So liest man die Geschichte des Abendlandes einmal anders! Wir folgen einem Finger - einem kleinen, langen, krummen, gichtigen, eleganten oder schönen Finger, der zwischen den Seiten eines Buches steckt. Wir sehen dabei eine Person, die liest. Ihr Blick zeigt tiefe innere Bewegung an. Diese intime Verbindung zwischen Buch und Lesergestalt ist in der Kunst selten, doch die Künstlerinnen und Künstler sind durchaus prominent: Tizian, Raffael und Rubens gehören ebenso dazu wie Angelika Kauffmann oder Bassano.
Es ist eine ungewöhnliche und spannende Geschichte, die Ulrich Johannes Schneider auf diese Weise für uns aufblättert. In dreißig Gemälden, Skulpturen und Fotografien erkundet er dieses eine, vermeintlich kleine ikonografische Detail westlicher Bild- und Buchgeschichte: den Finger im Buch. Allerdings tauchen allgemeinere Fragen auf. Was bedeutet Lesen überhaupt? Was lernen wir aus diesen stummen Zeugen der Buchkultur? Und wie sehr gleichen wir selbst den dargestellten Frauen und Männern?
Zur Vielfalt des Lesens gehören unterschiedliche Situationen und Haltungen der Hingabe. Es gibt die private, die gelehrte und die fromme Lektüre. Doch als inneres Erlebnis bleibt das Lesen der Betrachtung verborgen. Nur im Moment seiner Unterbrechung offenbart es sich als Dialog zwischen Geist und Text, zwischen Imagination und Literatur.
Die hier versammelten Kunstwerke von 1331 bis 1935 laden ein zur Betrachtung und zur Reflexion. So ergibt sich ein Panorama der abendländischen Leselust und eine kleine Phänomenologie der immer wieder neu genährten Hoffnung, sich durch Lektüre zu verändern.
Es ist eine ungewöhnliche und spannende Geschichte, die Ulrich Johannes Schneider auf diese Weise für uns aufblättert. In dreißig Gemälden, Skulpturen und Fotografien erkundet er dieses eine, vermeintlich kleine ikonografische Detail westlicher Bild- und Buchgeschichte: den Finger im Buch. Allerdings tauchen allgemeinere Fragen auf. Was bedeutet Lesen überhaupt? Was lernen wir aus diesen stummen Zeugen der Buchkultur? Und wie sehr gleichen wir selbst den dargestellten Frauen und Männern?
Zur Vielfalt des Lesens gehören unterschiedliche Situationen und Haltungen der Hingabe. Es gibt die private, die gelehrte und die fromme Lektüre. Doch als inneres Erlebnis bleibt das Lesen der Betrachtung verborgen. Nur im Moment seiner Unterbrechung offenbart es sich als Dialog zwischen Geist und Text, zwischen Imagination und Literatur.
Die hier versammelten Kunstwerke von 1331 bis 1935 laden ein zur Betrachtung und zur Reflexion. So ergibt sich ein Panorama der abendländischen Leselust und eine kleine Phänomenologie der immer wieder neu genährten Hoffnung, sich durch Lektüre zu verändern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2020Gemaltes liegt so gut in der Hand
Ulrich Johannes Schneider flirtet philosophisch mit dem "Finger im Buch"
"Die unterbrochene Lektüre im Bild" steht auf der linken Seite vor dem Titelblatt, hinter einer gezeichneten Hand, deren überlanger Zeigefinger darauf hinweist, wie in einer etwas altmodischen Gebrauchsanleitung: hier öffnen. So ein Finger ist bestens geeignet als eben "Der Finger im Buch", der dort steckt, wo gerade innegehalten wird. Um gleich fortfahren zu können, nach einer Unterbrechung, welche Ursache sie auch immer gehabt haben mag. "Über das Lesen als Problem" ist dann die Einleitung überschrieben. Allerdings wird es überhaupt nicht problematisch, sondern ausgesprochen anregend.
Für eine reich gekleidete, bestimmt gebildete Dame - sie kann ja lesen - aus dem fünfzehnten Jahrhundert auf dem Porträt von Jacques Daret ist es gewiss eine Störung, die ihren Blick ins Leere lenkt, während der Daumen ihrer linken Hand zwischen den Seiten eines Buchs liegt. Bei der Lektüre handelt es sich wahrscheinlich um ein wertvolles Stundenbuch voller Bibelstellen, Gebete und Fürbitten, das zum Schutz in einen Stoff- umhang gehüllt ist. Ihm hatte sie sich gerade hingegeben. Das Bild enthält so "ein Drama, einen Konflikt zwischen dem, was sein soll, und dem, was ist".
Der Verfasser Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig und Professor für Philosophie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität, hat eine echte Lücke ausgemacht. Frage man nämlich Theoretiker wie Historiker und Kulturwissenschaftler, was beim Lesen selbst denn geschehe, so schreibt er, schaue man "in ratlose Gesichter; sie untersuchen das Gelesenhaben, die vollendete Lektüre".
Was Schneider indessen will, ist, analytisch über das Lesen zu räsonieren, und er befindet: Glücklicherweise existiere eine Art Spiegelung der Lesekultur in einem nicht selbst literarischen Medium, nämlich der Kunst. Dreißig Kunstwerke - Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Fotografien - betrachtet er deshalb näher mit einer Intensität, die sich eine philosophische Inspektion nennen lässt unter Einbezug sozialer und gesellschaftlicher Umstände. Wobei er sich für die unterbrochene Lektüre eben auf das eher seltene Motiv des Fingers im geschlossenen Buch konzentriert. Lesende in offenen Büchern, mit Händen darauf und daneben, so ließe sich ergänzen, sind in der Kunst durchaus vertraut.
Charmant ist, dass Schneider seinem beim Lesen unterbrochenen Personal auch gern geeignete Lektürevorschläge mitgibt. So traut er Peter Paul Rubens' "Isabella Brant", die beinah lasziv über schwellendem Dekolleté in den Raum zu blicken scheint, zu, dass das kleinformatige Büchlein, in das ihr rechter Zeigefinger taucht, Gedichte enthält oder Ottavio Rinuccinis Libretto für "L'Euridice", eine der ersten Opern überhaupt, komponiert von Jacopo Peri - Sehnsuchtsstoff allemal für die verträumt nachsinnende Dame. Ganz anders erfasst ist ein junger Dominikanermönch auf Juan Bautista Maínos Porträt "Bruder Alonso Enriquez".
Der war der uneheliche Sohn des spanischen Königs Philipp IV. und einer Gräfin im Dienst von dessen Gattin. Er scheint sich, mit innerlich bewegtem Gesichtsausdruck und die Kutte wie eine Bürde tragend, an ein Büchlein mit schwarzem Schnitt fast zu klammern, in dem sich die Ordensregeln vermuten lassen. Später wird der ins Kloster geflohene Alonso, erklärt uns Schneider, mit 37 Jahren Bischof von Andalusien werden.
Das Buch ist in Kapitel unterteilt wie "Lesen als Hingabe" oder auch "Lesen verändert", jeweils mit Deutungen der Kunstwerke. Unter "Lesen entführt" firmiert Allan Ramseys Doppelporträt der "Nichten von Horace Walpole" von 1765. Während die eine der Schwestern von ihrer Stickerei aufblickt, schaut die andere stehend in deren Richtung, ein wohl noch ungebundenes Buch in der linken Hand haltend, in dem ihr Zeigefinger steckt.
Lesbar wird das als Beschreibung unterschiedlicher gesellschaftlicher Rollen, nicht zuletzt bildungsgeschichtlich, wobei der Schauerroman von beider Onkel Walpole, "The Castle of Otranto", seine Rolle haben könnte, der 1764 zunächst anonym erschien. Dass endlich Maria, die einst Mutter Gottes sein wird, als Leserin eine Sonderposition einnimmt, lässt Schneider in seinem kleinen Panoptikum nicht aus: Diese Lesende sei verwandelt und könne nicht so weiterleben wie bisher. Francisco de Zurbarán lässt auf seinem zauberischen Gemälde "Die Jungfrau Maria als schlafendes Mädchen" ungeachtet der physiologischen Überwältigung dennoch die kleine Hand zwischen den Seiten des gewichtigen Buchs verweilen, in dem ihre Zukunft geschrieben steht.
So ist es mit dem Akt des Lesens, bei dem die Bücher mit einem machen können, was sich eine Transformation nennen lässt. Im Abschnitt "Über Lesen und Haptik" zitiert Schneider Roland Barthes' Satz aus dem Essay "Über das Lesen": Die Lektüre sei eine körperliche Geste, denn man lese nun einmal mit seinem Körper, sie setze und verändere aber zugleich dessen Ordnung. So könne der Finger im Buch, folgert Schneider, heute zur "Sehnsuchtsgeste in Richtung buchgebundener Literatur" werden. In Richtung einer Nähe vielleicht überhaupt, wo physische Distanzierung herrscht, ließe sich hinzufügen.
Schneider beschenkt uns mit kleinen gelehrten Erzählungen. Wer ihnen folgt, wird das eine oder andere Mal selbst seinen Finger in dieses Buch stecken - das übrigens dankenswerterweise einen flexiblen Umschlag hat, mithin bei der Lektüre nicht so leicht entgleitet -, um nachzusinnen. Doch nach dem "Gelesenhaben" des geistvollen Breviers, das gerade im Piet Meyer Verlag erschienen ist, holen wir einen eigenen Liebling zum Thema aus der Ansichtskartensammlung hervor: El Grecos "Fray Hortensio Félix Paravicino", das Bildnis des spanischen Trinitariermönchs, Dichters und engen Freunds des Künstlers.
Wohin dieser schönäugig schaut, gleich zwei seiner überschlanken Finger in zwei Bücher steckend, soll uns ein Rätsel bleiben. Ulrich Johannes Schneider wird ihn kennen, ihm sein Geheimnis lassend, denn: "In solchen Augenblicken der Unterbrechung ist das Lesen ganz bei sich, gewissermaßen auf dem Höhepunkt einer körperlich gewordenen Verbindung von Buch und Finger, einer Verkoppelung von Text und Individuum." Schließlich gehören das Lesen und die Erotik schon immer untrennbar zusammen.
ROSE-MARIA GROPP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrich Johannes Schneider flirtet philosophisch mit dem "Finger im Buch"
"Die unterbrochene Lektüre im Bild" steht auf der linken Seite vor dem Titelblatt, hinter einer gezeichneten Hand, deren überlanger Zeigefinger darauf hinweist, wie in einer etwas altmodischen Gebrauchsanleitung: hier öffnen. So ein Finger ist bestens geeignet als eben "Der Finger im Buch", der dort steckt, wo gerade innegehalten wird. Um gleich fortfahren zu können, nach einer Unterbrechung, welche Ursache sie auch immer gehabt haben mag. "Über das Lesen als Problem" ist dann die Einleitung überschrieben. Allerdings wird es überhaupt nicht problematisch, sondern ausgesprochen anregend.
Für eine reich gekleidete, bestimmt gebildete Dame - sie kann ja lesen - aus dem fünfzehnten Jahrhundert auf dem Porträt von Jacques Daret ist es gewiss eine Störung, die ihren Blick ins Leere lenkt, während der Daumen ihrer linken Hand zwischen den Seiten eines Buchs liegt. Bei der Lektüre handelt es sich wahrscheinlich um ein wertvolles Stundenbuch voller Bibelstellen, Gebete und Fürbitten, das zum Schutz in einen Stoff- umhang gehüllt ist. Ihm hatte sie sich gerade hingegeben. Das Bild enthält so "ein Drama, einen Konflikt zwischen dem, was sein soll, und dem, was ist".
Der Verfasser Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig und Professor für Philosophie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität, hat eine echte Lücke ausgemacht. Frage man nämlich Theoretiker wie Historiker und Kulturwissenschaftler, was beim Lesen selbst denn geschehe, so schreibt er, schaue man "in ratlose Gesichter; sie untersuchen das Gelesenhaben, die vollendete Lektüre".
Was Schneider indessen will, ist, analytisch über das Lesen zu räsonieren, und er befindet: Glücklicherweise existiere eine Art Spiegelung der Lesekultur in einem nicht selbst literarischen Medium, nämlich der Kunst. Dreißig Kunstwerke - Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Fotografien - betrachtet er deshalb näher mit einer Intensität, die sich eine philosophische Inspektion nennen lässt unter Einbezug sozialer und gesellschaftlicher Umstände. Wobei er sich für die unterbrochene Lektüre eben auf das eher seltene Motiv des Fingers im geschlossenen Buch konzentriert. Lesende in offenen Büchern, mit Händen darauf und daneben, so ließe sich ergänzen, sind in der Kunst durchaus vertraut.
Charmant ist, dass Schneider seinem beim Lesen unterbrochenen Personal auch gern geeignete Lektürevorschläge mitgibt. So traut er Peter Paul Rubens' "Isabella Brant", die beinah lasziv über schwellendem Dekolleté in den Raum zu blicken scheint, zu, dass das kleinformatige Büchlein, in das ihr rechter Zeigefinger taucht, Gedichte enthält oder Ottavio Rinuccinis Libretto für "L'Euridice", eine der ersten Opern überhaupt, komponiert von Jacopo Peri - Sehnsuchtsstoff allemal für die verträumt nachsinnende Dame. Ganz anders erfasst ist ein junger Dominikanermönch auf Juan Bautista Maínos Porträt "Bruder Alonso Enriquez".
Der war der uneheliche Sohn des spanischen Königs Philipp IV. und einer Gräfin im Dienst von dessen Gattin. Er scheint sich, mit innerlich bewegtem Gesichtsausdruck und die Kutte wie eine Bürde tragend, an ein Büchlein mit schwarzem Schnitt fast zu klammern, in dem sich die Ordensregeln vermuten lassen. Später wird der ins Kloster geflohene Alonso, erklärt uns Schneider, mit 37 Jahren Bischof von Andalusien werden.
Das Buch ist in Kapitel unterteilt wie "Lesen als Hingabe" oder auch "Lesen verändert", jeweils mit Deutungen der Kunstwerke. Unter "Lesen entführt" firmiert Allan Ramseys Doppelporträt der "Nichten von Horace Walpole" von 1765. Während die eine der Schwestern von ihrer Stickerei aufblickt, schaut die andere stehend in deren Richtung, ein wohl noch ungebundenes Buch in der linken Hand haltend, in dem ihr Zeigefinger steckt.
Lesbar wird das als Beschreibung unterschiedlicher gesellschaftlicher Rollen, nicht zuletzt bildungsgeschichtlich, wobei der Schauerroman von beider Onkel Walpole, "The Castle of Otranto", seine Rolle haben könnte, der 1764 zunächst anonym erschien. Dass endlich Maria, die einst Mutter Gottes sein wird, als Leserin eine Sonderposition einnimmt, lässt Schneider in seinem kleinen Panoptikum nicht aus: Diese Lesende sei verwandelt und könne nicht so weiterleben wie bisher. Francisco de Zurbarán lässt auf seinem zauberischen Gemälde "Die Jungfrau Maria als schlafendes Mädchen" ungeachtet der physiologischen Überwältigung dennoch die kleine Hand zwischen den Seiten des gewichtigen Buchs verweilen, in dem ihre Zukunft geschrieben steht.
So ist es mit dem Akt des Lesens, bei dem die Bücher mit einem machen können, was sich eine Transformation nennen lässt. Im Abschnitt "Über Lesen und Haptik" zitiert Schneider Roland Barthes' Satz aus dem Essay "Über das Lesen": Die Lektüre sei eine körperliche Geste, denn man lese nun einmal mit seinem Körper, sie setze und verändere aber zugleich dessen Ordnung. So könne der Finger im Buch, folgert Schneider, heute zur "Sehnsuchtsgeste in Richtung buchgebundener Literatur" werden. In Richtung einer Nähe vielleicht überhaupt, wo physische Distanzierung herrscht, ließe sich hinzufügen.
Schneider beschenkt uns mit kleinen gelehrten Erzählungen. Wer ihnen folgt, wird das eine oder andere Mal selbst seinen Finger in dieses Buch stecken - das übrigens dankenswerterweise einen flexiblen Umschlag hat, mithin bei der Lektüre nicht so leicht entgleitet -, um nachzusinnen. Doch nach dem "Gelesenhaben" des geistvollen Breviers, das gerade im Piet Meyer Verlag erschienen ist, holen wir einen eigenen Liebling zum Thema aus der Ansichtskartensammlung hervor: El Grecos "Fray Hortensio Félix Paravicino", das Bildnis des spanischen Trinitariermönchs, Dichters und engen Freunds des Künstlers.
Wohin dieser schönäugig schaut, gleich zwei seiner überschlanken Finger in zwei Bücher steckend, soll uns ein Rätsel bleiben. Ulrich Johannes Schneider wird ihn kennen, ihm sein Geheimnis lassend, denn: "In solchen Augenblicken der Unterbrechung ist das Lesen ganz bei sich, gewissermaßen auf dem Höhepunkt einer körperlich gewordenen Verbindung von Buch und Finger, einer Verkoppelung von Text und Individuum." Schließlich gehören das Lesen und die Erotik schon immer untrennbar zusammen.
ROSE-MARIA GROPP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.04.2020Der kluge
Daumen
Die Loblieder auf das Lesen häufen
sich in der Corona-Krise. Aber was
für eine Tätigkeit ist das eigentlich?
Ulrich Johannes Schneider sieht
in der Kunstgeschichte nach
VON LOTHAR MÜLLER
Das Licht erhellt das Gesicht des jungen Mannes und fällt auf die rechte Seite des aufgeschlagenen Buches, in dem er liest. Die Buchstaben, auf die er hinabblickt, sind nicht zu erkennen. Das Buch ruht nicht auf einer Buchstütze, sondern schwebt oberhalb des Tisches, auf dem die Kerze steht, es wird von seinen Händen gehalten. Bis auf den Daumen liegt die linke Hand im Schatten, die rechte, die fast an die Kerze heranreicht, scheint auf der Tischkante zu ruhen. In dem Dunkel, aus dem das Licht sie heraushebt, bilden Leser und Buch eine Einheit.
Der aus Utrecht stammende Maler Matthias Stom, der in Italien arbeitete, hat den jungen Mann im roten Umhang mit der markanten Kopfbedeckung um 1630 gemalt. Ulrich Johannes Schneider, 1956 im hessischen Gelnhausen geboren, Direktor der Universitätsbibliothek in Leipzig, hat ihn auf einer Reise nach Stockholm im dortigen Nationalmuseum oder bei einer Internetrecherche gesehen und zur Portalfigur seines Essays „Der Finger im Buch“ gemacht. Der ist als Gang durch eine Bildergalerie aufgebaut, der Bibliothekar übernimmt die Rolle des Cicerone.
Er erinnert aber auch ein wenig an die Detektive, die von geringfügigen Details die entscheidenden Aufschlüsse erhoffen. Abhandlungen über Bücher in Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gibt es zuhauf, allein die Bibeln bilden eine kleine Bibliothek, aber dieser Bibliothekar spürt nicht den Büchern nach, sondern einer Geste des Lesens. Ihm fällt sogleich das Oktavformat des Buches auf, und das Verschlussbändchen, das über die linke Hand des jungen Mannes im Kerzenlicht fällt, aber den Schluss, es müsse sich um ein Gebetsbuch handeln, mag er nicht ziehen. Um die Lesestoffe geht es ihm erst in zweiter Linie, er studiert Haltungen, Blicke, Situationen der Lektüre, und stößt hier auf jene Tradition der „Hingabe“, der „absorption“ in der Darstellung Lesender, die der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried beschrieben hat. Warum aber interessieren ihn die Finger der Lesenden so sehr, dass er ihnen eine Bildrecherche quer durch europäische und amerikanische Museen gewidmet hat?
Leipzig ist, immer noch, eine Stadt der Buchmessen, und wer Direktor einer Universitätsbibliothek ist, hat es nicht nur mit historischen Buchbeständen zu tun, sondern mit den aktuellen Diskussionen über analoge und digitale Buchformate. Und so kann es Ulrich Johannes Schneider nicht entgangen sein, dass der junge Mann aus dem fernen Jahrhundert, der so hingebungsvoll in sein Buch blickt, in jüngster Zeit zu einer aktuellen Sehnsuchtsfigur geworden ist. Ist er nicht die ideale Verkörperung jenes „deep reading“, des „immersiven Lesens“, das umso strahlender leuchtet, je düsterer die Klagen über kurze Aufmerksamkeitsspannen klingen, die Berichte über die rapide Ausbreitung zerstreuter, abgebrochener, an der Oberfläche der Texte verbleibender Lektüren, die kaum Spuren in der Erinnerung hinterlassen? Und lässt sich nicht der Shutdown in der Corona-Krise als Gewinn an Lesezeit verbuchen, in der das „deep reading“ wieder aufblühen kann?
Der Bibliothekar hat seinen Essay vor dem Ausbruch der Pandemie geschrieben, aber er hat eine gute Witterung für die Sehnsucht nach dem Lesen als Medium der Selbstvergessenheit und Hingabe, des Fernwehs und der Verzauberung. Seine Grundintention ist, erst einmal genau zu beschreiben, was es mit der „hingebungsvollen Lektüre“ vergangener Zeiten auf sich hat. Dafür ist der Finger im Buch ein guter Wegweiser. Er ist ein Widerhaken, der die Vorstellung des Versinkens im Buch, der Koppelung von Intensität und ununterbrochenem Lesen herausfordert. Er steht für die unterbrochene Lektüre, als ein organisches Lesezeichen, das die Stelle markiert, an die Lektüre fortgesetzt werden kann, und zugleich in der Unterbrechung die körperliche Verbindung von Leser und Buch aufrechterhält.
Schon nach wenigen Schritten durch die Bildergalerie ist zweierlei klar. Erstens, dass der junge Mann im Kerzenlicht eine Grenzfigur, fast eine Ausnahme in diesem Essay ist. Er ist die einzige Figur in der Galerie, deren Augen in ein aufgeschlagenes Buch blicken. Er allein steht für die Lektüre selbst, alle anderen für ihre Unterbrechung. Und zweitens wird deutlich, dass es eine gute Idee des Bibliothekars war, Antworten auf die Frage nach der Geschichte des Lesens im Museum zu suchen. Denn die Malerei ist mit der Sichtbarkeit im Bunde, sie interessiert sich wie er selbst für das Buch als Objekt und wer wie damit umgeht, ins Innere der Leser kann sie nicht blicken. Sie kann es nur indirekt darstellen, durch die Darstellung ihres Gesichts- und Augenausdrucks, die Art, wie sie ein Buch halten, durch die Interieurs oder Landschaften, in die sie ihre Figuren stellt, die Kleidung, die sie ihnen anmisst, die Requisiten, die sie ihnen beigesellt.
Seit einiger Zeit interessieren sich die Philologen mehr und mehr für die „Schreibszene“ als eine Keimzelle von Autorschaft, verfolgen ihre Verwandlungen vom Zeitalter der Manuskripte bis in die aktuellen Computerwelten. Die Idee des Bibliothekars, eine Bildergalerie zum Motiv „Der Finger im Buch“ zu versammeln, überträgt dieses Interesse am Situativen, an Handlungsabläufen und Routinen auf die Geschichte des Lesens.
Die Malerei kommt seiner Absicht entgegen, die Geschichte der Lesestoffe und die Geschichte der Leser, etwa ihrer Alphabetisierung, durch eine „Geschichte der Situationen“ der Lektüre zu ergänzen. Der Finger kommt ins Spiel, weil sie das Nicht-Lesen einschließen. „Zum Lesen gehört, gerade wenn es intensiv und gründlich betrieben wird, die Unterbrechung. Niemand liest am Stück intensiv, weder die professionellen Textverarbeiter in den Universitäten oder Medienredaktionen noch literaturversessene Privatleser zu Hause. Als eine durch Unterbrechungen gekennzeichnete Aktivität ähnelt das Lesen dem Schreiben oder Musizieren: Hier ist überall Intensität möglich, die aber nicht dauern kann.“
Schneider weiß, dass die Gemälde vom 14. Jahrhundert bis 18. Jahrhundert und die wenigen Fotografien und Statuen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die er kommentiert, keine Schnappschüsse sind, sondern sorgfältig arrangierte Inszenierungen. Er fragt nicht nur, was zu sehen ist, sondern was die Bilder zeigen wollen. Seine Protagonisten stehen für die religiöse Lektüre der Frommen, die professionelle Lektüre der Gelehrten und für das „literarische Lesen“, in dem der moderne Roman eine Schlüsselrolle spielt.
Das Erschrecken, mit dem Maria auf Simone Martinis „Verkündigung“ aus dem Jahr 1333 auf die Botschaft des Engels reagiert, ist im Neuen Testament enthalten. Hat sie in dem Buch, in dem der Daumen ihrer linken Hand steckt, gerade die Stelle bei Jesaja im Alten Testament gelesen, in der davon die Rede ist, die Mutter des Messias werde eine Jungfrau sein? Maria ist Teil einer doppelten Verwandlung. Sie wird im Zugleich von Erschrecken und unterbrochener Lektüre zur Gottesmutter, und sie ist Teil der Herausbildung einer Bildkonvention, in der die Spindel, an der sie zuvor oft saß, durch das Buch ersetzt wird. Ein sehr weltliches Element sehen die Kunsthistoriker als Voraussetzung dieses Wandels, die zunehmende Bildung adliger Frauen.
Es liegt auf der Hand, dass die unterbrochene Lektüre, wenn sie nicht wie bei Maria in die Zeit der Heilsgeschichte eingelassen ist, mit den Zeitrastern zusammenhängen muss, die im Raum der Lektüre gelten. Schneider zeigt das sehr schön an Frauengestalten aus dem 15. und 16. Jahrhundert, deren Finger in kostbar gestalteten Stundenbüchern die gerade gelesene Stelle markieren. Sie blicken im Profil in eine nicht sichtbare Ferne oder aus dem Bild heraus schräg am Betrachter vorbei. Die Regel, der sie unterliegen besagt, dass der lectio, der Lektüre, die meditatio, das Nachdenken über das Gelesene zu folgen habe. „Der Finger im Buch ist ein Anker ihrer Konzentration und zugleich Anzeichen ihrer geteilten Aufmerksamkeit.“
Zwischen zwei Säulen blickt die Frau mit der weißen Haube hervor, deren Daumen und mit einem kostbaren Ring geschmückter Zeigefinger eine Seite des Stundenbuchs festhalten. Der flämische Maler Quentin Massys hat sie im frühen 16. Jahrhundert vor einen dunklen Hintergrund gesetzt, der eine Kirchenloge sein könnte. Es ist ungewiss, ob für sie gilt, was Schneider der vornehmen, von Jacques Daret 1435 porträtierten Dame mit dem unergründlichen Blick zugesteht: „Das Buch mag zeitliche Vorgaben enthalten, wann was zu lesen ist – die eingelegte Pause ist die der Leserin allein.“
Der Parcours in Schneiders Galerie führt von den Zeitrastern der frommen Lektüre fort zu den Aristokraten der Renaissance und zu den Gelehrten. Es hat seinen Reiz, an ihre Porträts die Frage zu stellen, was, während die Finger der einen Hand im Buch stecken, die andere Hand macht. Bei dem mondänen, ganz in Schwarz gekleideten jungen Mann, den Agnolo Bronzino, der Hofmaler der Medici in Florenz, im Jahr 1535 gemalt hat, ist die linke Hand selbstbewusst in die Hüfte gestützt, während die rechte Hand auf einem vertikal aufgestellten Buch aufruht. Der Blick des jungen Mannes fasst leicht von oben herab den Betrachter ins Auge, der Finger verweist demonstrativ auf eine gerade unterbrochene Lektüre, auch wenn es klar ist, dass es bei dem Abstand zwischen Auge und Buch und bei der stehenden Position eine eher unbequeme Lektüre gewesen sein muss. Mit Blick auf die boomende Literaturszene in Florenz legt Schneider nahe, dass hier in der Inszenierung des Lesers vor allem die Ambition auf eigene Autorschaft steckt.
Im Jahr 1545 hat Tizian den Anatomen Vesalius porträtiert, dessen Hauptwerk „Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers“ zwei Jahr zuvor erschienen war. Es ist naheliegend, dass es sich bei dem voluminösen Buch, das Vesalius mit der linken Hand an seinen Körper drückt, um dieses Werk handelt, eines der ersten aufwendig illustrierten Bücher der Wissenschaftsgeschichte. Durch den imaginären Raum, in dem hier die unterbrochene Lektüre stattfindet, hallt das Stimmengewirr der Gelehrten. Wenn hier die Finger eine Stelle im Buch markieren, dann nicht lediglich als Lesezeichen, sondern als „Argumentationshilfen“. Geradezu herausfordernd debattenfreudig wirkt der Kleriker, der als „Tizians Schullehrer“ aus dem Gemälde von Giovanni Batista Moroni auf den Betrachter blickt.
Nach einem Abstecher zu den amerikanischen Theologen und Ärzten in der Zeit der Loslösung von der britischen Kolonialmacht haben die Leserinnen des 18. Jahrhunderts ihren großen Auftritt. Sie verkörpern, etwa in Angelika Kauffmanns Porträt der Lady Henderson, die Lektüre in freier Landschaft, die Natur, von der sie umgeben sind, ist Teil der Gesellschaft, und es bleibt stets ungewiss, ob der Impuls zur Unterbrechung der Lektüre aus dem Buch hervorgegangen ist oder aus der Gesellschaft, auch dann, wenn sie allein sind.
Schneiders Essay erzählt zu jedem Bild eine knappe, auf die Geschichte des Lesens fokussierte Geschichte, im Dialog mit den Kunsthistorikern. Er ist auch deshalb willkommen, weil er die Fixierung auf das Auge und die Gehirntätigkeit lockert. Lesen ist ein ganzkörperlicher Vorgang. Nichts anderes als eine Hand, deren Zeigefinger in einem Gesangbuch steckt, zeigt das wohl im frühen 17. Jahrhundert entstandene kleine Ölgemälde eines Unbekannten im Historischen Museum in Frankfurt am Main. Zum Lesen gehört das Zusammenspiel von Auge und Hand, auch wenn die Finger nur noch leicht über eine Monitoroberfläche wischen.
Ulrich Johannes Schneider: Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer Verlag, Bern und Wien 2020. 184 Seiten, 28,40 Euro.
Der Finger im Buch steht als
organisches Lesezeichen für das
unterbrochene Lesen
Die Regel besagt, dass der
Lektüre das Nachdenken über
das Gelesene zu folgen habe
Unklar, ob der Impuls zur
Unterbrechung aus dem Buch
oder der Gesellschaft hervorgeht
Aus der Bildergalerie zum „Finger im Buch“:
Das kleine Ölgemälde eines Unbekannten
aus dem frühen 17. Jahrhundert zeigt nur Hand und Buch, nicht den Leser (oben links). Angelika Kauffmanns Porträt der Lady
Henderson von 1771 inszeniert die
unterbrochene Lektüre in freier Landschaft (oben rechts).
Den jungen Leser im Kerzenlicht hat
Matthias Stom 1650 gemalt, den Renaissance-Dandy in
seinem Rücken Angelo
Bronzino um 1535,
die fromme Dame mit Haube Quentin
Massys im Jahr 1520.
Fotos: Historisches Museum Frankfurt am Main,
Angelika Kauffmann Museum Schwarzenberg, National-
museum Stockholm,
Metropolitan Museum of Art, New York.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Daumen
Die Loblieder auf das Lesen häufen
sich in der Corona-Krise. Aber was
für eine Tätigkeit ist das eigentlich?
Ulrich Johannes Schneider sieht
in der Kunstgeschichte nach
VON LOTHAR MÜLLER
Das Licht erhellt das Gesicht des jungen Mannes und fällt auf die rechte Seite des aufgeschlagenen Buches, in dem er liest. Die Buchstaben, auf die er hinabblickt, sind nicht zu erkennen. Das Buch ruht nicht auf einer Buchstütze, sondern schwebt oberhalb des Tisches, auf dem die Kerze steht, es wird von seinen Händen gehalten. Bis auf den Daumen liegt die linke Hand im Schatten, die rechte, die fast an die Kerze heranreicht, scheint auf der Tischkante zu ruhen. In dem Dunkel, aus dem das Licht sie heraushebt, bilden Leser und Buch eine Einheit.
Der aus Utrecht stammende Maler Matthias Stom, der in Italien arbeitete, hat den jungen Mann im roten Umhang mit der markanten Kopfbedeckung um 1630 gemalt. Ulrich Johannes Schneider, 1956 im hessischen Gelnhausen geboren, Direktor der Universitätsbibliothek in Leipzig, hat ihn auf einer Reise nach Stockholm im dortigen Nationalmuseum oder bei einer Internetrecherche gesehen und zur Portalfigur seines Essays „Der Finger im Buch“ gemacht. Der ist als Gang durch eine Bildergalerie aufgebaut, der Bibliothekar übernimmt die Rolle des Cicerone.
Er erinnert aber auch ein wenig an die Detektive, die von geringfügigen Details die entscheidenden Aufschlüsse erhoffen. Abhandlungen über Bücher in Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gibt es zuhauf, allein die Bibeln bilden eine kleine Bibliothek, aber dieser Bibliothekar spürt nicht den Büchern nach, sondern einer Geste des Lesens. Ihm fällt sogleich das Oktavformat des Buches auf, und das Verschlussbändchen, das über die linke Hand des jungen Mannes im Kerzenlicht fällt, aber den Schluss, es müsse sich um ein Gebetsbuch handeln, mag er nicht ziehen. Um die Lesestoffe geht es ihm erst in zweiter Linie, er studiert Haltungen, Blicke, Situationen der Lektüre, und stößt hier auf jene Tradition der „Hingabe“, der „absorption“ in der Darstellung Lesender, die der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried beschrieben hat. Warum aber interessieren ihn die Finger der Lesenden so sehr, dass er ihnen eine Bildrecherche quer durch europäische und amerikanische Museen gewidmet hat?
Leipzig ist, immer noch, eine Stadt der Buchmessen, und wer Direktor einer Universitätsbibliothek ist, hat es nicht nur mit historischen Buchbeständen zu tun, sondern mit den aktuellen Diskussionen über analoge und digitale Buchformate. Und so kann es Ulrich Johannes Schneider nicht entgangen sein, dass der junge Mann aus dem fernen Jahrhundert, der so hingebungsvoll in sein Buch blickt, in jüngster Zeit zu einer aktuellen Sehnsuchtsfigur geworden ist. Ist er nicht die ideale Verkörperung jenes „deep reading“, des „immersiven Lesens“, das umso strahlender leuchtet, je düsterer die Klagen über kurze Aufmerksamkeitsspannen klingen, die Berichte über die rapide Ausbreitung zerstreuter, abgebrochener, an der Oberfläche der Texte verbleibender Lektüren, die kaum Spuren in der Erinnerung hinterlassen? Und lässt sich nicht der Shutdown in der Corona-Krise als Gewinn an Lesezeit verbuchen, in der das „deep reading“ wieder aufblühen kann?
Der Bibliothekar hat seinen Essay vor dem Ausbruch der Pandemie geschrieben, aber er hat eine gute Witterung für die Sehnsucht nach dem Lesen als Medium der Selbstvergessenheit und Hingabe, des Fernwehs und der Verzauberung. Seine Grundintention ist, erst einmal genau zu beschreiben, was es mit der „hingebungsvollen Lektüre“ vergangener Zeiten auf sich hat. Dafür ist der Finger im Buch ein guter Wegweiser. Er ist ein Widerhaken, der die Vorstellung des Versinkens im Buch, der Koppelung von Intensität und ununterbrochenem Lesen herausfordert. Er steht für die unterbrochene Lektüre, als ein organisches Lesezeichen, das die Stelle markiert, an die Lektüre fortgesetzt werden kann, und zugleich in der Unterbrechung die körperliche Verbindung von Leser und Buch aufrechterhält.
Schon nach wenigen Schritten durch die Bildergalerie ist zweierlei klar. Erstens, dass der junge Mann im Kerzenlicht eine Grenzfigur, fast eine Ausnahme in diesem Essay ist. Er ist die einzige Figur in der Galerie, deren Augen in ein aufgeschlagenes Buch blicken. Er allein steht für die Lektüre selbst, alle anderen für ihre Unterbrechung. Und zweitens wird deutlich, dass es eine gute Idee des Bibliothekars war, Antworten auf die Frage nach der Geschichte des Lesens im Museum zu suchen. Denn die Malerei ist mit der Sichtbarkeit im Bunde, sie interessiert sich wie er selbst für das Buch als Objekt und wer wie damit umgeht, ins Innere der Leser kann sie nicht blicken. Sie kann es nur indirekt darstellen, durch die Darstellung ihres Gesichts- und Augenausdrucks, die Art, wie sie ein Buch halten, durch die Interieurs oder Landschaften, in die sie ihre Figuren stellt, die Kleidung, die sie ihnen anmisst, die Requisiten, die sie ihnen beigesellt.
Seit einiger Zeit interessieren sich die Philologen mehr und mehr für die „Schreibszene“ als eine Keimzelle von Autorschaft, verfolgen ihre Verwandlungen vom Zeitalter der Manuskripte bis in die aktuellen Computerwelten. Die Idee des Bibliothekars, eine Bildergalerie zum Motiv „Der Finger im Buch“ zu versammeln, überträgt dieses Interesse am Situativen, an Handlungsabläufen und Routinen auf die Geschichte des Lesens.
Die Malerei kommt seiner Absicht entgegen, die Geschichte der Lesestoffe und die Geschichte der Leser, etwa ihrer Alphabetisierung, durch eine „Geschichte der Situationen“ der Lektüre zu ergänzen. Der Finger kommt ins Spiel, weil sie das Nicht-Lesen einschließen. „Zum Lesen gehört, gerade wenn es intensiv und gründlich betrieben wird, die Unterbrechung. Niemand liest am Stück intensiv, weder die professionellen Textverarbeiter in den Universitäten oder Medienredaktionen noch literaturversessene Privatleser zu Hause. Als eine durch Unterbrechungen gekennzeichnete Aktivität ähnelt das Lesen dem Schreiben oder Musizieren: Hier ist überall Intensität möglich, die aber nicht dauern kann.“
Schneider weiß, dass die Gemälde vom 14. Jahrhundert bis 18. Jahrhundert und die wenigen Fotografien und Statuen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die er kommentiert, keine Schnappschüsse sind, sondern sorgfältig arrangierte Inszenierungen. Er fragt nicht nur, was zu sehen ist, sondern was die Bilder zeigen wollen. Seine Protagonisten stehen für die religiöse Lektüre der Frommen, die professionelle Lektüre der Gelehrten und für das „literarische Lesen“, in dem der moderne Roman eine Schlüsselrolle spielt.
Das Erschrecken, mit dem Maria auf Simone Martinis „Verkündigung“ aus dem Jahr 1333 auf die Botschaft des Engels reagiert, ist im Neuen Testament enthalten. Hat sie in dem Buch, in dem der Daumen ihrer linken Hand steckt, gerade die Stelle bei Jesaja im Alten Testament gelesen, in der davon die Rede ist, die Mutter des Messias werde eine Jungfrau sein? Maria ist Teil einer doppelten Verwandlung. Sie wird im Zugleich von Erschrecken und unterbrochener Lektüre zur Gottesmutter, und sie ist Teil der Herausbildung einer Bildkonvention, in der die Spindel, an der sie zuvor oft saß, durch das Buch ersetzt wird. Ein sehr weltliches Element sehen die Kunsthistoriker als Voraussetzung dieses Wandels, die zunehmende Bildung adliger Frauen.
Es liegt auf der Hand, dass die unterbrochene Lektüre, wenn sie nicht wie bei Maria in die Zeit der Heilsgeschichte eingelassen ist, mit den Zeitrastern zusammenhängen muss, die im Raum der Lektüre gelten. Schneider zeigt das sehr schön an Frauengestalten aus dem 15. und 16. Jahrhundert, deren Finger in kostbar gestalteten Stundenbüchern die gerade gelesene Stelle markieren. Sie blicken im Profil in eine nicht sichtbare Ferne oder aus dem Bild heraus schräg am Betrachter vorbei. Die Regel, der sie unterliegen besagt, dass der lectio, der Lektüre, die meditatio, das Nachdenken über das Gelesene zu folgen habe. „Der Finger im Buch ist ein Anker ihrer Konzentration und zugleich Anzeichen ihrer geteilten Aufmerksamkeit.“
Zwischen zwei Säulen blickt die Frau mit der weißen Haube hervor, deren Daumen und mit einem kostbaren Ring geschmückter Zeigefinger eine Seite des Stundenbuchs festhalten. Der flämische Maler Quentin Massys hat sie im frühen 16. Jahrhundert vor einen dunklen Hintergrund gesetzt, der eine Kirchenloge sein könnte. Es ist ungewiss, ob für sie gilt, was Schneider der vornehmen, von Jacques Daret 1435 porträtierten Dame mit dem unergründlichen Blick zugesteht: „Das Buch mag zeitliche Vorgaben enthalten, wann was zu lesen ist – die eingelegte Pause ist die der Leserin allein.“
Der Parcours in Schneiders Galerie führt von den Zeitrastern der frommen Lektüre fort zu den Aristokraten der Renaissance und zu den Gelehrten. Es hat seinen Reiz, an ihre Porträts die Frage zu stellen, was, während die Finger der einen Hand im Buch stecken, die andere Hand macht. Bei dem mondänen, ganz in Schwarz gekleideten jungen Mann, den Agnolo Bronzino, der Hofmaler der Medici in Florenz, im Jahr 1535 gemalt hat, ist die linke Hand selbstbewusst in die Hüfte gestützt, während die rechte Hand auf einem vertikal aufgestellten Buch aufruht. Der Blick des jungen Mannes fasst leicht von oben herab den Betrachter ins Auge, der Finger verweist demonstrativ auf eine gerade unterbrochene Lektüre, auch wenn es klar ist, dass es bei dem Abstand zwischen Auge und Buch und bei der stehenden Position eine eher unbequeme Lektüre gewesen sein muss. Mit Blick auf die boomende Literaturszene in Florenz legt Schneider nahe, dass hier in der Inszenierung des Lesers vor allem die Ambition auf eigene Autorschaft steckt.
Im Jahr 1545 hat Tizian den Anatomen Vesalius porträtiert, dessen Hauptwerk „Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers“ zwei Jahr zuvor erschienen war. Es ist naheliegend, dass es sich bei dem voluminösen Buch, das Vesalius mit der linken Hand an seinen Körper drückt, um dieses Werk handelt, eines der ersten aufwendig illustrierten Bücher der Wissenschaftsgeschichte. Durch den imaginären Raum, in dem hier die unterbrochene Lektüre stattfindet, hallt das Stimmengewirr der Gelehrten. Wenn hier die Finger eine Stelle im Buch markieren, dann nicht lediglich als Lesezeichen, sondern als „Argumentationshilfen“. Geradezu herausfordernd debattenfreudig wirkt der Kleriker, der als „Tizians Schullehrer“ aus dem Gemälde von Giovanni Batista Moroni auf den Betrachter blickt.
Nach einem Abstecher zu den amerikanischen Theologen und Ärzten in der Zeit der Loslösung von der britischen Kolonialmacht haben die Leserinnen des 18. Jahrhunderts ihren großen Auftritt. Sie verkörpern, etwa in Angelika Kauffmanns Porträt der Lady Henderson, die Lektüre in freier Landschaft, die Natur, von der sie umgeben sind, ist Teil der Gesellschaft, und es bleibt stets ungewiss, ob der Impuls zur Unterbrechung der Lektüre aus dem Buch hervorgegangen ist oder aus der Gesellschaft, auch dann, wenn sie allein sind.
Schneiders Essay erzählt zu jedem Bild eine knappe, auf die Geschichte des Lesens fokussierte Geschichte, im Dialog mit den Kunsthistorikern. Er ist auch deshalb willkommen, weil er die Fixierung auf das Auge und die Gehirntätigkeit lockert. Lesen ist ein ganzkörperlicher Vorgang. Nichts anderes als eine Hand, deren Zeigefinger in einem Gesangbuch steckt, zeigt das wohl im frühen 17. Jahrhundert entstandene kleine Ölgemälde eines Unbekannten im Historischen Museum in Frankfurt am Main. Zum Lesen gehört das Zusammenspiel von Auge und Hand, auch wenn die Finger nur noch leicht über eine Monitoroberfläche wischen.
Ulrich Johannes Schneider: Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer Verlag, Bern und Wien 2020. 184 Seiten, 28,40 Euro.
Der Finger im Buch steht als
organisches Lesezeichen für das
unterbrochene Lesen
Die Regel besagt, dass der
Lektüre das Nachdenken über
das Gelesene zu folgen habe
Unklar, ob der Impuls zur
Unterbrechung aus dem Buch
oder der Gesellschaft hervorgeht
Aus der Bildergalerie zum „Finger im Buch“:
Das kleine Ölgemälde eines Unbekannten
aus dem frühen 17. Jahrhundert zeigt nur Hand und Buch, nicht den Leser (oben links). Angelika Kauffmanns Porträt der Lady
Henderson von 1771 inszeniert die
unterbrochene Lektüre in freier Landschaft (oben rechts).
Den jungen Leser im Kerzenlicht hat
Matthias Stom 1650 gemalt, den Renaissance-Dandy in
seinem Rücken Angelo
Bronzino um 1535,
die fromme Dame mit Haube Quentin
Massys im Jahr 1520.
Fotos: Historisches Museum Frankfurt am Main,
Angelika Kauffmann Museum Schwarzenberg, National-
museum Stockholm,
Metropolitan Museum of Art, New York.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Arno Widmann lernt mit dem Philososophiehistoriker Ulrich Johannes Schneider, mit dem Finger im Buch zu lesen, genauer erörtert und fantasiert der Autor über dreißig Gemälde, auf denen jemand den Finger im Buch stecken hat. Widmann ist hin und weg - von der schönen Aufmachung des Buches wie von Schneiders inspirierenden Überlegungen zum Lesen und zur Kunst. Etwa zur Maria mit Kind von Raffael oder Foschis Lesender von 1535. Auf die autoerotische Komponente des Fingers im Buch kommt Widmann schließlich von allein. Lesen Sie selbst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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