Ein Spaziergang durch die Physik: Giorgio Parisi, der Physik-Nobelpreisträger 2021, nimmt uns mit auf eine Reise in die Welt der komplexen Systeme und erzählt von der Suche nach Antworten auf bisher ungelöste Fragen.
Wie lässt sich das atemberaubende Naturschauspiel des Starenfluges mit den Mitteln der Physik erklären? Der theoretische Physiker Giorgio Parisi beschäftigt sich mit den Interaktionsregeln, die den spektakulären Flugmanövern zugrunde liegen. Für seine Forschung zu komplexen Systemen hat er 2021 den Nobelpreis für Physik erhalten, »für die Entdeckung des Zusammenspiels von Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von der atomaren bis hin zur planetarischen Ebene«.
In seinem Buch »Der Flug der Stare« erklärt er, was es mit komplexen Systemen, Spin-Gläsern und Phasenübergängen auf sich hat und gibt spannende Einblicke in sein Leben als Wissenschaftler. Klug und elegant erzählt er, wie Ideen entstehen und welche Rolle Intuition und Kreativität dabei spielen. Parisi zeigt, wie Forschung funktioniert und welche Bedeutung der Wissenschaft in unserer Gesellschaft zukommt. Ein eindrucksvoller und persönlicher Einblick in Welt der Physik und den Kopf eines Genies.
»Der Nobelpreis für Giorgio Parisi ehrt einen außergewöhnlichen Wissenschaftler und bestätigt das hohe Niveau der italienischen Schule der theoretischen Physik.« Carlo Rovelli
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Wie lässt sich das atemberaubende Naturschauspiel des Starenfluges mit den Mitteln der Physik erklären? Der theoretische Physiker Giorgio Parisi beschäftigt sich mit den Interaktionsregeln, die den spektakulären Flugmanövern zugrunde liegen. Für seine Forschung zu komplexen Systemen hat er 2021 den Nobelpreis für Physik erhalten, »für die Entdeckung des Zusammenspiels von Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von der atomaren bis hin zur planetarischen Ebene«.
In seinem Buch »Der Flug der Stare« erklärt er, was es mit komplexen Systemen, Spin-Gläsern und Phasenübergängen auf sich hat und gibt spannende Einblicke in sein Leben als Wissenschaftler. Klug und elegant erzählt er, wie Ideen entstehen und welche Rolle Intuition und Kreativität dabei spielen. Parisi zeigt, wie Forschung funktioniert und welche Bedeutung der Wissenschaft in unserer Gesellschaft zukommt. Ein eindrucksvoller und persönlicher Einblick in Welt der Physik und den Kopf eines Genies.
»Der Nobelpreis für Giorgio Parisi ehrt einen außergewöhnlichen Wissenschaftler und bestätigt das hohe Niveau der italienischen Schule der theoretischen Physik.« Carlo Rovelli
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Strukturen im Blick
Zuerst die mathematischen Modelle: Bei Giorgio Parisi kann man viel über einige Verfahrensweisen der Physik lernen.
Von Sibylle Anderl
Wer die Physik als angewandte Mathematik sieht, der denkt die Welt andersherum. Der wird nicht die Vielfalt der Phänomene sehen und daraus allgemeine Gesetze ableiten, die die Phänomene zu beschreiben vermögen. Er wird vielmehr von den mathematischen Objekten aus auf die Welt schauen und diese abstrakten Konzepte dort in verschiedenster Weise verkörpert sehen. Ein schaukelndes Kind und ein schwingendes Kristallgitter werden so zu eng verwandten Mitgliedern einer Familie, genau wie ein im Wind wiegendes Weizenfeld und eine Meeresoberfläche - oder auch ein über Rom kreisender Schwarm von Staren und die Eigendrehimpulse in einem magnetischen Material.
Der italienische Physiker Giorgio Parisi, der 2021 den Nobelpreis für Physik erhielt, gehört zu diesen Wissenschaftlern, die ihre Forschung nicht ausgehend von disziplinär umgrenzten Untersuchungsobjekten, sondern von einer dahinter stehenden Ordnung aus begreifen. Auch in der Formulierung des Nobelpreiskomitees ist das zu erkennen: Parisi werde geehrt "für die Entdeckung des Zusammenspiels von Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von atomaren bis zu planetaren Skalen" - vom sehr Kleinen bis zum sehr Großen also. Er erzielte seine bekanntesten Ergebnisse zwar in der Beschreibung der sogenannten Spin-Gläser. Dass diese Spin-Gläser aber weder anfänglich noch durchgehend alleiniges Objekt seiner Neugier waren, erläutert er nun in einem schlanken Buch, das in acht Kapiteln eine Zusammenstellung von thematisch eher lose zusammenhängenden Aufsätzen im Umfeld seiner Nobelpreisforschung enthält.
Ausgangspunkt ist dort die Schilderung seiner Forschung zur Schwarmbewegung von Staren. Deren Flugformationen, die atemberaubende Muster in den Himmel zeichnen, entstehen allein dadurch, dass jeder Star seine Bewegung an derjenigen seiner Nachbarn orientiert. Die individuell ihre Flugbahn wählenden Vögel werden so zu etwas Größerem, zu kollektiv Agierenden. Dass in Systemen, die aus einer großen Anzahl von interagierenden Akteuren bestehen, Muster und veränderliche Eigenschaften auf größeren Skalen auftreten können, ist ein Phänomen, das sich auch im Mikroskopischen findet: Wenn Wasser gefriert etwa oder wenn sich die elementaren Magnetfelder der Teilchen in einem Material untereinander so ausrichten, dass es zu einem makroskopischen Magneten wird. Unordnung geht dann in einen Zustand der Ordnung über. Die Akteure entwickeln ein kollektives Verhalten.
In Spin-Gläsern, die Parisi in den Achtzigerjahren erforschte, ist dieser Übergang sehr viel komplexer. Spin-Gläser sind Metalllegierungen, die sich bei niedrigen Temperaturen nicht mehr wie normale magnetische Systeme verhalten, sondern Glas oder Wachs ähneln. Der Grund ist, dass unter den mikroskopischen Akteuren widersprüchliche Tendenzen für eine kollektive Ausrichtung herrschen. Einige der Akteure wollen sich anders verhalten als der Rest, und das erzeugt Unordnung. Das System erreicht aus diesem Grund kein einheitliches stabiles Gleichgewicht, sondern befindet sich in zahllosen verschiedenen Zuständen, die sich nur langsam über Jahre oder gar Jahrhunderte in Richtung des Gleichgewichts verändern. Die zeitliche Dimension kann daher in der Beschreibung dieser Systeme genauso wenig ignoriert werden wie auftretende Fluktuationen.
Parisi war zu diesem Thema zufällig gelangt, als er sich zur Lösung eines Problems der Elementarteilchenphysik eine mathematische Technik aneignen wollte, die zuvor erfolglos bei der Beschreibung von Spin-Gläsern eingesetzt worden war. Sein Versuch, dort das Scheitern des Formalismus nachzuvollziehen, brachte ihn auf eine neue mathematische Beschreibung der Spin-Gläser, deren physikalische Interpretation ihm zunächst aber vollkommen unklar blieb. Erst langsam fanden Modell und Phänomen zusammen, und er verstand, was die mathematische Lösung über das Beschriebene überhaupt aussagte.
Parisis Buch demonstriert, dass man aus dieser Episode vieles lernen kann über die Funktionsweisen der Physik. Über den Einsatz von Modellen etwa, die unter Auslassung vieler Details zwischen den Phänomenen und der abstrakten Theorie vermitteln. Und auch - das ist wohl eine der interessantesten von Parisis Überlegungen - über die fundamentale Wichtigkeit der Intuition sowohl in der Mathematik als auch in der Physik: In beiden Gebieten besitzen erfolgreiche Wissenschaftler ein Gespür für die Gültigkeit von Beweisen, Herleitungen, Vereinfachungen und erlaubten Übertragungen. An dieser Stelle wird auch deutlich, warum der jeweilige kulturelle und gesellschaftliche Kontext der Forschung so wichtig ist, wenn man die Entwicklung der Wissenschaften verstehen will, denn der findet Eingang in genau solche Intuition und bestimmt die Entstehung neuer Ideen.
Wer solch eine Intuition besitzt, der ist in der Lage, wie Parisi über disziplinäre Grenzen hinaus zu denken und Strukturen zu sehen, die Biologie, Physik und Informatik verbinden. Dass dies eine Fähigkeit ist, die in unserer heutigen hoch spezialisierten Forschungswelt nicht unbedingt leicht zu praktizieren ist, demonstriert ein ebenfalls anlässlich der Nobelpreisehrung von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichtes Zitat des britischen Physik-Nobelpreisträgers David Thouless: "Mein Eindruck ist, dass die Spin-Glas-Experten wie Siedler auf fremdem Gebiet sind. Sie können interessante Beobachtungen beitragen, aber sie haben nicht gelernt, wie sie mit den früheren Siedlern kommunizieren können." Insbesondere würden sie in ihren Studien Vorarbeiten der entsprechenden Fachwissenschaftler weitgehend ignorieren, so Thouless weiter.
Diese Kritik könnte man durch das Buch bestätigt sehen, denn anders als der Titel suggeriert, lernt man in ihm sehr wenig über Stare und insbesondere praktisch nichts über deren Biologie. Doch selbst über Spin-Gläser erfährt man relativ wenig. Für Parisi sind die allgemeineren mathematischen Muster und Zusammenhänge das eigentlich Relevante und darüber hinaus das, was man aus ihnen und ihrer Ableitung wiederum für ein Verständnis der Funktionsweisen der Wissenschaft gewinnen kann. Für alle, die dieses Interesse teilen und sich nicht vom Titel zu falschen Erwartungen verleiten lassen, ist sein Buch eine äußerst inspirierende Lektüre.
Giorgio Parisi: "Der Flug der Stare". Das Wunder komplexer Systeme.
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 144 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zuerst die mathematischen Modelle: Bei Giorgio Parisi kann man viel über einige Verfahrensweisen der Physik lernen.
Von Sibylle Anderl
Wer die Physik als angewandte Mathematik sieht, der denkt die Welt andersherum. Der wird nicht die Vielfalt der Phänomene sehen und daraus allgemeine Gesetze ableiten, die die Phänomene zu beschreiben vermögen. Er wird vielmehr von den mathematischen Objekten aus auf die Welt schauen und diese abstrakten Konzepte dort in verschiedenster Weise verkörpert sehen. Ein schaukelndes Kind und ein schwingendes Kristallgitter werden so zu eng verwandten Mitgliedern einer Familie, genau wie ein im Wind wiegendes Weizenfeld und eine Meeresoberfläche - oder auch ein über Rom kreisender Schwarm von Staren und die Eigendrehimpulse in einem magnetischen Material.
Der italienische Physiker Giorgio Parisi, der 2021 den Nobelpreis für Physik erhielt, gehört zu diesen Wissenschaftlern, die ihre Forschung nicht ausgehend von disziplinär umgrenzten Untersuchungsobjekten, sondern von einer dahinter stehenden Ordnung aus begreifen. Auch in der Formulierung des Nobelpreiskomitees ist das zu erkennen: Parisi werde geehrt "für die Entdeckung des Zusammenspiels von Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von atomaren bis zu planetaren Skalen" - vom sehr Kleinen bis zum sehr Großen also. Er erzielte seine bekanntesten Ergebnisse zwar in der Beschreibung der sogenannten Spin-Gläser. Dass diese Spin-Gläser aber weder anfänglich noch durchgehend alleiniges Objekt seiner Neugier waren, erläutert er nun in einem schlanken Buch, das in acht Kapiteln eine Zusammenstellung von thematisch eher lose zusammenhängenden Aufsätzen im Umfeld seiner Nobelpreisforschung enthält.
Ausgangspunkt ist dort die Schilderung seiner Forschung zur Schwarmbewegung von Staren. Deren Flugformationen, die atemberaubende Muster in den Himmel zeichnen, entstehen allein dadurch, dass jeder Star seine Bewegung an derjenigen seiner Nachbarn orientiert. Die individuell ihre Flugbahn wählenden Vögel werden so zu etwas Größerem, zu kollektiv Agierenden. Dass in Systemen, die aus einer großen Anzahl von interagierenden Akteuren bestehen, Muster und veränderliche Eigenschaften auf größeren Skalen auftreten können, ist ein Phänomen, das sich auch im Mikroskopischen findet: Wenn Wasser gefriert etwa oder wenn sich die elementaren Magnetfelder der Teilchen in einem Material untereinander so ausrichten, dass es zu einem makroskopischen Magneten wird. Unordnung geht dann in einen Zustand der Ordnung über. Die Akteure entwickeln ein kollektives Verhalten.
In Spin-Gläsern, die Parisi in den Achtzigerjahren erforschte, ist dieser Übergang sehr viel komplexer. Spin-Gläser sind Metalllegierungen, die sich bei niedrigen Temperaturen nicht mehr wie normale magnetische Systeme verhalten, sondern Glas oder Wachs ähneln. Der Grund ist, dass unter den mikroskopischen Akteuren widersprüchliche Tendenzen für eine kollektive Ausrichtung herrschen. Einige der Akteure wollen sich anders verhalten als der Rest, und das erzeugt Unordnung. Das System erreicht aus diesem Grund kein einheitliches stabiles Gleichgewicht, sondern befindet sich in zahllosen verschiedenen Zuständen, die sich nur langsam über Jahre oder gar Jahrhunderte in Richtung des Gleichgewichts verändern. Die zeitliche Dimension kann daher in der Beschreibung dieser Systeme genauso wenig ignoriert werden wie auftretende Fluktuationen.
Parisi war zu diesem Thema zufällig gelangt, als er sich zur Lösung eines Problems der Elementarteilchenphysik eine mathematische Technik aneignen wollte, die zuvor erfolglos bei der Beschreibung von Spin-Gläsern eingesetzt worden war. Sein Versuch, dort das Scheitern des Formalismus nachzuvollziehen, brachte ihn auf eine neue mathematische Beschreibung der Spin-Gläser, deren physikalische Interpretation ihm zunächst aber vollkommen unklar blieb. Erst langsam fanden Modell und Phänomen zusammen, und er verstand, was die mathematische Lösung über das Beschriebene überhaupt aussagte.
Parisis Buch demonstriert, dass man aus dieser Episode vieles lernen kann über die Funktionsweisen der Physik. Über den Einsatz von Modellen etwa, die unter Auslassung vieler Details zwischen den Phänomenen und der abstrakten Theorie vermitteln. Und auch - das ist wohl eine der interessantesten von Parisis Überlegungen - über die fundamentale Wichtigkeit der Intuition sowohl in der Mathematik als auch in der Physik: In beiden Gebieten besitzen erfolgreiche Wissenschaftler ein Gespür für die Gültigkeit von Beweisen, Herleitungen, Vereinfachungen und erlaubten Übertragungen. An dieser Stelle wird auch deutlich, warum der jeweilige kulturelle und gesellschaftliche Kontext der Forschung so wichtig ist, wenn man die Entwicklung der Wissenschaften verstehen will, denn der findet Eingang in genau solche Intuition und bestimmt die Entstehung neuer Ideen.
Wer solch eine Intuition besitzt, der ist in der Lage, wie Parisi über disziplinäre Grenzen hinaus zu denken und Strukturen zu sehen, die Biologie, Physik und Informatik verbinden. Dass dies eine Fähigkeit ist, die in unserer heutigen hoch spezialisierten Forschungswelt nicht unbedingt leicht zu praktizieren ist, demonstriert ein ebenfalls anlässlich der Nobelpreisehrung von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichtes Zitat des britischen Physik-Nobelpreisträgers David Thouless: "Mein Eindruck ist, dass die Spin-Glas-Experten wie Siedler auf fremdem Gebiet sind. Sie können interessante Beobachtungen beitragen, aber sie haben nicht gelernt, wie sie mit den früheren Siedlern kommunizieren können." Insbesondere würden sie in ihren Studien Vorarbeiten der entsprechenden Fachwissenschaftler weitgehend ignorieren, so Thouless weiter.
Diese Kritik könnte man durch das Buch bestätigt sehen, denn anders als der Titel suggeriert, lernt man in ihm sehr wenig über Stare und insbesondere praktisch nichts über deren Biologie. Doch selbst über Spin-Gläser erfährt man relativ wenig. Für Parisi sind die allgemeineren mathematischen Muster und Zusammenhänge das eigentlich Relevante und darüber hinaus das, was man aus ihnen und ihrer Ableitung wiederum für ein Verständnis der Funktionsweisen der Wissenschaft gewinnen kann. Für alle, die dieses Interesse teilen und sich nicht vom Titel zu falschen Erwartungen verleiten lassen, ist sein Buch eine äußerst inspirierende Lektüre.
Giorgio Parisi: "Der Flug der Stare". Das Wunder komplexer Systeme.
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 144 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Strukturen im Blick
Zuerst die mathematischen Modelle: Bei Giorgio Parisi kann man viel über einige Verfahrensweisen der Physik lernen.
Von Sibylle Anderl
Wer die Physik als angewandte Mathematik sieht, der denkt die Welt andersherum. Der wird nicht die Vielfalt der Phänomene sehen und daraus allgemeine Gesetze ableiten, die die Phänomene zu beschreiben vermögen. Er wird vielmehr von den mathematischen Objekten aus auf die Welt schauen und diese abstrakten Konzepte dort in verschiedenster Weise verkörpert sehen. Ein schaukelndes Kind und ein schwingendes Kristallgitter werden so zu eng verwandten Mitgliedern einer Familie, genau wie ein im Wind wiegendes Weizenfeld und eine Meeresoberfläche - oder auch ein über Rom kreisender Schwarm von Staren und die Eigendrehimpulse in einem magnetischen Material.
Der italienische Physiker Giorgio Parisi, der 2021 den Nobelpreis für Physik erhielt, gehört zu diesen Wissenschaftlern, die ihre Forschung nicht ausgehend von disziplinär umgrenzten Untersuchungsobjekten, sondern von einer dahinter stehenden Ordnung aus begreifen. Auch in der Formulierung des Nobelpreiskomitees ist das zu erkennen: Parisi werde geehrt "für die Entdeckung des Zusammenspiels von Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von atomaren bis zu planetaren Skalen" - vom sehr Kleinen bis zum sehr Großen also. Er erzielte seine bekanntesten Ergebnisse zwar in der Beschreibung der sogenannten Spin-Gläser. Dass diese Spin-Gläser aber weder anfänglich noch durchgehend alleiniges Objekt seiner Neugier waren, erläutert er nun in einem schlanken Buch, das in acht Kapiteln eine Zusammenstellung von thematisch eher lose zusammenhängenden Aufsätzen im Umfeld seiner Nobelpreisforschung enthält.
Ausgangspunkt ist dort die Schilderung seiner Forschung zur Schwarmbewegung von Staren. Deren Flugformationen, die atemberaubende Muster in den Himmel zeichnen, entstehen allein dadurch, dass jeder Star seine Bewegung an derjenigen seiner Nachbarn orientiert. Die individuell ihre Flugbahn wählenden Vögel werden so zu etwas Größerem, zu kollektiv Agierenden. Dass in Systemen, die aus einer großen Anzahl von interagierenden Akteuren bestehen, Muster und veränderliche Eigenschaften auf größeren Skalen auftreten können, ist ein Phänomen, das sich auch im Mikroskopischen findet: Wenn Wasser gefriert etwa oder wenn sich die elementaren Magnetfelder der Teilchen in einem Material untereinander so ausrichten, dass es zu einem makroskopischen Magneten wird. Unordnung geht dann in einen Zustand der Ordnung über. Die Akteure entwickeln ein kollektives Verhalten.
In Spin-Gläsern, die Parisi in den Achtzigerjahren erforschte, ist dieser Übergang sehr viel komplexer. Spin-Gläser sind Metalllegierungen, die sich bei niedrigen Temperaturen nicht mehr wie normale magnetische Systeme verhalten, sondern Glas oder Wachs ähneln. Der Grund ist, dass unter den mikroskopischen Akteuren widersprüchliche Tendenzen für eine kollektive Ausrichtung herrschen. Einige der Akteure wollen sich anders verhalten als der Rest, und das erzeugt Unordnung. Das System erreicht aus diesem Grund kein einheitliches stabiles Gleichgewicht, sondern befindet sich in zahllosen verschiedenen Zuständen, die sich nur langsam über Jahre oder gar Jahrhunderte in Richtung des Gleichgewichts verändern. Die zeitliche Dimension kann daher in der Beschreibung dieser Systeme genauso wenig ignoriert werden wie auftretende Fluktuationen.
Parisi war zu diesem Thema zufällig gelangt, als er sich zur Lösung eines Problems der Elementarteilchenphysik eine mathematische Technik aneignen wollte, die zuvor erfolglos bei der Beschreibung von Spin-Gläsern eingesetzt worden war. Sein Versuch, dort das Scheitern des Formalismus nachzuvollziehen, brachte ihn auf eine neue mathematische Beschreibung der Spin-Gläser, deren physikalische Interpretation ihm zunächst aber vollkommen unklar blieb. Erst langsam fanden Modell und Phänomen zusammen, und er verstand, was die mathematische Lösung über das Beschriebene überhaupt aussagte.
Parisis Buch demonstriert, dass man aus dieser Episode vieles lernen kann über die Funktionsweisen der Physik. Über den Einsatz von Modellen etwa, die unter Auslassung vieler Details zwischen den Phänomenen und der abstrakten Theorie vermitteln. Und auch - das ist wohl eine der interessantesten von Parisis Überlegungen - über die fundamentale Wichtigkeit der Intuition sowohl in der Mathematik als auch in der Physik: In beiden Gebieten besitzen erfolgreiche Wissenschaftler ein Gespür für die Gültigkeit von Beweisen, Herleitungen, Vereinfachungen und erlaubten Übertragungen. An dieser Stelle wird auch deutlich, warum der jeweilige kulturelle und gesellschaftliche Kontext der Forschung so wichtig ist, wenn man die Entwicklung der Wissenschaften verstehen will, denn der findet Eingang in genau solche Intuition und bestimmt die Entstehung neuer Ideen.
Wer solch eine Intuition besitzt, der ist in der Lage, wie Parisi über disziplinäre Grenzen hinaus zu denken und Strukturen zu sehen, die Biologie, Physik und Informatik verbinden. Dass dies eine Fähigkeit ist, die in unserer heutigen hoch spezialisierten Forschungswelt nicht unbedingt leicht zu praktizieren ist, demonstriert ein ebenfalls anlässlich der Nobelpreisehrung von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichtes Zitat des britischen Physik-Nobelpreisträgers David Thouless: "Mein Eindruck ist, dass die Spin-Glas-Experten wie Siedler auf fremdem Gebiet sind. Sie können interessante Beobachtungen beitragen, aber sie haben nicht gelernt, wie sie mit den früheren Siedlern kommunizieren können." Insbesondere würden sie in ihren Studien Vorarbeiten der entsprechenden Fachwissenschaftler weitgehend ignorieren, so Thouless weiter.
Diese Kritik könnte man durch das Buch bestätigt sehen, denn anders als der Titel suggeriert, lernt man in ihm sehr wenig über Stare und insbesondere praktisch nichts über deren Biologie. Doch selbst über Spin-Gläser erfährt man relativ wenig. Für Parisi sind die allgemeineren mathematischen Muster und Zusammenhänge das eigentlich Relevante und darüber hinaus das, was man aus ihnen und ihrer Ableitung wiederum für ein Verständnis der Funktionsweisen der Wissenschaft gewinnen kann. Für alle, die dieses Interesse teilen und sich nicht vom Titel zu falschen Erwartungen verleiten lassen, ist sein Buch eine äußerst inspirierende Lektüre.
Giorgio Parisi: "Der Flug der Stare". Das Wunder komplexer Systeme.
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 144 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zuerst die mathematischen Modelle: Bei Giorgio Parisi kann man viel über einige Verfahrensweisen der Physik lernen.
Von Sibylle Anderl
Wer die Physik als angewandte Mathematik sieht, der denkt die Welt andersherum. Der wird nicht die Vielfalt der Phänomene sehen und daraus allgemeine Gesetze ableiten, die die Phänomene zu beschreiben vermögen. Er wird vielmehr von den mathematischen Objekten aus auf die Welt schauen und diese abstrakten Konzepte dort in verschiedenster Weise verkörpert sehen. Ein schaukelndes Kind und ein schwingendes Kristallgitter werden so zu eng verwandten Mitgliedern einer Familie, genau wie ein im Wind wiegendes Weizenfeld und eine Meeresoberfläche - oder auch ein über Rom kreisender Schwarm von Staren und die Eigendrehimpulse in einem magnetischen Material.
Der italienische Physiker Giorgio Parisi, der 2021 den Nobelpreis für Physik erhielt, gehört zu diesen Wissenschaftlern, die ihre Forschung nicht ausgehend von disziplinär umgrenzten Untersuchungsobjekten, sondern von einer dahinter stehenden Ordnung aus begreifen. Auch in der Formulierung des Nobelpreiskomitees ist das zu erkennen: Parisi werde geehrt "für die Entdeckung des Zusammenspiels von Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von atomaren bis zu planetaren Skalen" - vom sehr Kleinen bis zum sehr Großen also. Er erzielte seine bekanntesten Ergebnisse zwar in der Beschreibung der sogenannten Spin-Gläser. Dass diese Spin-Gläser aber weder anfänglich noch durchgehend alleiniges Objekt seiner Neugier waren, erläutert er nun in einem schlanken Buch, das in acht Kapiteln eine Zusammenstellung von thematisch eher lose zusammenhängenden Aufsätzen im Umfeld seiner Nobelpreisforschung enthält.
Ausgangspunkt ist dort die Schilderung seiner Forschung zur Schwarmbewegung von Staren. Deren Flugformationen, die atemberaubende Muster in den Himmel zeichnen, entstehen allein dadurch, dass jeder Star seine Bewegung an derjenigen seiner Nachbarn orientiert. Die individuell ihre Flugbahn wählenden Vögel werden so zu etwas Größerem, zu kollektiv Agierenden. Dass in Systemen, die aus einer großen Anzahl von interagierenden Akteuren bestehen, Muster und veränderliche Eigenschaften auf größeren Skalen auftreten können, ist ein Phänomen, das sich auch im Mikroskopischen findet: Wenn Wasser gefriert etwa oder wenn sich die elementaren Magnetfelder der Teilchen in einem Material untereinander so ausrichten, dass es zu einem makroskopischen Magneten wird. Unordnung geht dann in einen Zustand der Ordnung über. Die Akteure entwickeln ein kollektives Verhalten.
In Spin-Gläsern, die Parisi in den Achtzigerjahren erforschte, ist dieser Übergang sehr viel komplexer. Spin-Gläser sind Metalllegierungen, die sich bei niedrigen Temperaturen nicht mehr wie normale magnetische Systeme verhalten, sondern Glas oder Wachs ähneln. Der Grund ist, dass unter den mikroskopischen Akteuren widersprüchliche Tendenzen für eine kollektive Ausrichtung herrschen. Einige der Akteure wollen sich anders verhalten als der Rest, und das erzeugt Unordnung. Das System erreicht aus diesem Grund kein einheitliches stabiles Gleichgewicht, sondern befindet sich in zahllosen verschiedenen Zuständen, die sich nur langsam über Jahre oder gar Jahrhunderte in Richtung des Gleichgewichts verändern. Die zeitliche Dimension kann daher in der Beschreibung dieser Systeme genauso wenig ignoriert werden wie auftretende Fluktuationen.
Parisi war zu diesem Thema zufällig gelangt, als er sich zur Lösung eines Problems der Elementarteilchenphysik eine mathematische Technik aneignen wollte, die zuvor erfolglos bei der Beschreibung von Spin-Gläsern eingesetzt worden war. Sein Versuch, dort das Scheitern des Formalismus nachzuvollziehen, brachte ihn auf eine neue mathematische Beschreibung der Spin-Gläser, deren physikalische Interpretation ihm zunächst aber vollkommen unklar blieb. Erst langsam fanden Modell und Phänomen zusammen, und er verstand, was die mathematische Lösung über das Beschriebene überhaupt aussagte.
Parisis Buch demonstriert, dass man aus dieser Episode vieles lernen kann über die Funktionsweisen der Physik. Über den Einsatz von Modellen etwa, die unter Auslassung vieler Details zwischen den Phänomenen und der abstrakten Theorie vermitteln. Und auch - das ist wohl eine der interessantesten von Parisis Überlegungen - über die fundamentale Wichtigkeit der Intuition sowohl in der Mathematik als auch in der Physik: In beiden Gebieten besitzen erfolgreiche Wissenschaftler ein Gespür für die Gültigkeit von Beweisen, Herleitungen, Vereinfachungen und erlaubten Übertragungen. An dieser Stelle wird auch deutlich, warum der jeweilige kulturelle und gesellschaftliche Kontext der Forschung so wichtig ist, wenn man die Entwicklung der Wissenschaften verstehen will, denn der findet Eingang in genau solche Intuition und bestimmt die Entstehung neuer Ideen.
Wer solch eine Intuition besitzt, der ist in der Lage, wie Parisi über disziplinäre Grenzen hinaus zu denken und Strukturen zu sehen, die Biologie, Physik und Informatik verbinden. Dass dies eine Fähigkeit ist, die in unserer heutigen hoch spezialisierten Forschungswelt nicht unbedingt leicht zu praktizieren ist, demonstriert ein ebenfalls anlässlich der Nobelpreisehrung von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichtes Zitat des britischen Physik-Nobelpreisträgers David Thouless: "Mein Eindruck ist, dass die Spin-Glas-Experten wie Siedler auf fremdem Gebiet sind. Sie können interessante Beobachtungen beitragen, aber sie haben nicht gelernt, wie sie mit den früheren Siedlern kommunizieren können." Insbesondere würden sie in ihren Studien Vorarbeiten der entsprechenden Fachwissenschaftler weitgehend ignorieren, so Thouless weiter.
Diese Kritik könnte man durch das Buch bestätigt sehen, denn anders als der Titel suggeriert, lernt man in ihm sehr wenig über Stare und insbesondere praktisch nichts über deren Biologie. Doch selbst über Spin-Gläser erfährt man relativ wenig. Für Parisi sind die allgemeineren mathematischen Muster und Zusammenhänge das eigentlich Relevante und darüber hinaus das, was man aus ihnen und ihrer Ableitung wiederum für ein Verständnis der Funktionsweisen der Wissenschaft gewinnen kann. Für alle, die dieses Interesse teilen und sich nicht vom Titel zu falschen Erwartungen verleiten lassen, ist sein Buch eine äußerst inspirierende Lektüre.
Giorgio Parisi: "Der Flug der Stare". Das Wunder komplexer Systeme.
Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 144 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Kurz, aber fasziniert berichtet Rezensent Gerrit Stratmann über seine Lektüre. Wie schaffen es Stare, in gigantischen Wolken Formationen zu fliegen, ohne je zusammenzustoßen? Der Autor Giorgio Parisi, erzählt Stratmann, hat für diese Fragen den Nobelpreis für Physik bekommen, denn, ja, er näherte sich diesen Fragen als Physiker, nicht als Biologe. Komplexe Systeme interessieren ihn auch auf anderen Feldern: Wann weiß das Wasser, dass es bald kocht? Und wie kommt es, dass man eine Idee zuerst intuitiv findet, bevor man sie ausformulieren kann? Denn auch unser Denken ist ein komplexes System. Der Autor mäandert ein bisschen, merkt Stratmann an, aber er folgt seinen Windungen, die er als nie pedantisch beschreibt, sehr gern.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
So nahbar und unmittelbar ist Wissenschaft selten. Gerrit Stratmann Deutschlandfunk Kultur 20221026