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Auf einer indonesischen Insel fällt eine Öllampe zu Boden, kurz danach begehen niederländische Soldaten ein Massaker an den Inselbewohnern.Wie hängen diese beiden Geschehnisse zusammen und was geschah danach? Mit dieser Frage beginnt Amitav Ghosh seine Recherche auf den Spuren der Muskatnuss. Heute alltägliches Gewürz, galt sie im 17. Jahrhundert als Luxusgut - allein eine Handvoll davon reichte aus, um einen Palast zu erbauen -, denn die seltene Frucht wuchs nur auf jener Insel, die niederländische Truppen vornehmlich deshalb in Besitz nahmen, um das Handelsmonopol für die Niederländische…mehr

Produktbeschreibung
Auf einer indonesischen Insel fällt eine Öllampe zu Boden, kurz danach begehen niederländische Soldaten ein Massaker an den Inselbewohnern.Wie hängen diese beiden Geschehnisse zusammen und was geschah danach? Mit dieser Frage beginnt Amitav Ghosh seine Recherche auf den Spuren der Muskatnuss. Heute alltägliches Gewürz, galt sie im 17. Jahrhundert als Luxusgut - allein eine Handvoll davon reichte aus, um einen Palast zu erbauen -, denn die seltene Frucht wuchs nur auf jener Insel, die niederländische Truppen vornehmlich deshalb in Besitz nahmen, um das Handelsmonopol für die Niederländische Ostindien-Kompanie zu sichern. Während Amitav Ghosh die Reise der Muskatnuss nachzeichnet, veranschaulicht er eindrucksvoll die Mechanismen von Kolonialismus und Ausbeutung der Einheimischen sowie der Natur durch westliche Länder. Mitreißend stellt er dabei die Verbindung geschichtlicher Entwicklungen mit aktuellen Realitäten her, verkettet niederländische Stillleben und die Nomenklatur nach Linné mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Covid-Pandemie und der Standing Rock Sioux Reservation, um zu zeigen, dass der heutige Klimawandel in einer jahrhundertealten geopolitischen Ordnung verwurzelt ist, die vom westlichen Kolonialismus und seiner mechanistischen Weltsicht - die Erde als bloßem Ressourcenlieferant für die Menschheit - geschaffen wurde.
Autorenporträt
Amitav Ghosh , 1956 in Kolkata geboren, lebt heute als Autor und Essayist in New York. Seine Romane wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet, unter anderem gewann Der Glaspalast 2001 den Frankfurt eBook Award und Das mohnrote Meer stand 2008 auf der Shortlist für den Man Booker Prize, 2018 war er der erste Autor, der mit einem englischsprachigen Werk mit dem höchsten indischen Literaturpreis, dem Jnanpith Award, ausgezeichnet wurde.  Der Fluch der Muskatnuss ist sein zweites Sachbuch, in dem er die Klimakrise thematisiert. Sigrid Ruschmeier arbeitet seit den 1990ern als literarische Übersetzerin in Berlin. Sie hat Germanistik und Politikwissenschaft studiert und unter anderem Werke von Elizabeth Bowen, Sybille Bedford, Grace Paley, Salman Rushdie und Fay Weldon ins Deutsche übertragen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent und Globalhistoriker Jürgen Osterhammel kann zwar Amitav Ghoshs literarische Größe und sein umfangreiches historisches Wissen anerkennen, muss in Bezug auf sein neues Buch aber Zweifel anmelden. Denn in Ghoshs umfangreicher, quellengesättigter Reflexion über die "planetarische Krise" und ihre Ursachen gehe es zwar ambitioniert, breit gefächert und schriftstellerisch virtuos, aber eben auch sehr "undialektisch" zu, meint Osterhammel: Denn die Abwärtsspirale der Moderne voller Genozide, Ökozide oder gar "Omnizide", die Ghosh emblematisch am Muskatnussanbau auf der Banda-Insel Lonthor nach der Auslöschung der dortigen Bevölkerung 1621 aufhänge, stelle sich bei Ghosh als ein und derselbe, seitdem einfach immer weiter wirkende "archaische Fluch" dar. Die Spezifik einzelner Krisen, und damit auch der aktuellen, fällt in dieser "düsteren Geschichtsphilosophie" hinten runter, kritisiert Osterhammel. Auch die Gegenmittel, die der Autor an die Hand gebe - moralische "Einkehr" und Demut vor der Natur - werden uns heute wenig helfen, meint der Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2023

Wege aus dem Würgegriff
Warum steuert die Menschheit wissentlich auf ihren Untergang zu? Amitav Ghosh findet ein paar Antworten – und etwas Hoffnung
Es ist immer ein Geschenk, wenn ein Buch einen klüger macht. Besonders dann, wenn man bei dem Thema schon dachte, man sei am Ende seiner Weisheit angekommen. „Der Fluch der Muskatnuss“ von Amitav Ghosh erzählt erst mal eine Kolonialisierungsgeschichte, die für Menschen, die sich mit damit befassen, relativ bekannt ist. Die indonesischen Banda-Inseln waren im 16. Jahrhundert der einzige Ort auf der Welt, an dem die Muskatnuss wuchs. Gewürze waren damals enorm wertvoll, „im Grunde Fetisch-Objekte“, schreibt Ghosh, „Neid erregende Symbole von Luxus und Reichtum, die insofern perfekt Adam Smiths Erkenntnis entsprachen, als dass man Reichtum nicht deshalb begehrt, weil er materielle Bedürfnisse befriedigt, sondern weil er von anderen begehrt wird“.
Und schon ist man mittendrin in einer intellektuellen Weltbetrachtung, in der Ghosh vom Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith zu Shakespeare gleitet und das Gestern immer wieder mit dem Heute verbindet. Nachdem die Schiffe der niederländischen „Vereinigten Ostindien Kompanie“ (VOC) den Banda-Archipel erreichten, wollten die Holländer ein Handelsmonopol errichten.
Nur wollten die dort lebenden Menschen nicht verstehen, wieso sie nur mit einer Partei Geschäfte machen sollten, denn solche rein kapitalistischen Ideen waren im Indischen Ozean damals völlig fremd. Was taten also die Männer der VOC, als die Bandanesen sich wiedersetzten? Sie vertrieben, folterten und töteten die Bevölkerung erbarmungslos. Einige der Überlebenden wurden später versklavt und wieder auf die Felder zurückgebracht, die ihnen einst gehört hatten – damit sie fortan mit Zwangsarbeit den Reichtum der europäischen Kolonisatoren mehrten.
Wer an dieser Stelle denkt: Verrückt, wie brutal und gewissenlos die Kolonialisten damals im fernen Südostasien vorgegangen sind, für den hat Amitav Ghosh einige Überraschungen parat. Er erklärt die Vernichtung der indigenen Bevölkerung Amerikas parallel zu der auf Banda, um dann auf den Feldzug der gerade erst abgewählten Bolsonaro-Regierung gegen die Amazonas-Einwohner in Brasilien zu kommen, sowie auf den Erfolg von Trump und anderer Klimawandel-Leugner weltweit. Von dort geht es weiter bis zu den Elon Musks und Jeff Bezos’ der Hypermoderne, die ihre Kolonialisierungspläne auf das Weltall ausdehnen, weil die Erde mittlerweile fast zu Tode ausgebeutet und geschunden wurde. Und weil ihr Reichtum nichts mehr wert wäre, ohne eine Zukunft.
Als Erzählgenre nennt man das Science-Fiction. Und das Science-Fiction-Konzept des Terraforming, sprich die Erschließung eines anderen Planeten, ist „eine Fortschreibung der Kolonisierungsgeschichte“, schreibt Ghosh. „Folglich greifen Erzählungen über Terraforming heftig auf imperiale Sprache und Bilder zurück. Raum wird als ‚Grenzgebiet‘ gesehen, das ‚erobert‘ und ‚kolonisiert‘ werden muss. Dass diese Betrachtungsweise tief in der Geschichte der Siedler-Kolonisierung wurzelt, erklärt vielleicht, warum sie in der englischsprachigen Welt so populär ist, und zwar bei Science-Fiction-Fans ebenso wie bei Techmilliardären, Unternehmern, Ingenieuren und dergleichen.“
Das alles analysiert und verwebt Ghosh so zwingend, dass man das Buch schnell nicht mehr nur als Kolonialisierungsgeschichte liest, sondern als Psychogramm der westlichen Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert. Und als Erzählung über den Kapitalismus als Krieg, den die Reichen gegen die Armen führen, von den Banda-Inseln bis heute und in eine Zukunft, die es vielleicht gar nicht geben wird, wenn man in der Gegenwart so weitermacht.
Folgt man Ghosh durch seinen blühenden Gedankengarten, sieht man sich allerdings durchaus auch im europäischen Alltag der Gegenwart porträtiert, wo man zwar den Müll trennt, aber auch nicht wirklich auf Wohlstand verzichten mag. „Es ist der göttliche Engel der Unzufriedenheit, der Autos in SUVs und Häuser in kitschige Protzvillen metastasieren lässt“, schreibt Ghosh. „Unangetastet wird der zeitgenössische permanent unzufriedene Lebensstil des Überflusses weiterhin für einen immer rasanter vergrößerten CO&sub2;-Fußabdruck sorgen, und irgendwann werden ein paar Tausend reiche Unzufriedene hundertfünfzig Millionen arme Bangladescher aufwiegen.“
Die Ausbeutung der Kolonien wurde früher begründet durch eine Betrachtungsweise der europäischen Metaphysik, in der die Materie als „roh“ und „dumm“ angesehen wurde und deshalb „mit den zerstörerischsten, einzig und allein auf Profit und materiellen Reichtum gerichteten Methoden“ unterworfen werden konnte. So viel hat sich an dieser Betrachtungsweise aber gar nicht verändert. Man muss nur ein Denkmodell finden, das zwischen „uns“ und „denen“ unterscheidet und wertet.
„Es ist kein Zufall, dass sich die Hexenverbrennungen in Europa und das ‚große Sterben‘ in Nord- und Südamerika zeitlich überlappen“, erklärt Ghosh. Als Hexen wurden schnell diejenigen bezeichnet, die in der Natur mehr sahen als bloße Materie. Auch da klingen die Alarmglocken aus der Vergangenheit in die Gegenwart, man versteht den Hass gegen die Umweltschützer von heute plötzlich aus dem Humanismus von gestern, der auf der Überzeugung gründete, dass der Mensch als Spezies einzigartig sei, gleichzeitig aber „die allermeisten Menschen für einen Teil der stummen Wildheit der Natur hielt“ – für Wilde eben, ein Begriff, den man noch von den Großeltern kennen könnte. „Die Frage, wer ein ,Wilder‘ ist und wer ein ,richtiger‘ Mensch, wer Bedeutung schafft und wer nicht, liegt im Zentrum der planetaren Krise“, so Ghosh.
Dass einem diese vielen feinen Betrachtungen nicht nur infernalisch schlechte Laune bereiten, liegt an der so klugen wie warmen Erzählweise von Amitav Ghosh (übersetzt von Sigrid Ruschmeier). Der vielfach ausgezeichnete Autor, im indischen Kolkata (ehemals Kalkutta) geboren und in New York lebend, ist ein Kosmopolit, der historisch und geopolitisch denkt. Er analysiert Menschen als Masse, ohne sie als Spezies zu hassen, das muss man ja auch erst mal hinbekommen.
Er weiß, wie irrational sie funktionieren, wenn sie als Sklaven des Spätkapitalismus die Werte verteidigen, die ihnen selbst mehr schaden als nutzen, siehe Klimawandel. Und er zeigt Wege auf, dem Würgegriff dieses Modells zu entkommen. Beispielsweise indem man alternative Energien fördert. Was allerdings auch bedeutet, dass die alten Machtmonopole der Erdölkonzerne leiden müssten und eine globale, kooperative Politik nötig wäre. Das ist vermutlich der einzige Teil des Buches, wo die Hoffnungen des Autors seinem scharfen Verstand im Weg stehen. Aber das macht es nicht weniger klug, sondern umso lesenswerter.
DAVID PFEIFER
„Die Frage, wer ein ,Wilder‘
ist und wer ein ,richtiger‘ Mensch,
liegt im Zentrum der Krise.“
Amitav Ghosh: Der Fluch der Muskatnuss.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.
Matthes & Seitz, Berlin 2023. 360 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2023

Die Moderne als grausames Verhängnis
Da hilft nur Umkehr: Amitav Ghosh zieht alle Register entschiedener Zivilisationskritik

Wenn die Menschheit auf eine um drei Grad wärmere Welt zusteuert, ist daran die Muskatnuss schuld? Nicht unmittelbar, aber sie kann, so findet Amitav Ghosh, als Emblem für ein geradezu kosmisches Verhängnis dienen. Der weltweit gelesene und geehrte Romanautor und Essayist bewegt sich mit diesem Buch tiefer denn je in den Bereich von "non-fiction" hinein. Mit sechshundert Anmerkungen, einer Bibliographie von beinahe fünfhundert Titeln (die in der deutschen Ausgabe ebenso fehlt wie ein Register) und ausführlichen Zitaten aus einem breiten Spektrum gut ausgewählter Literatur erhebt Ghosh den Anspruch, mehr zu bieten als ein Schreckensbild und eine Bußpredigt. Er will erklären, wie und warum wir in einem Schlamassel gelandet sind, der noch viel umfassender ist als der beschleunigte Klimawandel, in einer unentrinnbaren "planetarischen Krise", zu der auch Umweltzerstörung, Massenentwurzelung, politische Regression, Pandemien, Rassismus und skandalöse innergesellschaftliche wie internationale Ungleichheiten gehören.

Was hat das mit der Muskatnuss zu tun? Auf der Banda-Insel Lonthor (heute: Banda Besar), etwa zweitausend Kilometer östlich von Jakarta (das zwei Jahre zuvor als niederländische Festung "Batavia" gegründet worden war), taten im April 1621 europäische Soldaten und Kolonialagenten dasselbe wie gleichzeitig in anderen Teilen Südostasiens und in den beiden Amerikas: Sie enteigneten, vertrieben, versklavten, folterten und ermordeten die einheimische Bevölkerung. Der Konquistador und Generalgouverneur Jan Pieterszoon Coen ordnete eine solche "Endlösung" (Ghosh) einerseits aus paranoider Furcht vor Aufständen an, und andererseits, um das menschenleere Land für Muskatnussplantagen nutzen zu können, die von importierten Sklaven bearbeitet werden sollten. Der Banda-Archipel wurde durch "Terraforming" - die Übersetzerin hat dieses englische Kunstwort unverändert übernommen - in die berühmten "Gewürzinseln" verwandelt, eine der Quellen des niederländischen Reichtums im Goldenen Zeitalter.

Viel mehr erfährt man über die spätere lokale Entwicklung im Rest des Buches nicht. Amitav Ghosh, der versierte Romancier, will keine länger ausgesponnenen Geschichten erzählen, nicht der jahrhundertelangen Kolonialherrschaft in Niederländisch-Ostindien, nicht der überlebenden und geflüchteten Bandanesen, nicht der Muskatnuss als globaler Handelsware, nicht der europäischen "Unterwerfung der Welt", von der Wolfgang Reinhard gesprochen hat. Lonthor 1621 dient ihm als Urszene eines destruktiven Verhältnisses zur Welt, an dem sich seither wenig geändert habe. Die Ereignisse dort wiederholten sich ganz ähnlich 1636 bis 1638 im Krieg zwischen englischen Kolonisten und den Pequot im südlichen Neuengland und dann immer wieder bis hin zu heutigen Massakern und ethnischen Säuberungen. Lonthor war nicht der Anfang einer kontinuierlichen historischen Entwicklung. Es dient Ghosh über die Zeiten hinweg als ein "Modell für die Gegenwart". Der gute Kenner der historischen Literatur hat kein Interesse an Geschichte, also an Nuance und Veränderung. Deshalb kann er unvermittelt zwischen Coens Soldateska von 1621, in der sich übrigens japanische Söldner durch besondere Brutalität hervortaten, zu rassistischen Mördern in den USA der Gegenwart springen. Denn die Ursache all dieser Schreckenstaten ist in seiner Sicht dieselbe.

Ghosh verstreut die negative Undialektik seiner düsteren Geschichtsphilosophie über zahlreiche Kapitel, die immer neu ansetzen. Sie sind bei einem literarischen Könner dieses Ranges abwechslungsreich geschrieben, führen jedoch immer wieder zu demselben Ergebnis: Die "herrschende Moderne" (official modernity) war und ist ein blutiger Irrweg. Sie begann um die Zeit des indonesischen Lonthor-Massakers in Europa als Sieg eines "mechanistischen" Denkens über ein älteres "vitalistisches" Weltbild. Der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561 - 1626) war ihr kaltherziger Prophet. Kein Wunder, dass zu seiner Zeit die Hexenverfolgung in Europa ihren ersten Höhepunkt erreichte. Das mechanistische Denken sah die Natur als passive Ressource, deren rücksichtslose Ausbeutung keiner Rechtfertigung bedurfte. Auch Menschen wurden wie Dinge behandelt.

Die größten Grausamkeiten wurden im nun beginnenden Kolonialismus begangen, der wiederum als "nachgeordneten Effekt" den mechanistisch-rational organisierten Kapitalismus hervorbrachte. Genozid und Ökozid gingen Hand in Hand. Ebenso waren physische und geistige Aggression Ausdruck derselben Entfremdung des europäischen Menschen von der Natur. Die Europäer wähnten sich als "Herrscher all dessen, auf das ihr Blick fiel". Die jetzt entstehende Wissenschaft degradierte die Welt zu einer Sammlung von Objekten. Überall brachten die Europäer seit dem siebzehnten Jahrhundert das widerständige Andere zum Schweigen, löschten unliebsamen "Sinn" aus - was andere "Entzauberung" genannt haben - und hinterließen eine Spur materieller Verwüstung. Am schlimmsten wüteten sie als Siedlungskolonialisten. Sogar "Omnizid" - die Vernichtung von allem - wurde nun denkmöglich. Wenn das herrschende Denken seines "mechanistischen" Charakters überdrüssig wurde, kippte es im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert schnell in "Ökofaschismus" um, eine Blut-und-Boden-Mystifizierung der Natur, die im Widerspruch zu einem wahren Vitalismus stand. Die Urheber des Ökofaschismus seien Ernst Moritz Arndt und Ernst Haeckel gewesen.

Ghosh zieht alle Register romantischer und neo-romantischer Zivilisations- und Modernekritik, ohne deren Motivkatalog oder Klischeesammlung Neues hinzuzufügen. Da er einen archaischen "Fluch" weiterwirken sieht, gibt er sich wenig Mühe, das Besondere der heutigen Lage zu verstehen. Deshalb sind seine Rezepte gegen die Megakrise des 21. Jahrhunderts ebenso gut gemeint wie begrenzt hilfreich. Die westliche Raub- und Unterdrückungshaltung gegenüber der Natur habe sich in der zeitgemäßen Gestalt des Konsumismus weit über den Westen hinaus verbreitet und werde heute "von der gesamten globalen Elite geteilt". Da hülfen nur Einkehr und Umkehr: eine Anerkennung der "Heiligkeit" der durch und durch belebten und in der Sprache der Katastrophen mit uns kommunizierenden Natur, Demut vor dem unterdrückten Wissen der Indigenen und überhaupt aller Nicht-Modernen sowie Aktivismus von unten.

Allein durch Gesinnungsstärke und ganz ohne moderne Wissenschaft und Technologie, denen Amitav Ghosh zutiefst misstraut, wird sich die Klimaerwärmung allerdings nicht aufhalten lassen. Beiläufig muss Ghosh auch einräumen, dass sich der rettende "Vitalismus", den er empfiehlt (Greta Thunberg als "archetypische Erlöserfigur", aber zu wissenschaftsgläubig!), nicht immer leicht von seinem sinistren Doppelgänger in der Naturmystifizierung, dem "Ökofaschismus", unterscheiden lässt.

Vielleicht wäre schon einiges gewonnen, wenn die konsumistischen globalen Eliten vor ihren nächsten Langstreckenflügen dieses Buch ins Handgepäck steckten. Sie werden nach der Lektüre nicht dauernd im Zustand moralischer Erschütterung verharren. Rationale Analyse und wissenschaftliche Aufklärung finden sie dann anderswo. JÜRGEN OSTERHAMMEL

Amitav Ghosh: "Der Fluch der Muskatnuss". Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 334 S., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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