Von einer Reise nach Berlin zurückgekehrt, erzählt Jörn von den Schlittschuhläufern auf dem zugefrorenen Wannsee, und schon bewegen sich seine Erinnerungen durch die Kriegswinter seiner Kindheit.
Jörn geht es um die Erinnerungsmomente, die wie kleine Inseln im Meer der Vergangenheit sind. Sie miteinander zu verknüpfen und auszudehnen ist sein erzählerischer Impuls, wobei, nach anfangs ungewissen Tastvorgängen, sein Erzählen zunehmend von konkreten Motiven ausgeht, die er in seiner nächsten Nähe findet. Holzscheite, ein alter Kanonenofen, die Möbel in der Küche, ein paar Bilder an der Wand, Geräusche im Haus, die Katze, das Beil im Winkel, ein altes Radio - all das enthält Geschichte und Geschichten, die im Gedächtnis versunken scheinen und die zu vergegenwärtigen eine Schneenacht zu kurz ist.
Jörn geht es um die Erinnerungsmomente, die wie kleine Inseln im Meer der Vergangenheit sind. Sie miteinander zu verknüpfen und auszudehnen ist sein erzählerischer Impuls, wobei, nach anfangs ungewissen Tastvorgängen, sein Erzählen zunehmend von konkreten Motiven ausgeht, die er in seiner nächsten Nähe findet. Holzscheite, ein alter Kanonenofen, die Möbel in der Küche, ein paar Bilder an der Wand, Geräusche im Haus, die Katze, das Beil im Winkel, ein altes Radio - all das enthält Geschichte und Geschichten, die im Gedächtnis versunken scheinen und die zu vergegenwärtigen eine Schneenacht zu kurz ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.1996Der fehlende Rest
Jürgen Beckers Erzählung als Vorabdruck in der F.A.Z.
Der Held heißt Jörn. Der Dichter Jürgen Becker hat ihn zu seinem Alter ego gemacht und erzählt seine Lebensgeschichte in Fragmenten. "Ich mache kein Porträt von dir", verspricht er seinem Protagonisten, und er hält sich daran: Er verfaßt seine Geschichte ohne eigentlichen Anfang und ohne eigentliches Ende - so wie man eben von seinem eigenen Leben berichtet, wenn man ehrlich ist und ihm nicht die scheinbare Geradlinigkeit einer Autobiographie geben will.
Die Kunst des Erzählers Jürgen Becker besteht darin, aus diesen Erinnerungsbildern eine Geschichte zu machen. Er verleiht ihr eine Dramaturgie, und die Spannung trägt. Man kann darüber staunen. Seit dem 1974 erschienenen Gedichtband "Das Ende der Landschaftsmalerei" hat Jürgen Becker immer wieder mit den Formen zwischen Poesie und Prosa gearbeitet, meist von der Lyrik herkommend. Und immer waren diese Gedichte auch Spiegelungen der eigenen Biographie wie der Zeitgeschichte. Diese Orientierung hat er nicht aufgegeben. Nur verfolgt er sie jetzt als Erzähler. Und wenn seine Lyrik dem Leser nicht immer leicht zugänglich war, eben weil sie dem Malen und Collagieren verpflichtet ist, dann ist es diese Prosa um so mehr. "Der fehlende Rest" erscheint ab morgen als Fortsetzungsroman in dieser Zeitung.
Der Dichter Jürgen Becker, 1932 geboren wie sein Held, wurde schon vor mehr als dreißig Jahren ein "Texteverfasser" genannt. Gewiß spiegelt sich in diesem Wort auch ein Stilideal jener Zeit, in der es emphatisch trocken hergehen sollte. Aber an diesem Wort ist etwas Wahres: Man erkennt es zum Beispiel daran, wie sich der Erzähler immer wieder von Fotografien inspirieren läßt. Das eine Bild zieht dann andere nach sich, und sie alle sind doch nichts als eingefangene und festgehaltene Momente. Sie erheben keinen Anspruch auf einen Sinn. In einer Fotografie liegen alle Dinge auf einer Ebene, und es gibt kein Dahinter. Hier gibt es keinen "fruchtbaren Augenblick", so wie ihn Lessing im "Laokoon" als wichtigste Forderung von der bildenden Kunst verlangte, sondern allenfalls einen prägnanten, von Zufälligem, Beiläufigem und Nebensächlichem bestimmten. Eine ganze Generation von Lesern wird in diesen Augenblicken an das eigene Leben erinnert, den anderen ist es nicht fremd, und der Erzähler benutzt diese Vertrautheit, um die Neugier zu nähren, die das Lesen vorantreibt.
Nachbarschaftlich könnte man das Prinzip dieses Erzählens nennen. Da berichtet einer, wie er sich einmal die Hand verbrannte, im Jungzug. Er erzählt von Thüringen, wo er als Heranwachsender lebte. Oder von der Mühle, an die ihn eine Skizze von John Constable erinnerte, die aber nicht mehr steht. Oder von einer Reise nach Ischia, wo der Maler Werner Heldt begraben ist, und dieser Besuch ist keineswegs zufällig, weil zwischen Werner Heldt und Jürgen Becker der gemeinsame Hang zum modernen Stilleben waltet. Die Idylle ist manchmal nicht fern. Aber sie ist prekär, mühsam erworben und stets gefährdet. Auch diese Spannung gehört zur Dramaturgie dieses scheinbar privaten Erzählens, in dem sich das weit Auseinanderliegende, das Nahe und das Ferne, das Frühere und das Spätere scheinbar mühelos vereint. Jürgen Becker hat daraus eine klare, ruhige, konzentrierte Geschichte gemacht. THOMAS STEINFELD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jürgen Beckers Erzählung als Vorabdruck in der F.A.Z.
Der Held heißt Jörn. Der Dichter Jürgen Becker hat ihn zu seinem Alter ego gemacht und erzählt seine Lebensgeschichte in Fragmenten. "Ich mache kein Porträt von dir", verspricht er seinem Protagonisten, und er hält sich daran: Er verfaßt seine Geschichte ohne eigentlichen Anfang und ohne eigentliches Ende - so wie man eben von seinem eigenen Leben berichtet, wenn man ehrlich ist und ihm nicht die scheinbare Geradlinigkeit einer Autobiographie geben will.
Die Kunst des Erzählers Jürgen Becker besteht darin, aus diesen Erinnerungsbildern eine Geschichte zu machen. Er verleiht ihr eine Dramaturgie, und die Spannung trägt. Man kann darüber staunen. Seit dem 1974 erschienenen Gedichtband "Das Ende der Landschaftsmalerei" hat Jürgen Becker immer wieder mit den Formen zwischen Poesie und Prosa gearbeitet, meist von der Lyrik herkommend. Und immer waren diese Gedichte auch Spiegelungen der eigenen Biographie wie der Zeitgeschichte. Diese Orientierung hat er nicht aufgegeben. Nur verfolgt er sie jetzt als Erzähler. Und wenn seine Lyrik dem Leser nicht immer leicht zugänglich war, eben weil sie dem Malen und Collagieren verpflichtet ist, dann ist es diese Prosa um so mehr. "Der fehlende Rest" erscheint ab morgen als Fortsetzungsroman in dieser Zeitung.
Der Dichter Jürgen Becker, 1932 geboren wie sein Held, wurde schon vor mehr als dreißig Jahren ein "Texteverfasser" genannt. Gewiß spiegelt sich in diesem Wort auch ein Stilideal jener Zeit, in der es emphatisch trocken hergehen sollte. Aber an diesem Wort ist etwas Wahres: Man erkennt es zum Beispiel daran, wie sich der Erzähler immer wieder von Fotografien inspirieren läßt. Das eine Bild zieht dann andere nach sich, und sie alle sind doch nichts als eingefangene und festgehaltene Momente. Sie erheben keinen Anspruch auf einen Sinn. In einer Fotografie liegen alle Dinge auf einer Ebene, und es gibt kein Dahinter. Hier gibt es keinen "fruchtbaren Augenblick", so wie ihn Lessing im "Laokoon" als wichtigste Forderung von der bildenden Kunst verlangte, sondern allenfalls einen prägnanten, von Zufälligem, Beiläufigem und Nebensächlichem bestimmten. Eine ganze Generation von Lesern wird in diesen Augenblicken an das eigene Leben erinnert, den anderen ist es nicht fremd, und der Erzähler benutzt diese Vertrautheit, um die Neugier zu nähren, die das Lesen vorantreibt.
Nachbarschaftlich könnte man das Prinzip dieses Erzählens nennen. Da berichtet einer, wie er sich einmal die Hand verbrannte, im Jungzug. Er erzählt von Thüringen, wo er als Heranwachsender lebte. Oder von der Mühle, an die ihn eine Skizze von John Constable erinnerte, die aber nicht mehr steht. Oder von einer Reise nach Ischia, wo der Maler Werner Heldt begraben ist, und dieser Besuch ist keineswegs zufällig, weil zwischen Werner Heldt und Jürgen Becker der gemeinsame Hang zum modernen Stilleben waltet. Die Idylle ist manchmal nicht fern. Aber sie ist prekär, mühsam erworben und stets gefährdet. Auch diese Spannung gehört zur Dramaturgie dieses scheinbar privaten Erzählens, in dem sich das weit Auseinanderliegende, das Nahe und das Ferne, das Frühere und das Spätere scheinbar mühelos vereint. Jürgen Becker hat daraus eine klare, ruhige, konzentrierte Geschichte gemacht. THOMAS STEINFELD
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