Wer erwartet, Genaueres über den Mordfall zu lesen oder denkt, dass Carlotto nur mit der italienischen Justiz abrechnen will, liegt falsch. Stattdessen erfährt man von seinem jahrelangen Untertauchen, der Angst vor Verfolgung, daraus resultierender Panik, Todesangst, schweren gesundheitlichen
Folgen.
Unsentimental, nüchtern u. gleichförmig distanziert berichtet der Autor davon. Dennoch werden…mehrWer erwartet, Genaueres über den Mordfall zu lesen oder denkt, dass Carlotto nur mit der italienischen Justiz abrechnen will, liegt falsch. Stattdessen erfährt man von seinem jahrelangen Untertauchen, der Angst vor Verfolgung, daraus resultierender Panik, Todesangst, schweren gesundheitlichen Folgen.
Unsentimental, nüchtern u. gleichförmig distanziert berichtet der Autor davon. Dennoch werden Verzweiflung u. Verfolgungswahn deutlich, fordern zunehmend Raum. Obwohl er mit falscher Identität leben kann u. dabei durchaus kein vollkommen isoliertes Dasein in einem abgeschlossenen Raum fristet, befindet er sich doch in keiner Gemeinschaft, fühlt sich alleine. Keiner kann den Druck abfedern, der auf ihm lastet u. der plötzlichen Entwurzelung geschuldet ist. Der durch falsche Identitäten u. das Fehlen eines sicheren sozialen Milieus wächst. Die Angst vor Entdeckung führt ihn von Paris nach Mexico. Was zunächst noch recht gut funktioniert, kann in Mexico nicht gut gehen. So wird nicht nur der Kontakt zu seiner Familie zunehmend unmöglich. Zu katastrophal ist auch das Leben dort. Dennoch überlegt Carlotto, die mex. Staatsbürgerschaft anzunehmen. Er vertraut sich dem Falschen an. Der nimmt ihn nicht nur nach Strich u. Faden aus, sondern verrät ihn zudem an die dortigen Behörden. Carlotto wird nach Italien abgeschoben.
Paranoia entsteht, wenn wir uns verfolgt fühlen. Es ist keine Paranoia mehr, wenn wir denn tatsächlich verfolgt werden u. so scheint der Begriff im Bezug auf Carlotto eindeutig falsch gewählt. Doch ohne dass er etwas ahnt, ist der Haftbefehl gegen verloren gegangen. Niemand sucht nach ihm. Er wird festgenommen, weil er sich bei der Ankunft in Italien selbst stellt. Es folgen nervenaufreibende Jahre. Carlotto droht zwischen den Mühlrädern der Justiz zerrieben zu werden. Hängt hoffnungslos zwischen Verfahren, Urteilen, Gefängnis u. Haftverschonung. All das ruiniert zunehmend seine Gesundheit, lässt Suizidgedanken in ihm aufkeimen. Erst ein Gesuch seiner Eltern sorgt für seine Begnadigung, nachdem die italienische Gerichtsbarkeit auch auf zunehmenden öffentlichen, teils internationalen Druck nicht bereit war, einzulenken.
Die gefühlsmäßigen Folgen der Flucht, des Untertauchens, der Prozesse u. der Gefängnisaufenthalte stehen im Vordergrund. Zwar wird sehr deutlich, wie die Justiz gegen rechtsstaatliche Denkweisen verstößt. Doch noch viel klarer kristallisieren sich die Folgen aus der eigentlich an sich unspektakulären Tatsache heraus, dass der Autor zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die daraus entstehende alltägliche u. sich über viele Jahre hinziehende Tortur füllt die Seiten des 184 Seiten starken Hardcoverbuches sehr nachdrücklich. Bildhaft u. erschütternd lässt Carlotto seine LeserInnen daran teilhaben, hebt das Unerträgliche daran gerade durch seinen distanzierten Sprachstil hervor.
Obwohl flüssig geschrieben, lässt sich Der Flüchtling nicht einfach so nebenbei lesen. Dazu erschüttert die Thematik zu sehr. Wer leicht verdauliche, vorwiegend unterhaltsame Mainstream-Geschichten mag, sollte die Finger von diesem Buch lassen. Was davon der Fantasie des Autors oder der von ihm erlebten Realität geschuldet ist, weiß vermutlich nur er selbst. Mit Der Flüchtling hat er jedoch einen autobiografischen Roman geschaffen, der auch nach Beendigung der Lektüre für ein überaus unangenehmes Gefühl sorgt, den man nicht so einfach vergisst. Deshalb möchte ich dem Roman fünf von fünf Punkten geben.