Der Protagonist des Romans, Edgar, wird unweit des Grabes seiner Mutter Zeuge eines Verbrechens. Vier "apokalyptische Reiter" schänden auf einem Friedhof eine junge Frau. Der leidende Mensch, der sich später als ein Mann entpuppt und den Edgar fortan Jean nennt, wird von ihm gesund gepflegt und schließlich in einer beinahe bewusstlosen, orgienhaften Obsession gefüttert, gemästet und in seiner Wohnung festgehalten. In diesem außergewöhnlichen, düsteren Roman erleben wir Leser eine christliche Verehrung der ungewöhnlichsten Art. Der Roman ist auch eine Auseinandersetzung mit der Figur des Erlösers und dem Katholizismus, der Québec lange Zeit stark geprägt hat.Eine in Teilen uns schaudern machende Lektüre, die einige Kritiker an Erzählungen von Edgar Allen Poe oder auch an Franz Kafka erinnern wollte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender fühlt die Klebrigkeit dieser Lektüre noch immer. Larry Tremblays Roman erscheint ihm als unheimlicher Mix aus Horror, Trash, Crime, obwohl alles ganz realistisch und wohlwollend beginnt, wenngleich auf einem Friedhof. Rasch geht es hinein in die Geschichte diverser sadistischer Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Mutter und Sohn, Wohltäter und hilfebedürftiger Kreatur, erläutert Bender mit Gänsehaut. Wie sich das Netz der Verweise im Lauf des Geschehens verdichtet, paranoider wird, religiöse Bezüge aufnimmt und eine Gothic-Band namens "Fatal Foetus" einführt, findet Bender gekonnt gemacht, maßvoll und anregend. Die Übersetzung von Michael von Killisch-Horn trägt laut Bender dazu bei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2020Der Feind in Mamas Bett
Larry Tremblays Roman "Der feiste Christus"
Ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter holt Edgar Trudel die letzte von ihr gebackene Hühnchen-Gemüse-Pastete aus dem Gefrierfach: "Ich hatte das schmerzliche Gefühl, die tiefgefrorenen Reste meiner Mutter in der Hand zu halten, als befände sich etwas von ihrem Fleisch, ihrem Blut, ihrer bösen Güte, ihren großen Augen, ihren dürren und präzisen Händen, ein wenig von dem, was sie gewesen war, in diesem Plastikbehälter." Die Mutter ist begraben - "ein paar Kilometer entfernt unter der kalten Erde" -, aber längst nicht vergessen. Obwohl seit vier Monaten ein anderer Körper ihr Bett füllt: Jean, den Edgar in Frauenkleidern halbtot auf dem Friedhof aufgesammelt hat, nachdem ihn vier "Reiter der Apokalypse" aufgespießt und mit einem tief in den Hals gestopften Kondom halb erstickt hatten. Die Pflege des Bettlägerigen nimmt perverse Züge an, die an das huis clos in Stephen Kings "Misery" erinnern. Abgemagert, angekettet, dankbar Befehlen gehorchend, scheint Jean ganz Edgars Ding zu werden.
Jeans Anwesenheit hilft Edgar, seine Mutterbindung aufzubrechen: Endlich gelingt es ihm, das Haus zu entrümpeln, Müllsäcke mit Nippes und alten Kosmetika zu befüllen und im Keller einzulagern. Die Reinigung ist kathartisch, mit 37 Jahren scheint das Leben eines Mannes zu beginnen, dessen Glatze ihm eher den Niedergang bedeutet. Es ist das Ende einer destruktiven Beziehung: Den Verlust ihres brutalen Ehemanns am Tag von Edgars Geburt - "als hätte es von Anfang an auf Erden nicht genügend Platz für ihn und mich gegeben" - hatte Anne-Marie Trudel in Hass auf ihren Sohn verwandelt. Sie gab ihm einen Namen "hart wie ein Stück Holzkohle", und die "wohlwollende Grausamkeit" der Krankenschwester ging so weit, dass sie den zweijährigen Edgar in der Badewanne ersäufen wollte.
Man sieht: Larry Tremblays kleiner Roman "Der feiste Christus" wimmelt von sadistisch-gutwilligen Abhängigkeitsbeziehungen, von pervertierter Zuneigung. Mit Josiane Gravel etwa, die die todkranke Anne-Marie gepflegt und Edgars Begehren auf sich gezogen hatte, wird eine weitere Krankenschwester unter die Erde gebracht, diesmal vor der Zeit und im heimischen Keller. Fast jede Hinwendung erweist sich als ihr perfides Gegenteil, umgekehrt entsteht aus Schlimmem Gutes, zumindest vorübergehend - der Titel des Romans resümiert dessen grausige Ambivalenz.
Die Ereignisse beschleunigen sich, als sich Jeans wahre Identität herausschält: Eigentlich heißt er Alex Lévis und war als Gefreiter mit Nato-Truppen im Kosovo. Er steht mit dem ungeklärten Tod seiner Verlobten Émilie Langevin in Verbindung, die Sängerin ist einem Sexualmord zum Opfer gefallen. Edgar nimmt an, dass die Mitglieder ihrer Gothic-Metal-Band "Fatal Foetus" Alex zu Unrecht verdächtigt und bestraft hätten. Mit Liebe wendet er sich Alex zu, arbeitet sogar im Hundesalon von dessen ahnungsloser Mutter, obwohl ihm irgendwann schwant, dass sich die Dinge anders zugetragen haben müssen.
Mit den Entdeckungen wird das Netz der Verweise immer dichter, sowohl für Edgar als auch für den Leser. Der Name "Fatal Foetus" etwa erinnert daran, dass Edgar und Alex mörderische Söhne sind, die sich an ihren Eltern oder deren Stellvertretern vergreifen, ob symbolisch oder real. Tremblay legt zahlreiche Fährten, wickelt Edgar und den Leser in den klebrigen Kokon des Verdachts ein, zwingt eine paranoide Perspektive auf; was als leidvolle, aber leidlich realistische Erzählung beginnt, nähert sich später Genreliteratur zwischen Krimi und Horror. Das irrwitzige Sahnehäubchen verleiht der blasphemische Zug, der ausgerechnet aus Alex einen erst mageren, dann zunehmend gewichtigen Christus macht: Er nimmt das Leid anderer so sehr auf sich wie die pommes-frites-generierten Kilos, verteilt Ersteres jedoch auch in großzügigen Portionen. Entsprechend verkehrte religiöse Referenzen finden sich im Roman zuhauf.
Tremblay, 1954 in Chicoutimi (Provinz Québec) geboren, hält die Fäden fest in der Hand. Der Schriftsteller und Lyriker, primär als Dramenautor bekannt, hat auch als Schauspieler, Regisseur und Schauspiellehrer gewirkt; sein Spezialgebiet ist das Kathakali, südindisches Tanztheater. Die Erfahrung der dramatisch dichten Szene prägt "Der feiste Christus" spürbar. Sprachlich beweist Tremblay ein Gefühl für Maß und Takt, welches das Gegenteil der von ihm entworfenen Welt darstellt; Michael von Killisch-Horn überträgt es gelungen ins Deutsche. Eine mal unheimliche, mal anregende, mal trashige Lektüre - wie ein kluger Horrorfilm mit klebrigem Popcorn.
NIKLAS BENDER.
Larry Tremblay: "Der feiste Christus".
Aus dem kanadischen Französisch von Michael von Killisch-Horn. Faber & Faber, Leipzig 2020. 128 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Larry Tremblays Roman "Der feiste Christus"
Ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter holt Edgar Trudel die letzte von ihr gebackene Hühnchen-Gemüse-Pastete aus dem Gefrierfach: "Ich hatte das schmerzliche Gefühl, die tiefgefrorenen Reste meiner Mutter in der Hand zu halten, als befände sich etwas von ihrem Fleisch, ihrem Blut, ihrer bösen Güte, ihren großen Augen, ihren dürren und präzisen Händen, ein wenig von dem, was sie gewesen war, in diesem Plastikbehälter." Die Mutter ist begraben - "ein paar Kilometer entfernt unter der kalten Erde" -, aber längst nicht vergessen. Obwohl seit vier Monaten ein anderer Körper ihr Bett füllt: Jean, den Edgar in Frauenkleidern halbtot auf dem Friedhof aufgesammelt hat, nachdem ihn vier "Reiter der Apokalypse" aufgespießt und mit einem tief in den Hals gestopften Kondom halb erstickt hatten. Die Pflege des Bettlägerigen nimmt perverse Züge an, die an das huis clos in Stephen Kings "Misery" erinnern. Abgemagert, angekettet, dankbar Befehlen gehorchend, scheint Jean ganz Edgars Ding zu werden.
Jeans Anwesenheit hilft Edgar, seine Mutterbindung aufzubrechen: Endlich gelingt es ihm, das Haus zu entrümpeln, Müllsäcke mit Nippes und alten Kosmetika zu befüllen und im Keller einzulagern. Die Reinigung ist kathartisch, mit 37 Jahren scheint das Leben eines Mannes zu beginnen, dessen Glatze ihm eher den Niedergang bedeutet. Es ist das Ende einer destruktiven Beziehung: Den Verlust ihres brutalen Ehemanns am Tag von Edgars Geburt - "als hätte es von Anfang an auf Erden nicht genügend Platz für ihn und mich gegeben" - hatte Anne-Marie Trudel in Hass auf ihren Sohn verwandelt. Sie gab ihm einen Namen "hart wie ein Stück Holzkohle", und die "wohlwollende Grausamkeit" der Krankenschwester ging so weit, dass sie den zweijährigen Edgar in der Badewanne ersäufen wollte.
Man sieht: Larry Tremblays kleiner Roman "Der feiste Christus" wimmelt von sadistisch-gutwilligen Abhängigkeitsbeziehungen, von pervertierter Zuneigung. Mit Josiane Gravel etwa, die die todkranke Anne-Marie gepflegt und Edgars Begehren auf sich gezogen hatte, wird eine weitere Krankenschwester unter die Erde gebracht, diesmal vor der Zeit und im heimischen Keller. Fast jede Hinwendung erweist sich als ihr perfides Gegenteil, umgekehrt entsteht aus Schlimmem Gutes, zumindest vorübergehend - der Titel des Romans resümiert dessen grausige Ambivalenz.
Die Ereignisse beschleunigen sich, als sich Jeans wahre Identität herausschält: Eigentlich heißt er Alex Lévis und war als Gefreiter mit Nato-Truppen im Kosovo. Er steht mit dem ungeklärten Tod seiner Verlobten Émilie Langevin in Verbindung, die Sängerin ist einem Sexualmord zum Opfer gefallen. Edgar nimmt an, dass die Mitglieder ihrer Gothic-Metal-Band "Fatal Foetus" Alex zu Unrecht verdächtigt und bestraft hätten. Mit Liebe wendet er sich Alex zu, arbeitet sogar im Hundesalon von dessen ahnungsloser Mutter, obwohl ihm irgendwann schwant, dass sich die Dinge anders zugetragen haben müssen.
Mit den Entdeckungen wird das Netz der Verweise immer dichter, sowohl für Edgar als auch für den Leser. Der Name "Fatal Foetus" etwa erinnert daran, dass Edgar und Alex mörderische Söhne sind, die sich an ihren Eltern oder deren Stellvertretern vergreifen, ob symbolisch oder real. Tremblay legt zahlreiche Fährten, wickelt Edgar und den Leser in den klebrigen Kokon des Verdachts ein, zwingt eine paranoide Perspektive auf; was als leidvolle, aber leidlich realistische Erzählung beginnt, nähert sich später Genreliteratur zwischen Krimi und Horror. Das irrwitzige Sahnehäubchen verleiht der blasphemische Zug, der ausgerechnet aus Alex einen erst mageren, dann zunehmend gewichtigen Christus macht: Er nimmt das Leid anderer so sehr auf sich wie die pommes-frites-generierten Kilos, verteilt Ersteres jedoch auch in großzügigen Portionen. Entsprechend verkehrte religiöse Referenzen finden sich im Roman zuhauf.
Tremblay, 1954 in Chicoutimi (Provinz Québec) geboren, hält die Fäden fest in der Hand. Der Schriftsteller und Lyriker, primär als Dramenautor bekannt, hat auch als Schauspieler, Regisseur und Schauspiellehrer gewirkt; sein Spezialgebiet ist das Kathakali, südindisches Tanztheater. Die Erfahrung der dramatisch dichten Szene prägt "Der feiste Christus" spürbar. Sprachlich beweist Tremblay ein Gefühl für Maß und Takt, welches das Gegenteil der von ihm entworfenen Welt darstellt; Michael von Killisch-Horn überträgt es gelungen ins Deutsche. Eine mal unheimliche, mal anregende, mal trashige Lektüre - wie ein kluger Horrorfilm mit klebrigem Popcorn.
NIKLAS BENDER.
Larry Tremblay: "Der feiste Christus".
Aus dem kanadischen Französisch von Michael von Killisch-Horn. Faber & Faber, Leipzig 2020. 128 S., geb., 20,- [Euro].
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