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Das häufig verwendete Argument der 'Unvermeidbarkeit' des Ersten Weltkrieges, der prägenden Urkatastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts, ist im Licht der hier vorliegenden Neuinterpretation und der Auswertung bislang unter Verschluß gehaltener Quellen nicht länger haltbar.

Produktbeschreibung
Das häufig verwendete Argument der 'Unvermeidbarkeit' des Ersten Weltkrieges, der prägenden Urkatastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts, ist im Licht der hier vorliegenden Neuinterpretation und der Auswertung bislang unter Verschluß gehaltener Quellen nicht länger haltbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.1999

Wie entstand der Erste Weltkrieg?
Niall Ferguson auf der bemühten Suche nach einem Strom, um dagegenzuschwimmen

Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das zwanzigste Jahrhundert. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 509 Seiten, 49,80 Mark.

Nach einem oft zitierten Wort des amerikanischen Historikers und Diplomaten George F. Kennan stellt der Erste Weltkrieg die "Ur-Katastrophe" unseres Jahrhunderts dar. Seine Bedeutung für die "Weltgeschichte Europas" (Hans Freyer) ist nicht hoch genug einzuschätzen, seine Nachwirkungen dauern bis in die Gegenwart. Daher ist es kein Wunder, daß immer wieder danach gefragt wird, wie es zu diesem "Großen Krieg" der Jahre zwischen 1914 und 1918 gekommen ist, wie er sich entwickelt hat und wie er beendet wurde.

Die neueste Monographie dazu hat der britische Historiker Niall Ferguson vorgelegt. Unter dem englischen Originaltitel "The Pity of War" wird der "schädliche, bedauerliche Krieg" anhand einer Reihe zentraler Fragen untersucht, die eher in Form von aneinandergereihten Essays als im Zusammenhang einer in sich geschlossenen Darstellung beantwortet werden. Ziel des Autors ist es, die überlieferten Deutungen der Geschichtsschreibung grundlegend zu revidieren. Dazu bedient er sich des methodischen Instruments der kontrafaktischen Betrachtung: Was wäre gewesen, wenn, fragt der Verfasser ein um das andere Mal. So zu verfahren ist legitim, wenn die zutage geförderten Alternativen ein historisches Fundament in den zeitgenössischen Zeugnissen finden, aber es wird problematisch, wenn sich diese Vorgehensweise in gegenwartsbestimmten Wunschvorstellungen auflöst. Daß ein Fernbleiben Großbritanniens vom Ersten Weltkrieg England und dem Empire viel von seiner 1914 angestammten Position belassen hätte, ist anzunehmen; die Überlegung ist ebenso interessant wie spekulativ. Aber daß eine deutsche Hegemonie über den europäischen Kontinent, die Großbritannien vor dem Hintergrund einer seit Jahrhunderten verbindlichen Tradition auch 1914 zu verhindern bestrebt war, einer "Europäischen Union, wie wir sie heute kennen" gar nicht "unähnlich" gewesen wäre, erscheint doch mehr als zweifelhaft.

In dieser Perspektive kritisch zu bewerten sind nicht wenige der entschieden vorgetragenen Thesen des Autors, der dadurch Beachtung zu finden versucht, daß er gegen den Strom schwimmen will. Oftmals freilich bleibt von einer angeblichen Revision gar nicht viel übrig, wenn man das, was behauptet wird, mit dem Stand der Forschung vergleicht. Mit nicht geringem Aufwand weist der Verfasser beispielsweise die Erklärung zurück, wonach der Erste Weltkrieg durch Militarismus, Imperialismus und Geheimdiplomatie "unvermeidlich" geworden sei. Allein, der attackierte Befund repräsentiert schon lange nicht mehr die vorwaltende Meinung der Historiographie, die das verursachende und veranlassende Motivbündel für den Kriegsbeginn weit differenzierter entflochten hat. Daß die führenden deutschen Politiker und Militärs im Juli 1914 "aus einem Schwächegefühl heraus handelten", betont der Autor zu Recht. Doch diese Tatsache ist beileibe nicht neu, sondern gilt seit der Erklärung des Thukydides für den Beginn des Peloponnesischen Krieges als ein geläufigtes Interpretationsmuster, wonach der vermeintlich Schwächere den als Feind angesehenen Stärkeren zu attackieren geneigt ist.

Über das Deutsche Reich hinaus handelten auch die anderen Protagonisten der europäischen Pentarchie mit vergleichbaren Motiven. Daher erscheint Fergusons Urteil, wonach die "Entscheidung Großbritanniens zur Intervention . . . das Ergebnis von geheimen Planungen seiner Generäle und Diplomaten (gewesen sei), die bis Ende 1905 zurückreichten", bis zum Bestreitbaren einseitig: Großbritannien glaubte sich auf seine Ententepartner Frankreich und Rußland angewiesen, um im Fall des Falles nicht isoliert dazustehen. Es wollte nicht ohne Alliierte mit einem Deutschland konfrontiert werden, das zum Herrn des Kontinents aufzusteigen drohte. Der Autor bestreitet diese "napoleonische" Gefahr, die für Englands Staatsmänner relevant war, ja, er behauptet, daß "die deutschen Kriegsziele, wäre Großbritannien draußen geblieben, keine direkte Bedrohung des Empire bedeutet" hätten. Doch die entscheidenden Repräsentanten an der Spitze des englischen Weltreiches dachten anders: Ihre zeitgenössische Gedankenbildung repräsentiert aber eine historische Tatsache und war im übrigen keineswegs pure Einbildung.

Daß der Autor im Zuge seiner revisionistischen Bemühungen die weithin akzeptierte These bezweifelt, wonach die überlegene Wirtschaftskraft der Briten, Franzosen und Amerikaner kriegsentscheidend gewesen sei, läßt ihn nach anderen Gründen suchen, um plausibel zu machen, warum alles so gekommen ist, wie es sich zugetragen hat. Der Erklärungsbedarf wirkt um so dringender, als der Autor anhand einer makaber wirkenden Berechnung feststellt, daß die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn "im Töten des Feindes (erfolgreicher waren) als die Heere der Entente und ihre Verbündeten". Bleibt die Frage zu beantworten: Warum haben die Alliierten dennoch gesiegt, und welche Deutung liefert Niall Ferguson dafür? Vom Sommer 1918 an gerieten mehr Soldaten der Mittelmächte als der Entente in Gefangenschaft: "Es war die Massenkapitulation des Feindes, nicht die Massentötung, die an allen Fronten den Sieg ankündigte." In beträchtlicher Zahl, so argumentiert der Verfasser, hörten die Deutschen vom August des letzten Kriegsjahres an auf zu kämpfen, weil ihre Moral erlahmte: Es "ist anzunehmen, daß ein allgemeines Sinken der Kampfmoral aufgrund des offensichtlichen Fehlschlags der Frühjahrsoffensive, Ludendorffs Bitte um Waffenstillstand und das wachsende Problem von Krankheiten, deutsche Soldaten veranlaßten, das Kämpfen als kostspieliger anzusehen, als sie es 1917 getan hatten". Die Feststellung ist, bis zu einem gewissen Grade jedenfalls, überzeugend, aber beileibe nicht so neu, wie der Autor annimmt: Moderne Kriege, die nicht mehr länger zwischen Kabinetten, sondern zwischen Gesellschaften geführt werden und in denen über die Körper der Menschen hinaus auch um deren Seelen gekämpft wird, nehmen absolute Gestalt an. Sie hören erst auf, wenn die Kombattanten an der Front und in der Heimat einfach nicht mehr können und wollen, wenn sie also aufgeben. Die Ursachen dafür sind vielfältig, sie speisen sich aus internationalen und gesellschaftlichen, aus nationalpolitischen und nationalökonomischen, aus materiellen und seelischen Gründen.

Alles in allem: Fergusons Buch bietet manche verblüffenden Erkenntnisse, die den Leser ins Nachdenken versetzen, präsentiert aber kaum Einsichten, die zu überzeugen vermögen. So manches, was als neu ausgegeben wird, ist bekannt, und so manches, was prima vista erstaunt, hält der Überprüfung nicht stand.

KLAUS HILDEBRAND

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