Wenn man bei Roger, Scott und Randy dazugehören will, muss man cool sein. Trotzdem war es eine blöde Idee, der alten merkwürdigen Mrs Bayfield einen »Besuch« abzustatten. Ausgerechnet David bleibt nach der Attacke auf Mrs Bayfield als Letzter zurück. Und ausgerechnet ihm murmelt die alte Mrs Bayfield etwas hinterher, was sich anhört, wie ein Fluch. Er soll anscheinend dasselbe erleben, was die alte Dame, dank seiner Hilfe, durchmachen musste. Denn wie ist es sonst zu erklären, dass ihm neuerdings jeden Tag irgendwelche Peinlichkeiten passieren, die an die Geschehnisse bei Mrs Bayfield erinnern? Die Clique hatte dafür gesorgt, dass Mrs Bayfield aus dem Schaukelstuhl kippte - David kippt mitten im Unterricht vom Stuhl. Für einen Augenblick sah David Mrs Bayfields rot gerüschte Unterhose - David rutscht ausgerechnet vor Tori, mit der er gern zusammen wäre, die Hose herunter. Muss er jetzt mit der Tatsache leben, dass seine ehemaligen Freunde ihn schneiden, dass Mädchen über ihn kichern und dass sein kleiner Bruder sich seiner schämt? Immerhin halten Mo und Larry zu ihm. Und komischerweise Tori. Tori: Sie hat manchmal so ein irritierendes Lächeln um die Augen, wenn von der unheimlichen Mrs Bayfield die Rede ist. Er muss noch einmal mit Mrs Bayfield reden - und sich entschuldigen.
"Ein wunderbar skurriles, witziges Buch über Freundschaft, erste Liebe und den eigenen Platz in der Welt." -- Braunschweiger Zeitung
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.04.2002Der Schock der bösen Tat
„Der Fluch des David Ballinger”: Ein politisch korrektes Lehrstück für Kinder
David hat einen kleinen Bruder, Ricky, der ihn aus tiefstem Herzen bewundert. Und David hat einen Freund, Scott, der sich von einer Gruppe Jungen angezogen fühlt, die zu rüder Gewalt neigen und sich deshalb umso stärker fühlen, je mehr willfährige Anhänger sie gewinnen. David will Scott nicht verlieren und schließt sich der Gruppe an. Scotts neue Freunde aber spüren Davids Distanz und drängen ihn zur Mutprobe: eine alte Frau erschrecken und ihr den Stock rauben. Die alte Frau aber stürzt bei dem Raub und verflucht David: Er erwischt zwar die Krücke, ist aber nun „The Boy Who Lost His Face”, wie das Buch im Original heißt. Es handelt sich also nicht um den Fluch des David, sondern um den Fluch einer alten Frau, einer Künstlerin, die Masken modelliert. Und David, der im Schock der bösen Tat einen flüchtigen Blick auf diese Masken erhascht, glaubt wirklich, sein Gesicht zu verlieren und verhext zu sein.
So kann nur eine Geschichte beginnen, die eine Moral hat, und wenn es der Leser nicht gleich begreift, so sagen es ihm die weiteren Personen dieses Lehrstücks alle Naslang. Vor allem Davids kleiner Bruder, dessen blinde Bewunderung in so hellsichtige Verachtung umschlägt, dass es selbst die Eltern merken. Die zweite Stimme gehört einem Mädchen, der kleinen Mo, die so mutig wie David feige ist, und weil ein starkes Mädchen allein in dieser Jungengesellschaft nicht reicht, gesellt ihm der Autor noch die wahre Heldin bei, Tori. Sie macht David vor, wie man sich von Leuten trennt, die man als gemein und böse erkannt hat, mögen sie auch so mächtig und bewundert sein, wie sie wollen. Da David Tori natürlich liebt, verläuft der Rest nach den Regeln des Märchens: David erschlägt die Drachen der Feigheit und der Gewissenlosigkeit, kloppt sich also mit den Kerlen, entschuldigt sich bei der alten Frau und gewinnt die Königstochter. Und auch die Achtung des kleinen Bruders Ricky zurück.
Das ist so geschrieben, dass man sich trotz des Kuddelmuddels in Davids Seele und der retardierenden Zwischenfälle schon nach den ersten Sätzen alles ausrechnen kann. Ja, es ist gut und pädagogisch nur zu empfehlen, jugendlichen Lesern die Sache mit der Moral, dem Gewissen und der sittlichen Freiheit zu erklären. Aber man sollte sie vor Traktätchen bewahren, die so political correct sind, dass alle Personen der Handlungen nur noch Marionetten der unbestreitbar redlichen Grundeinstellung sind, moralische Kunstfiguren, berechnend eingesetzt.
So hat die Kinder- und Jugendliteratur nach 1948 wieder angefangen: das erstrebenswert Gute bestand damals in allem, was mit Demokratie zusammenhing. So unterlag beim jungen Deutschen Jugendbuchpreis Astrid Lindgrens Karlsson auf dem Dach dem Roman Das Rad auf der Schule von Meindert de Jong, einem p.c.-Roman über eine Dorfgemeinschaft, die sich nach dem üblichen Kuddelmuddel wunderbar demokratisch verhielt. Danach erst begann die große Zeit dieses Genres der Literatur. Haben Jugendbuchautoren unterdessen alles gesagt, was sie zu sagen hatten? Kehren wir zu den Anfängen zurück? (ab 12 Jahre)
SYBIL GRÄFIN
SCHÖNFELDT
LOUIS SACHAR: Der Fluch des David Ballinger. Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann. Hanser Verlag 2002. 184 Seiten, 12,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
„Der Fluch des David Ballinger”: Ein politisch korrektes Lehrstück für Kinder
David hat einen kleinen Bruder, Ricky, der ihn aus tiefstem Herzen bewundert. Und David hat einen Freund, Scott, der sich von einer Gruppe Jungen angezogen fühlt, die zu rüder Gewalt neigen und sich deshalb umso stärker fühlen, je mehr willfährige Anhänger sie gewinnen. David will Scott nicht verlieren und schließt sich der Gruppe an. Scotts neue Freunde aber spüren Davids Distanz und drängen ihn zur Mutprobe: eine alte Frau erschrecken und ihr den Stock rauben. Die alte Frau aber stürzt bei dem Raub und verflucht David: Er erwischt zwar die Krücke, ist aber nun „The Boy Who Lost His Face”, wie das Buch im Original heißt. Es handelt sich also nicht um den Fluch des David, sondern um den Fluch einer alten Frau, einer Künstlerin, die Masken modelliert. Und David, der im Schock der bösen Tat einen flüchtigen Blick auf diese Masken erhascht, glaubt wirklich, sein Gesicht zu verlieren und verhext zu sein.
So kann nur eine Geschichte beginnen, die eine Moral hat, und wenn es der Leser nicht gleich begreift, so sagen es ihm die weiteren Personen dieses Lehrstücks alle Naslang. Vor allem Davids kleiner Bruder, dessen blinde Bewunderung in so hellsichtige Verachtung umschlägt, dass es selbst die Eltern merken. Die zweite Stimme gehört einem Mädchen, der kleinen Mo, die so mutig wie David feige ist, und weil ein starkes Mädchen allein in dieser Jungengesellschaft nicht reicht, gesellt ihm der Autor noch die wahre Heldin bei, Tori. Sie macht David vor, wie man sich von Leuten trennt, die man als gemein und böse erkannt hat, mögen sie auch so mächtig und bewundert sein, wie sie wollen. Da David Tori natürlich liebt, verläuft der Rest nach den Regeln des Märchens: David erschlägt die Drachen der Feigheit und der Gewissenlosigkeit, kloppt sich also mit den Kerlen, entschuldigt sich bei der alten Frau und gewinnt die Königstochter. Und auch die Achtung des kleinen Bruders Ricky zurück.
Das ist so geschrieben, dass man sich trotz des Kuddelmuddels in Davids Seele und der retardierenden Zwischenfälle schon nach den ersten Sätzen alles ausrechnen kann. Ja, es ist gut und pädagogisch nur zu empfehlen, jugendlichen Lesern die Sache mit der Moral, dem Gewissen und der sittlichen Freiheit zu erklären. Aber man sollte sie vor Traktätchen bewahren, die so political correct sind, dass alle Personen der Handlungen nur noch Marionetten der unbestreitbar redlichen Grundeinstellung sind, moralische Kunstfiguren, berechnend eingesetzt.
So hat die Kinder- und Jugendliteratur nach 1948 wieder angefangen: das erstrebenswert Gute bestand damals in allem, was mit Demokratie zusammenhing. So unterlag beim jungen Deutschen Jugendbuchpreis Astrid Lindgrens Karlsson auf dem Dach dem Roman Das Rad auf der Schule von Meindert de Jong, einem p.c.-Roman über eine Dorfgemeinschaft, die sich nach dem üblichen Kuddelmuddel wunderbar demokratisch verhielt. Danach erst begann die große Zeit dieses Genres der Literatur. Haben Jugendbuchautoren unterdessen alles gesagt, was sie zu sagen hatten? Kehren wir zu den Anfängen zurück? (ab 12 Jahre)
SYBIL GRÄFIN
SCHÖNFELDT
LOUIS SACHAR: Der Fluch des David Ballinger. Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann. Hanser Verlag 2002. 184 Seiten, 12,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Unerbittliche Macht der Schuld
Louis Sachar auf der Spur des Doppelgängers
Seit dem Ödipus des Sophokles sorgt Schuld für die tragische Spannung in Theater und Literatur. Sie zerreißt den, der sich verstrickt in die eigene Tat. Da sie von innen kommt, entkommt ihr niemand. Gegen sie ist jedes Ungeheuer aus Pappe, denn die Schuld ist härter und gefährlicher als jede äußere Gefahr - eine Wahrheit, die Hollywood längst vergessen hat. Im Gesicht der Schuld erblickt der von ihr Verfolgte sein eigenes Antlitz. Die Schuld ist der Doppelgänger, den niemand treffen möchte. Auch Ödipus ahnte das. Als er zu sehen begann, verlor er mehr als sein Augenlicht.
Im Original heißt Louis Sachars neues Buch "The Boy Who Lost His Face". Der Titel trifft die Sache genau, denn die Geschichte handelt von einem Jungen, der sein Gesicht verliert. Das klingt nach Moral, nach sozialer Ausgrenzung, nach Stigma, doch es ist nichts als unerbittliche narrative Spannung. Sie erwächst aus der Schuld. Mit der Macht der Furien ergreift diese David Ballinger, den Jungen und Helden des Buches. Sie straft ihn für den einen, schweren Fehler, den er begangen hat. Denn zusammen mit Roger und Scott und Randy überfällt er die alte Mrs. Bayfield - nur zum Spaß. Was wie ein böser Streich begann, erweist sich bald als grausame Attacke: Die Jungen dringen in Mrs. Bayfields Garten ein, kippen die Dame aus dem Schaukelstuhl, gießen ihr Limonade über das Gesicht und stehlen ihren Gehstock. Und David ist dabei: "Er wollte ihr helfen oder ihr doch wenigstens sagen, dass es ihm Leid tat, aber er tat es nicht. Stattdessen zeigte er ihr den Stinkefinger."
Wäre Louis Sachar ein Therapeut, er schriebe sicher über das schlechte Gewissen als moralische Triebkraft. Als Autor jedoch geht er weit darüber hinaus und verleiht der Schuld die irritierenden Züge eines Fluches: "Dein Doppelgänger wird deine Seele heimsuchen!" ruft die alte Dame David zu, als sie hilflos am Boden liegt. Dann läuft der Junge davon, zurück auf die andere Seite des Gartenzauns, zurück in den Alltag, der einmal ihm gehörte. Doch gegen Fluch und Furien hilft keine Flucht.
Schon in seinem vielbeachteten Jugendroman "Löcher" hatte Sachar seinen Sinn für erzählerische Prägnanz bewiesen: Auch dort lastete ein Fluch auf dem Helden, Stanley Yelnats. Und auch dort, in der Wüste des Green Lake, gab es kein Entrinnen, sondern nur den Weg hindurch, bevor endlich Gerechtigkeit waltete. In "Der Fluch des David Ballinger" nun führt dieser Weg durch eine andere, schlimmere Ödnis, durch die Niederungen des Scheiterns. David, der Mitläufer, verliert sein Gesicht, denn plötzlich geht alles schief: In einer unheimlichen Verdoppelung der Leiden der Mrs. Bayfield kippen Stühle, zerbricht Glas, rutschen Hosen, fließt Saft über Gesichter. Und David zahlt den Preis, der üblich ist unter Heranwachsenden: Die, denen er gleichen will, verspotten ihn und stoßen ihn aus. Es ist wie im wirklichen Leben.
Und wie in der Wirklichkeit kommt auch hier keine Rettung von außen. Im Gegenteil: David erleidet das literarische Schicksal der Schuldigen. Er verheddert sich in den Fäden des bösen Fatums, in den Fallstricken der Schuld. Für die ethische und ästhetische Balance einer solchen, im besten Sinne moralischen Erzählung liegt die größte Gefahr in diesem Abstieg des Helden in die Folgen seiner Schuld. Ein Schritt zu weit, und alles wirkt überzogen, ein Schritt zu kurz, und nichts ist mehr glaubwürdig. Hier erweist sich Sachar als psychologisch subtiler Erzähler: Sorgfältig rekonstruiert er die inneren und die äußeren Welten des David Ballinger. Immer bleibt er dicht an seinem Protagonisten, spiegelt ihn aber zugleich in den Reaktionen der anderen Figuren. Das Schöne ist, daß auch diese durch und durch wirklich erscheinen. Die bemüht coolen Halbwüchsigen, der enttäuschte kleine Bruder, die sich häßlich wähnende Kameradin und der freundliche Aufschneider: keiner von ihnen ist ein Klischee, jedem gibt der Erzähler die Chance, ein eigenes Profil zu zeigen - im Guten wie im Schlechten.
Dieser liebenswürdige Umgang des Autors mit seinen Figuren wirkt nicht nur charmant, er ist auch der Hintergrund, vor dem ein ganz anderes Spannungselement in sein Recht tritt, die Liebe. David entdeckt Tori, und Tori entdeckt ihn. Aber von den ersten kurzen Blicken und scheuen Worten bis zur Ahnung eines ersten Kusses ist es ein weiter und schwerer Weg. Daß David ihn nur gehen kann, indem er seine Schuld durch Tapferkeit besiegt, liegt in der Logik der Geschichte. Bis zum Schluß hält Sachar diese beiden Bögen des Erzählens kunstvoll in einer elementaren Spannung aufeinander bezogen. Wie in einem guten Krimi wird der Kampf gegen die Schuld zum Kampf um die Liebe - bis hin zu einem klassischen Showdown. Was es aber mit dem Doppelgänger auf sich hat, weiß nur, wer das letzte, kurze Kapitel liest. In einer heiteren Wendung blickt dort das Buch über seinen eigenen Horizont und erfüllt jenes alte und einfache Gesetz der Komödie, daß dem Guten das Glück winkt. Und manchmal sogar ein Platz in der Geschichte.
HANS-JOACHIM NEUBAUER
Louis Sachar: "Der Fluch des David Ballinger". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgitt Kollmann. Carl Hanser Verlag, München 2002. 183 S., geb., 12,90. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Louis Sachar auf der Spur des Doppelgängers
Seit dem Ödipus des Sophokles sorgt Schuld für die tragische Spannung in Theater und Literatur. Sie zerreißt den, der sich verstrickt in die eigene Tat. Da sie von innen kommt, entkommt ihr niemand. Gegen sie ist jedes Ungeheuer aus Pappe, denn die Schuld ist härter und gefährlicher als jede äußere Gefahr - eine Wahrheit, die Hollywood längst vergessen hat. Im Gesicht der Schuld erblickt der von ihr Verfolgte sein eigenes Antlitz. Die Schuld ist der Doppelgänger, den niemand treffen möchte. Auch Ödipus ahnte das. Als er zu sehen begann, verlor er mehr als sein Augenlicht.
Im Original heißt Louis Sachars neues Buch "The Boy Who Lost His Face". Der Titel trifft die Sache genau, denn die Geschichte handelt von einem Jungen, der sein Gesicht verliert. Das klingt nach Moral, nach sozialer Ausgrenzung, nach Stigma, doch es ist nichts als unerbittliche narrative Spannung. Sie erwächst aus der Schuld. Mit der Macht der Furien ergreift diese David Ballinger, den Jungen und Helden des Buches. Sie straft ihn für den einen, schweren Fehler, den er begangen hat. Denn zusammen mit Roger und Scott und Randy überfällt er die alte Mrs. Bayfield - nur zum Spaß. Was wie ein böser Streich begann, erweist sich bald als grausame Attacke: Die Jungen dringen in Mrs. Bayfields Garten ein, kippen die Dame aus dem Schaukelstuhl, gießen ihr Limonade über das Gesicht und stehlen ihren Gehstock. Und David ist dabei: "Er wollte ihr helfen oder ihr doch wenigstens sagen, dass es ihm Leid tat, aber er tat es nicht. Stattdessen zeigte er ihr den Stinkefinger."
Wäre Louis Sachar ein Therapeut, er schriebe sicher über das schlechte Gewissen als moralische Triebkraft. Als Autor jedoch geht er weit darüber hinaus und verleiht der Schuld die irritierenden Züge eines Fluches: "Dein Doppelgänger wird deine Seele heimsuchen!" ruft die alte Dame David zu, als sie hilflos am Boden liegt. Dann läuft der Junge davon, zurück auf die andere Seite des Gartenzauns, zurück in den Alltag, der einmal ihm gehörte. Doch gegen Fluch und Furien hilft keine Flucht.
Schon in seinem vielbeachteten Jugendroman "Löcher" hatte Sachar seinen Sinn für erzählerische Prägnanz bewiesen: Auch dort lastete ein Fluch auf dem Helden, Stanley Yelnats. Und auch dort, in der Wüste des Green Lake, gab es kein Entrinnen, sondern nur den Weg hindurch, bevor endlich Gerechtigkeit waltete. In "Der Fluch des David Ballinger" nun führt dieser Weg durch eine andere, schlimmere Ödnis, durch die Niederungen des Scheiterns. David, der Mitläufer, verliert sein Gesicht, denn plötzlich geht alles schief: In einer unheimlichen Verdoppelung der Leiden der Mrs. Bayfield kippen Stühle, zerbricht Glas, rutschen Hosen, fließt Saft über Gesichter. Und David zahlt den Preis, der üblich ist unter Heranwachsenden: Die, denen er gleichen will, verspotten ihn und stoßen ihn aus. Es ist wie im wirklichen Leben.
Und wie in der Wirklichkeit kommt auch hier keine Rettung von außen. Im Gegenteil: David erleidet das literarische Schicksal der Schuldigen. Er verheddert sich in den Fäden des bösen Fatums, in den Fallstricken der Schuld. Für die ethische und ästhetische Balance einer solchen, im besten Sinne moralischen Erzählung liegt die größte Gefahr in diesem Abstieg des Helden in die Folgen seiner Schuld. Ein Schritt zu weit, und alles wirkt überzogen, ein Schritt zu kurz, und nichts ist mehr glaubwürdig. Hier erweist sich Sachar als psychologisch subtiler Erzähler: Sorgfältig rekonstruiert er die inneren und die äußeren Welten des David Ballinger. Immer bleibt er dicht an seinem Protagonisten, spiegelt ihn aber zugleich in den Reaktionen der anderen Figuren. Das Schöne ist, daß auch diese durch und durch wirklich erscheinen. Die bemüht coolen Halbwüchsigen, der enttäuschte kleine Bruder, die sich häßlich wähnende Kameradin und der freundliche Aufschneider: keiner von ihnen ist ein Klischee, jedem gibt der Erzähler die Chance, ein eigenes Profil zu zeigen - im Guten wie im Schlechten.
Dieser liebenswürdige Umgang des Autors mit seinen Figuren wirkt nicht nur charmant, er ist auch der Hintergrund, vor dem ein ganz anderes Spannungselement in sein Recht tritt, die Liebe. David entdeckt Tori, und Tori entdeckt ihn. Aber von den ersten kurzen Blicken und scheuen Worten bis zur Ahnung eines ersten Kusses ist es ein weiter und schwerer Weg. Daß David ihn nur gehen kann, indem er seine Schuld durch Tapferkeit besiegt, liegt in der Logik der Geschichte. Bis zum Schluß hält Sachar diese beiden Bögen des Erzählens kunstvoll in einer elementaren Spannung aufeinander bezogen. Wie in einem guten Krimi wird der Kampf gegen die Schuld zum Kampf um die Liebe - bis hin zu einem klassischen Showdown. Was es aber mit dem Doppelgänger auf sich hat, weiß nur, wer das letzte, kurze Kapitel liest. In einer heiteren Wendung blickt dort das Buch über seinen eigenen Horizont und erfüllt jenes alte und einfache Gesetz der Komödie, daß dem Guten das Glück winkt. Und manchmal sogar ein Platz in der Geschichte.
HANS-JOACHIM NEUBAUER
Louis Sachar: "Der Fluch des David Ballinger". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgitt Kollmann. Carl Hanser Verlag, München 2002. 183 S., geb., 12,90
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main