Goethes Leben ist so reich dokumentiert, sein Leben so vielschichtig, dass er leicht von allen möglichen Meinungsmachern vereinnahmt werden konnte. Für die Goethe-Gesellschaft etwa, 1885 in Weimar gegründet, war er schon vor der »Machtergreifung« 1933 weniger der aufgeklärte Humanist als vielmehr der konservative Nationalist, danach transportierte sie das Bild eines betont »braunen« Goethe noch vehementer. Schließlich wurde der Olympier breitspurig für Regimezwecke eingespannt. Die Privilegien einer vorgesehenen »Weltmission«, gepaart mit zunehmenden Verstrickungen, ergeben eine spannende dramatische Kurve.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2018Schamlos, schmachvoll, gierig
Erschütternde Zeugnisse: Daniel Wilson untersucht die Goethe-Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus
Als die Goethe-Gesellschaft 1985 einhundert Jahre alt wurde, gratulierten ihr Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der Staatsratsvorsitzende der DDR Erich Honecker, und beide hoben hervor, dass sie "ein tieferes Verständnis für die Probleme unserer Zeit" befördere. Zum 133. Geburtstag zwingt sie der Londoner Literaturwissenschaftler Daniel Wilson, ihre Geschichte neu zu schreiben und sich dem Verhalten ihrer Leitung zwischen 1933 und 1945 zu stellen. Wilsons Quellenbasis ist dabei von beeindruckender Breite, er hatte Zugang zu sämtlichen einschlägigen Archiven und Nachlässen und fand die bereitwillige Unterstützung der heutigen Verantwortlichen.
Die Goethe-Gesellschaft unterschied sich in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens von anderen literarischen Vereinigungen darin, dass ihre Mitgliedschaft außer dem Bildungsbürgertum auch bedeutende Teile der herrschenden Aristokratie umfasste, auf deren Spendenbereitschaft sie angewiesen war, da sie keine staatlichen Subventionen erhielt. Der Rückgang der Mitgliederzahl in den späten Krisenjahren der Weimarer Republik nahm für die Gesellschaft bedrohliche Züge an. Das änderte sich auch nicht in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, und es bestimmte in hohem Maße die Handlungsweisen der Leiter der Gesellschaft.
Wilson arbeitet überzeugend den antirepublikanischen, monarchistischen und reaktionären, zum Teil auch antisemitischen Geist in der Mitgliedschaft heraus. Eines der Hauptziele seines Buches ist es, den erst an den Rand gedrängten, dann verfemten und schließlich ausgeschlossenen jüdischen Mitgliedern eine Stimme zu geben. Die Auswirkungen des Antisemitismus seit der Zeit des Präsidenten Gustav Roethe, Präsident von 1922 bis 1926, und dann von 1933 an werden bei Wilson deutlich: Zwischen 1933 und 1935 verliert die Gesellschaft mehr als 20 Prozent ihrer Mitglieder; ein Teil wendet sich den Nationalsozialisten zu, ein anderer Teil, die jüdischen Mitglieder, verliert durch die diskriminierenden Gesetze und Maßnahmen der Regierung die wirtschaftliche Existenz oder geht ins Exil.
Wilson bringt dafür erschütternde briefliche Zeugnisse bei. Er sei, schrieb etwa der entlassene und in die Vereinigten Staaten emigrierte Frankfurter Literaturwissenschaftler Martin Sommerfeld an den Vorstand, aus der Goethe-Gesellschaft ausgetreten "im Zusammenhang mit der schamlosen und schmachvollen antijüdischen Hetze und der Ausnahmegesetzgebung".
Nachdem die Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft in Berlin vorangegangen war, wächst auch in Weimar der Druck auf die Muttergesellschaft, Antisemiten wie Adolf Bartels, Max Wundt und den prominenten nationalsozialistischen Funktionär Hans Severus Ziegler in den Vorstand aufzunehmen. Auch von Alfred Rosenbergs Kampfbund für die deutsche Kultur kommen ständig Ansinnen in dieselbe Richtung, die aber vom Vorstand durch geschickte Hinhaltetaktik wirkungslos gemacht werden.
Nachdem das Jahr 1935 mit der Feier zum fünfzigjährigen Bestehen der Gesellschaft und einer schier unglaublichen Festansprache des Präsidenten Julius Petersen vorübergegangen war, trat 1936 bis 1938 eine Phase ein, die Wilson treffend unter die Begriffe "Anpassung" und "Stabilisierung" stellt. Die handelnden Personen erhalten von ihm mit der einzigen Ausnahme des ehemaligen Oberbürgermeisters von Weimar und Vorstandsmitglieds Martin Donndorf, der schon am 28. Oktober 1937 verstarb, sämtlich schlechte Zeugnisse. Petersen, Präsident bis 1938, attestiert Wilson "eine regelrechte Gier, sich dem Regime anzupassen" - was im Widerspruch zu dem steht, was man von Petersens Verhalten in den wissenschaftlichen Gremien in Berlin, seinem Universitätsinstitut und der Akademie der Wissenschaften, weiß.
Anton Kippenberg, Präsident von 1938 bis 1950, bekannte sich schon Mitte der zwanziger Jahre als Antisemit, freilich da noch nicht öffentlich, zumal sein Erfolgsautor Stefan Zweig jüdischer Herkunft war. In die Zeit seiner Präsidentschaft fällt der Anschluss Österreichs und das vergebliche Bemühen der Goethe-Gesellschaft, sich den Wiener Goethe-Verein einzuverleiben. An dessen leitendem Mitglied Eduard Castle biss man sich die Zähne aus. Der dunkelste Schatten aber fällt auf Hans Wahl, den in Weimar ansässigen Vizepräsidenten, Direktor des Hauses am Frauenplan, des Goethe-Nationalmuseums und zuletzt auch noch des Goethe-Schiller-Archivs, der von Weimar aus die Fäden zog und mit dem Gauleiter Fritz Sauckel umzugehen wusste.
Er sorgte dafür, dass mit Rudolf Buttmann und Ernst Schulte Strathaus zwei prominente Nationalsozialisten in den Vorstand Einzug hielten. Wahl spielte geschickt die Internationalität der Goethe-Gesellschaft aus, was der Kulturpropaganda von Goebbels entgegenkam. Buttmann behauptete nach dem Krieg sogar, Kippenberg habe ihn 1938 bewegen wollen, die Präsidentschaft zu übernehmen.
Wahl bekam 1936 auch die Zeitschrift "Goethe" in die Hand, bis 1945 das offizielle Organ der Gesellschaft. Das Regime privilegierte sie bis zum Kriegsende, bewilligte die beantragten Papiermengen und sicherte sich als Gegenleistung, dass das Blatt durch die Auswahl der Beiträger einen systemkonformen, antisemitischen, "deutschen" Goethe zurechtschliff. Es dauerte bis 2016, bis man in Weimar die Hans-Wahl-Straße umbenannte.
Während die Muttergesellschaft sich selbst gleichschaltete und 1938 die letzten verbliebenen jüdischen Mitglieder ausschloss, wussten einige der Ortsvereinigungen, die in relativer Unabhängigkeit von Weimar agierten, die verbliebenen Handlungsoptionen besser, und das heißt in einem humaneren Sinn, zu nutzen. Abgesehen von der Ortsvereinigung Dessau, die sich 1933 selbst auflöste, gilt das beispielsweise für die in Hamburg und in Dresden. Neben Martin Donndorf stehen die Hamburger Erich Grisebach und Wilhelm Flitner sowie der Dresdener Emil Menke Glückert auf Wilsons Ehrentafel. Über Wahl und Kippenberg aber heißt es eindeutig und scharf, sie räumten dem Weiterbestehen der Goethe-Gesellschaft "absoluten Vorrang vor der Menschenwürde und den Menschenrechten bedrängter Einzelner ein". Für dieses Ziel schlossen sie den "faustischen Pakt" mit dem nationalsozialistischen Regime.
CHRISTOPH PERELS.
W. Daniel Wilson: "Der Faustische Pakt". Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich.
Deutscher Taschenbuchverlag, München 2018.
368 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erschütternde Zeugnisse: Daniel Wilson untersucht die Goethe-Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus
Als die Goethe-Gesellschaft 1985 einhundert Jahre alt wurde, gratulierten ihr Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der Staatsratsvorsitzende der DDR Erich Honecker, und beide hoben hervor, dass sie "ein tieferes Verständnis für die Probleme unserer Zeit" befördere. Zum 133. Geburtstag zwingt sie der Londoner Literaturwissenschaftler Daniel Wilson, ihre Geschichte neu zu schreiben und sich dem Verhalten ihrer Leitung zwischen 1933 und 1945 zu stellen. Wilsons Quellenbasis ist dabei von beeindruckender Breite, er hatte Zugang zu sämtlichen einschlägigen Archiven und Nachlässen und fand die bereitwillige Unterstützung der heutigen Verantwortlichen.
Die Goethe-Gesellschaft unterschied sich in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens von anderen literarischen Vereinigungen darin, dass ihre Mitgliedschaft außer dem Bildungsbürgertum auch bedeutende Teile der herrschenden Aristokratie umfasste, auf deren Spendenbereitschaft sie angewiesen war, da sie keine staatlichen Subventionen erhielt. Der Rückgang der Mitgliederzahl in den späten Krisenjahren der Weimarer Republik nahm für die Gesellschaft bedrohliche Züge an. Das änderte sich auch nicht in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, und es bestimmte in hohem Maße die Handlungsweisen der Leiter der Gesellschaft.
Wilson arbeitet überzeugend den antirepublikanischen, monarchistischen und reaktionären, zum Teil auch antisemitischen Geist in der Mitgliedschaft heraus. Eines der Hauptziele seines Buches ist es, den erst an den Rand gedrängten, dann verfemten und schließlich ausgeschlossenen jüdischen Mitgliedern eine Stimme zu geben. Die Auswirkungen des Antisemitismus seit der Zeit des Präsidenten Gustav Roethe, Präsident von 1922 bis 1926, und dann von 1933 an werden bei Wilson deutlich: Zwischen 1933 und 1935 verliert die Gesellschaft mehr als 20 Prozent ihrer Mitglieder; ein Teil wendet sich den Nationalsozialisten zu, ein anderer Teil, die jüdischen Mitglieder, verliert durch die diskriminierenden Gesetze und Maßnahmen der Regierung die wirtschaftliche Existenz oder geht ins Exil.
Wilson bringt dafür erschütternde briefliche Zeugnisse bei. Er sei, schrieb etwa der entlassene und in die Vereinigten Staaten emigrierte Frankfurter Literaturwissenschaftler Martin Sommerfeld an den Vorstand, aus der Goethe-Gesellschaft ausgetreten "im Zusammenhang mit der schamlosen und schmachvollen antijüdischen Hetze und der Ausnahmegesetzgebung".
Nachdem die Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft in Berlin vorangegangen war, wächst auch in Weimar der Druck auf die Muttergesellschaft, Antisemiten wie Adolf Bartels, Max Wundt und den prominenten nationalsozialistischen Funktionär Hans Severus Ziegler in den Vorstand aufzunehmen. Auch von Alfred Rosenbergs Kampfbund für die deutsche Kultur kommen ständig Ansinnen in dieselbe Richtung, die aber vom Vorstand durch geschickte Hinhaltetaktik wirkungslos gemacht werden.
Nachdem das Jahr 1935 mit der Feier zum fünfzigjährigen Bestehen der Gesellschaft und einer schier unglaublichen Festansprache des Präsidenten Julius Petersen vorübergegangen war, trat 1936 bis 1938 eine Phase ein, die Wilson treffend unter die Begriffe "Anpassung" und "Stabilisierung" stellt. Die handelnden Personen erhalten von ihm mit der einzigen Ausnahme des ehemaligen Oberbürgermeisters von Weimar und Vorstandsmitglieds Martin Donndorf, der schon am 28. Oktober 1937 verstarb, sämtlich schlechte Zeugnisse. Petersen, Präsident bis 1938, attestiert Wilson "eine regelrechte Gier, sich dem Regime anzupassen" - was im Widerspruch zu dem steht, was man von Petersens Verhalten in den wissenschaftlichen Gremien in Berlin, seinem Universitätsinstitut und der Akademie der Wissenschaften, weiß.
Anton Kippenberg, Präsident von 1938 bis 1950, bekannte sich schon Mitte der zwanziger Jahre als Antisemit, freilich da noch nicht öffentlich, zumal sein Erfolgsautor Stefan Zweig jüdischer Herkunft war. In die Zeit seiner Präsidentschaft fällt der Anschluss Österreichs und das vergebliche Bemühen der Goethe-Gesellschaft, sich den Wiener Goethe-Verein einzuverleiben. An dessen leitendem Mitglied Eduard Castle biss man sich die Zähne aus. Der dunkelste Schatten aber fällt auf Hans Wahl, den in Weimar ansässigen Vizepräsidenten, Direktor des Hauses am Frauenplan, des Goethe-Nationalmuseums und zuletzt auch noch des Goethe-Schiller-Archivs, der von Weimar aus die Fäden zog und mit dem Gauleiter Fritz Sauckel umzugehen wusste.
Er sorgte dafür, dass mit Rudolf Buttmann und Ernst Schulte Strathaus zwei prominente Nationalsozialisten in den Vorstand Einzug hielten. Wahl spielte geschickt die Internationalität der Goethe-Gesellschaft aus, was der Kulturpropaganda von Goebbels entgegenkam. Buttmann behauptete nach dem Krieg sogar, Kippenberg habe ihn 1938 bewegen wollen, die Präsidentschaft zu übernehmen.
Wahl bekam 1936 auch die Zeitschrift "Goethe" in die Hand, bis 1945 das offizielle Organ der Gesellschaft. Das Regime privilegierte sie bis zum Kriegsende, bewilligte die beantragten Papiermengen und sicherte sich als Gegenleistung, dass das Blatt durch die Auswahl der Beiträger einen systemkonformen, antisemitischen, "deutschen" Goethe zurechtschliff. Es dauerte bis 2016, bis man in Weimar die Hans-Wahl-Straße umbenannte.
Während die Muttergesellschaft sich selbst gleichschaltete und 1938 die letzten verbliebenen jüdischen Mitglieder ausschloss, wussten einige der Ortsvereinigungen, die in relativer Unabhängigkeit von Weimar agierten, die verbliebenen Handlungsoptionen besser, und das heißt in einem humaneren Sinn, zu nutzen. Abgesehen von der Ortsvereinigung Dessau, die sich 1933 selbst auflöste, gilt das beispielsweise für die in Hamburg und in Dresden. Neben Martin Donndorf stehen die Hamburger Erich Grisebach und Wilhelm Flitner sowie der Dresdener Emil Menke Glückert auf Wilsons Ehrentafel. Über Wahl und Kippenberg aber heißt es eindeutig und scharf, sie räumten dem Weiterbestehen der Goethe-Gesellschaft "absoluten Vorrang vor der Menschenwürde und den Menschenrechten bedrängter Einzelner ein". Für dieses Ziel schlossen sie den "faustischen Pakt" mit dem nationalsozialistischen Regime.
CHRISTOPH PERELS.
W. Daniel Wilson: "Der Faustische Pakt". Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich.
Deutscher Taschenbuchverlag, München 2018.
368 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christoph Perels lernt bei W. Daniel Wilson, den reaktionären, antisemitischen Geist der Goethe-Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 kennen. Die Quellenbasis, auf die sich Wilson stützt, wenn er einerseits nationalsozialistische Mitglieder mittels brieflicher Zeugnisse kaltstellt, andererseits bedrängten jüdischen Mitgliedern eine Stimme verleiht, findet Perels beeindruckend. Erschütternd erscheint ihm das Verhalten der Verantwortlichen von Adolf Bartels bis Hans Wahl und aufschlussreich die von Wilson herausgearbeitete Tatsache, dass es auch anders ging, in den von Weimar unabhängigen Ortsvereinigungen nämlich, wie der Rezensent erläutert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wilsons Monographie leistet einen bedeutsamen und nachhaltig bedenkenswerten Beitrag zur Erkenntnis literatur- und verbandspolitischer wie auch kultur- und wissenschaftsgeschichtlicher Zusammenhänge. [...] Auf umfassender Materialbasis und mit detaillierten Kenntnissen der deutschen Gesellschafts- und Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert zeichnet er die Geschicke der namhaften Literaturgesellschaft im Spannungsfeld von organisatorischem Eigensinn und politischen Lenkungsansprüchen nach. [...] Wilson zeigt eindrucksvoll, wie wichtig der Gang in die Archive und die Erschließung bislang unveröffentlichter Materialien ist. Ralf Klausnitzer Zeitschrift für Germanistik 20190410