorrecht zu lassen, für das Vaterland sterben zu dürfen oder zu müssen.

Der Bürger wollte Soldat sein. Doch trachtete er auch nicht allzu stürmisch nach diesem Vorrecht. Nur knapp die Hälfte der Wehrpflichtigen konnte in Deutschland vor dem Krieg eingezogen werden. Die heftigen Klagen über den Militarismus bestätigen im übrigen, daß er sich allgemein auf dem Rückzug befand. Kurzum, ganz Europa sah sich vor weitgehend ähnlichen inneren Herausforderungen in einer Gesellschaft, die auf Arrangements beruhte, die das Bürgertum mit dem Adel, die Industrie mit der Landwirtschaft, das Heer mit den Zivilisten einging. Arrangements, die von einer Bourgeoisie, die weder befehlen noch gehorchen kann, die räsonieren mag, geschlossen wurden, um ihre Position zu behaupten. Diese Kompromisse waren überall dem Widerspruch ausgesetzt und in die Defensive gedrängt. Deshalb erachteten es die Eliten als wenig ratsam, gerade einen Krieg als bestes Mittel einzuschätzen, um innere Schwierigkeiten zu beheben. Es war weithin bekannt, daß jeder Krieg, auch ein siegreicher, zu Veränderungen führt, denen man am besten aus dem Wege gehen kann, wenn man ihn vermeidet.

Darüber unterrichtete Fürst Bülow den deutschen Kronprinzen 1908 ausführlich. "Wir haben bei einem Krieg in Europa nicht viel zu gewinnen. Mehr slawische und französische Elemente und Gebietsteile können wir nicht brauchen. . . . Vor allem darf nicht vergessen werden, daß man in unserer Zeit Kriege nur dann führen kann, wenn das Volk überzeugt ist, daß der Krieg notwendig und daß er gerecht ist. Ein in frivoler und in leichtsinniger Weise hervorgerufener Krieg würde, selbst wenn er glücklich ausliefe, im Inneren nicht günstig wirken. Ein Krieg, der, in solcher Voraussetzung, schief ausginge, würde nach menschlicher Voraussicht eine Katastrophe für die Dynastie bedeuten. Die Geschichte lehrt, daß auf jeden großen Krieg eine liberale Ära folgt, denn die Völker verlangen für die großen Anstrengungen . . . entschädigt zu werden. Ein unglücklicher Krieg aber zwingt die Dynastie, die ihn geführt hat, mindestens zu Konzessionen, die ihr vorher unerträglich erschienen."

Die Nationen bedurften der Ruhe. Sie wußten es. Zugleich waren sie alle von Unruhe gepackt. Man war überzeugt davon, daß sich nur noch wenige Staaten in einer immer enger zusammenwachsenden Welt als wahre, leistungsstarke Großmächte behaupten konnten. Wer rastet, der rostet: Die wirtschaftsliberale Aufforderung zur dauernden Selbstüberholung wurde auf die politischen Verhältnisse angewandt und dynamisierte sämtliche Beziehungen. Ununterbrochen hieß es: Krieg in Sicht. Die Europäer gewöhnten sich an den warnenden Ruf wie an die Routine, den Krieg vorerst wieder einmal außer Sichtweite gerückt zu haben.

Die Zeit des großen europäischen Friedens, der trotz kurzer lokaler Unterbrechungen seit 1815 dauerte, kannte seit dem Ende des Jahrhunderts zunehmende Unsicherheiten. Die Fähigkeit der fünf europäischen Mächte, sich über ihre Interessen zu verständigen, denen sich die Bedürfnisse untergeordneter Staaten einzufügen hatten, ließ seit dem Rücktritt Bismarcks erheblich nach.

Eine Einigung Deutschlands war ein revolutionärer Akt. Bismarcks Bemühung galt dem Zweck, eine deutsche Hegemonie für die anderen wohltätig wirken zu lassen, um sie mit der Existenz des Deutschen Reiches zu versöhnen. Die deutsche Hegemonie, von der er zuweilen sprach, verbarg er hinter mannigfachen Absprachen und Übereinkünften, in die jedes Mitglied des "Europäischen Concerts" nach altem Herkommen hineingezogen wurde. Es war stets eine Mehrheit, die den Rest Europas dazu veranlaßte, nachzugeben, vielleicht zähneknirschend, aber dennoch. Selbst Frankreich, das Bismarck zu isolieren trachtete, um die Mitte Europas stabil zu halten, konnte seinen Nutzen dabei finden, weil er ihm gerne alle Vorteile in Asien und Afrika oder im Mittelmeer gönnte, die es sich erhoffte. Die Möglichkeit, ein genaueres Einverständnis zu erreichen, sofern die Franzosen die blaue Linie der Vogesen allmählich vergaßen, wollte er sich nicht versperren. Als großer Jongleur aus dem Ancien régime und der Schule Metternichs glich er die widerstrebenden Interessen aus, jede Bindung als vorläufige, vom Moment gebotene begreifend, die sofort modifiziert werden kann; sobald der Augenblick es erheischt. Eine Blockbildung widersprach einem solchen Konzept abwägender Beweglichkeit. Es war nicht nur Reichskanzler Caprivi, der sich nach Bismarcks Rücktritt überfordert fühlte, eine derartige Politik des Sichanschmiegens an das gerade Mögliche zu betreiben.

Alle europäischen Staaten sahen sich außerstande, sie fortzusetzen. Sie wünschten Garantien für ihre Sicherheit, dauerhafte Verpflichtungen für eine unbestimmte Zukunft. Die deutsche Kündigung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland zugunsten Österreich-Ungarns 1890, die französich-russische Militärkonvention von 1892 waren vergleichbare Versuche, sich für unberechenbare künftige Konstellationen aufeinander zu verpflichten. Blöcke, nicht Bündnisse, die für je zu treffende Verabredungen Spielraum gewähren, schienen auf einmal Sicherheit zu geben.

England, um 1900 vollständig isoliert, brauchte Entlastung. Sein Reich war zu groß geworden, und es erwies sich als immer schwieriger, die Interessen Kanadas, Australiens, Südafrikas oder Indiens als mit denen des Mutterlandes identisch zu verstehen. Ferguson hält in Übereinstimmung mit anderen britischen Historikern gar nichts von der sehr deutschen Vermutung verpaßter Gelegenheiten einer möglichen deutsch-englischen Freundschaft oder Entente cordiale. Es gab zu wenig fundamentale Gegensätze, als daß man eine Verständigung hätte suchen müssen. Er wiederholt damit das Resümee Zara Steiners, daß eine deutsche Allianz niemals zu den praktischen Möglichkeiten britischer Politik gehörte. "Britische und deutsche Interessen überschnitten sich nicht; es gab kein wirkliches quid pro quo. Wo kein Fluß dazu nötigt, ihn zu überbrücken, besteht kein Anlaß zum Brückenbau."

Rußland und Frankreich waren die klassischen Feinde. Es lag nahe, sich mit ihnen zu einigen, sobald die Last des Imperiums zu schwer wog. Ein inniges Verhältnis zu Deutschland half Großbritannien gar nichts. Ein herzliches deutsch-britisches Einvernehmen bedeutete für England nichts anderes, als die Gelegenheit zu versäumen, je zu einem gedeihlichen Einverständnis mit Rußland und Frankreich zu gelangen. Denn Deutschland war nie bereit, sich wegen ihm gleichgültiger britischer Wünsche in Asien oder Afrika mit Rußland auf Kriege einzulassen, da anspruchslos, wenn es um Kompensationen im europäischen Osten ging, und höchstens anspruchsvoll, um Elsaß-Lothringen bei sich geschützt zu wissen. Verständlicherweise schien es den Engländern, die ihre weltweiten Interessen wahrnehmen wollten, ziemlich unerheblich, wer in Europa diese ganz offensichtlich lästigen Provinzen besaß. Ganz abgesehen davon, daß ihnen höchstens ein Deutschland mit einem energischen Drang nach Osten, also mit Kriegsbereitschaft gegen Rußland und Annexionslust im Osten, ein förderlicher Freund sein konnte.

Doch die Preußen hatten sich ja schon im Krimkrieg um die Jahrhundertmitte nicht dazu bereit erklärt, dabei zu helfen, Rußland, immerhin eine europäische Großmacht, aus Europa abzudrängen und auf ein Großfürstentum Moskau zu reduzieren. Preußen wie Deutschland benötigte Rußland als Gegengewicht zu England und als Schutz vor französischen Aggressionen, solange es Rußland keine Ursachen gab, anzunehmen, es fordere Frankreich ungebührlich heraus. Das russisch-deutsch-französische Verhältnis war viel zu kompliziert, um für Engländer vorteilhaft zu sein. Erfolgverheißender mochte jeder Versuch sein, sich mit Frankreich und über seine Hilfe mit Rußland zu einigen. Denn mit beiden gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten, ganz im Gegensatz zum Deutschen Reich.

Der Bau einer deutschen Kriegsflotte bekümmerte die Engländer zunächst nicht sonderlich. Solange sie in Spannungen mit den Franzosen lebten, die bis 1904 auf dem Kontinent über die größte Flotte neben der russischen verfügten, störte sie ein deutscher Ehrgeiz zur See nicht sonderlich. Das änderte sich sofort, nachdem die russische Flotte 1905 von den Japanern im Russisch-Japanischen Krieg vernichtet worden war. Auf einmal gewannen die deutschen Flottenrüstungen eine ungeahnte Bedeutung. Denn das Flottengleichgewicht, das England im Pazifik ohnehin gegen Japan und die Vereinigten Staaten nicht zu halten vermochte, schien grundsätzlich gestört in Europa. Frankreich und Deutschland, wenn verbündet, konnten eine Flotte aufbieten, die den englischen Anspruch auf überlegene Seeherrschaft empfindlich abzuschwächen vermochte. Noch schlimmer wurde es für England, wenn Italien und Österreich im Mittelmeer, die Verbündeten Deutschlands, mitgerechnet wurden. Die Vernichtung der russischen Flotte löste die Flottenpanik aus, die 1905 schon das britische Kabinett bestimmte, unter allen Umständen am lockeren Bündnis mit Frankreich festzuhalten, damit das von Deutschland bedrängte Frankreich in der Marokkokrise nicht noch weiter nachgebe und in die Abhängigkeit vom Reich gerate.

England fürchtete nur noch eines, was übrigens damals gar nicht zu befürchten stand: einen Kontinentalblock, ein vereinigtes Europa von Paris über Berlin und Wien nach Petersburg. Solche Ideen gab es immer wieder, gerade um das deutsch-russische Verhältnis zum Nutzen Europas fruchtbar zu machen. Denn mit keinem Staat hat das Deutsche Reich eine insgesamt so vernünftige und berechenbare Politik betrieben wie mit Rußland, seinem klassischen Verbündeten, der keine Lust zeigte, sich mit den Deutschen zu entzweien, obschon längst mit den Franzosen in Übereinstimmung, was alles das Foreign Office in London sehr irritierte. Dessen leitende Angestellte peinigte der Napoleon-Komplex, wie Ferguson das nennt, die Zwangsvorstellung, Deutschland könne sich den gesamten Kontinent unterordnen, um Europa gegen England in Stellung zu bringen. Insofern wollten sie derartigen Anschlägen auf die allgemeine, sprich britische Sicherheit zuvorkommen.

Die Absprachen mit Frankreich 1904 und Rußland 1907 waren keine Bündnisse im strengen Sinne. Sie sollten keineswegs Deutschland "einkreisen", sie sollten es nur daran hindern, sich seinerseits mit seinen Nachbarn zu verständigen. Das bedeutete allerdings, den Handlungsspielraum Deutschlands erheblich einzugrenzen. Der britische Außenminister Sir Edward Grey glaubte, daß ein Nebeneinander des Dreibundes und der Ententemächte Europa die wünschenswerte Ruhe erhalten werde. Er fürchtete nichts so sehr wie eine Entspannung zwischen den beiden Blöcken. Das zwang ihn dazu, am Parlament und teilweise am Kabinett vorbei die Verbindung zunehmend zu verdichten, sie einer Allianz anzunähern, die im Kriegsfall keine Neutralität mehr erlaubte, obschon er öffentlich stets versicherte, daß England sich seine volle Unabhängigkeit bewahrt habe. Denn Deutschland versuchte, um Bewegungsfreiheit zu finden, je nach den Umständen den gegnerischen Block aufzuweichen, den "trockenen Krieg" zwischen den Bündnissystemen zu überwinden.

Es strebte nicht konsequent nach einer napoleonischen Vormachtstellung in Europa, es trieb nicht einmal planvolle Weltpolitik, weil es keine klaren Ziele für ein zu schaffendes Kolonialreich besaß. Deutschland wollte, im Grunde ganz altmodisch, die erstarrende Materie politischer Beziehungen wieder verflüssigen. Es gab genug Anknüpfungspunkte für Zusammenarbeit mit Franzosen oder Russen. Nicht immer sehr elegant, bemühte es sich darum, die Entente zu durchdringen oder zu sprengen. England blieb immer mißtrauisch, weil es sich seiner Freunde nicht ganz sicher war, die als einzelne zu schwach waren, deutschen Werbungen oder deutschem Druck zu widerstehen. Russen und Franzosen fühlten sich tatsächlich Deutschland gegenüber zu schwach, worauf Lieven und Keiger immer wieder hinweisen. Zusammen mit England glaubten sie, Deutschland so weit zu beeindrucken, daß es sich auf keinen Krieg einließ. Offiziell mochten sich die Engländer auf keine festen Bündnisse einlassen, für die die Regierung der Zustimmung des Parlamentes bedurfte, deren sie nicht sicher war. Sämtliche Bemühungen der Russen und Franzosen, freundliche Beziehungen zu Deutschland herzustellen oder zu vertiefen, erfüllten die Briten mit Mißtrauen. Denn es entging ihnen nicht, worauf Keiger, Lieven oder Steiner hinweisen, daß deren Gegensätze nicht fundamental waren und sich durchaus im wechselseitigen Einvernehmen lösen ließen. Aus Furcht, isoliert zu werden gegenüber einem unter sich einigen Kontinent, unterbanden sie jeden Versuch einer allgemeinen Entspannung, zu der die Deutschen geneigt waren, ihrerseits ihre Schwäche fürchtend, einer großen Koalition allmählich nicht mehr gewachsen zu sein. Insofern verleitete das Gefühl, schwach zu sein und nur schwache, unsichere Freunde zu besitzen, britische Politiker dazu, wie Steiner, Keiger und Lieven verdeutlichen, auf alle deutschen Pläne nervös zu reagieren. Angst ist ein schlechter Ratgeber.

Außerdem empfanden sie ihrerseits das Verharren in dem festen Block zuweilen als unbequem, da daran gehindert, Interessen zusammen mit Deutschland zu verfolgen. Jede Entspannungsbemühung Deutschland gegenüber faßte England als Zeichen der Schwäche auf, als Hinweis, daß es Deutschland gelinge, Europa unter seiner Führung zusammenzufassen.

So wurde England zum Gefangenen seiner eignen Zwangsvorstellung und büßte seine Manövrierfähigkeit ein. Deutschland wiederum nutzte seinen Bewegungsspielraum nicht, weil es sich wegen der öffentlichen Erklärungen Sir Edwards der Illusion hingab, sich vielleicht mit England verständigen zu können und darüber Koalitionsfreiheit zu gewinnen. Dem Foreign Office schien es zu genügen, Deutschland im Schach zu halten. Franzosen rieten gelegentlich, mit ihm so umzugehen, wie es Bismarck mit Frankreich getan hatte: es in Europa zu isolieren, auf den Dreibund zu beschränken, ihm aber zu gestatten, seinen kolonialen Ehrgeiz zu befriedigen. Freilich war es bei der Unbestimmtheit deutscher kolonialer Begehrlichkeiten nicht eben leicht, es von Europa abzulenken, in dem es gleichsam eingesperrt war.

Die Julikrise 1914 war der verzweifelte Versuch Deutschlands, den gegnerischen Block zu sprengen, wobei man durchaus das Risiko einkalkulierte, darüber einen allgemeinen Krieg auszulösen. Es war ein Versuch aus Schwäche, gerade noch stark genug zu sein, sich behaupten zu können, wozu in absehbarer Zeit die Kräfte nicht mehr ausreichen würden. Daß es zum großen Krieg kam, lag nicht so sehr an dem Wagnis, auf das sich Deutschland einließ, als an methodischen Fehlern bei der Absicht, den serbischen Krieg zu lokalisieren. Der entscheidende Irrtum war die falsche Einschätzung Englands. Die deutsche Regierung wußte, wie deutlich sich die Engländer verpflichtet hatten. Sie vermutete aber, daß die gelegentlichen Beteuerungen Greys vor dem Parlament, nicht gebunden zu sein, doch eine gewisse Aussicht böten, daß sich England die Hände freihalten und Russen wie Franzosen von allzu energischen Schritten zurückhalten könne.

England gab im Juli 1914 nicht zu erkennen, wie es sich verhalten werde. Das verwirrte nicht nur die Deutschen, auch die Russen und Franzosen. Diese waren überzeugt, daß die Deutschen einlenken würden, sobald die Engländer erklärten, auf jeden Fall die Ententemächte militärisch zu unterstützen. Die russische wie die französische Regierung drängten die Briten, ihre Position öffentlich klarzumachen. England verfügte über vollständige Handlungsfreiheit, die Russen und Franzosen als offizielle Alliierte nicht besaßen. Doch war diese Einschätzung, die Keiger oder Lieven teilen, wohl übertrieben. Denn inoffiziell hatte sich England so weit verpflichtet, daß es nicht mehr in voller Unabhängigkeit zu entscheiden vermochte, selbst wenn das Parlament nur unzulänglich unterrichtet war. An der Treue zum Block der Entente hatte Grey nie einen Zweifel gelassen, kostete es auch manches Opfer. Es ging nur darum, sollte es zum Krieg kommen, das Parlament dafür zu gewinnen, nicht abseits zu stehen. Mit halben Mitteln und auf halben Wegen manövrierte sich England durch die Julikrise in den Krieg.

Keine der Großmächte wollte einen allgemeinen Krieg, keine mochte das Risiko scheuen. England riet seinen künftigen Alliierten nicht zum Wagnis, fürchtete aber auch deren Nachgiebigkeit. Alle fanden sich als Gefangene ihres jeweiligen Blockes mit seinen Mechanismen. Es gab keinen unparteiischen Schiedsrichter. Niall Ferguson vermutet, daß England diese Rolle hätte übernehmen können und müssen, unvorbereitet auf einen Krieg, wie es war, auf den es sich dann doch einließ. Aber hatte es eine Wahl? Ein Erfolg der Deutschen und Österreicher gegenüber Serbien bedeutete bei dem napoleonischen Trauma, daß die Entente zu schwach sei, eine deutsche Hegemonie aufzuhalten, daß Franzosen und Russen sich einem "deutschen" Europa einordnen würden, weil von England nur ungenügend unterstützt.

Es ist müßig zu fragen, ob England eine deutsche Hegemonie nicht hätte hinnehmen können. Es fürchtete sie. Deutschland betrachtete es nie als Gefahr. Aber ein Deutschland, das den Kontinent hinter sich wußte und sämtliche Flotten Europas vereinte, bildete eine Gefahr. Für sich alleine war Deutschland schwach. Gemeinsam mit den anderen Europäern stark. Diese drängten gewiß nicht unter deutschen Schutz und Schirm. Sie dachten nicht daran, sich einer deutschen Hegemonie einzufügen, über die Deutschland ohnehin keine deutlichen Vorstellungen besaß. Was vor dem Ersten Weltkrieg verlorenging, war die Idee von "kollektiver Sicherheit", wie man heute sagt, die Übung, sich gemeinsam zum Nutzen Europas über den Ausgleich der je eigenen Interessen zu einigen. Insofern war der große Krieg unvermeidlich und unaufhaltsam, wie später fast alle Politiker befanden, die in der Julikrise gehandelt hatten.

EBERHARD STRAUB

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"Feinste analytische Geschichtsschreibung von beißender Schärfe." The Economist

"Dieses Buch wird in zweifacher Hinsicht Epoche machen: in methodischer wie in interpretativer Hinsicht ...Was Fergusons Buch zu einer wichtigen Lektüre macht, ist der Einblick, den es in die komplexen Prozesse politischer Entscheidungsfindung in Krisenzeiten verschafft: Manches, was sich daran als kühl kalkuliert und rational gesichert gibt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als nur vorurteilsgesteuert oder irrational." Johannes Willms in der 'Süddeutschen Zeitung'

"Fergusons Methode ist einfach: Er rennt imaginäre Türen ein und muß notwendigerweise aus jeder Argumentation als Sieger hervorgehen. Das ist nicht gerade historisch, erregt aber wie Daniel Goldhagens Buch über 'Hitlers willige Vollstrecker' Aufsehen." Rudolf Augstein im 'Spiegel'