Dr. Victor Frankenstein in Mary Shelleys Roman (1818) gelingt es nach rastlosen Studien, das größte Geheimnis der Natur, "die Ursache allen Lebens", zu entdecken. Aber seine aus Leichenteilen zusammengeflickte Kreatur gerät zu einem Monster, das den Mitmenschen Angst und Schrecken einjagt und seinen verantwortungslosen Schöpfer bis zu dessen Ende im ewigen Eis verfolgt. Der 'Mythos Frankenstein' scheint sich inzwischen weitgehend reali siert zu haben: Tatsächlich können die Bedingungen, unter denen Leben entsteht, manipuliert werden, und spezifisch menschliche Fähigkeiten sind mit technischen Mitteln nachzuahmen. Den Weg des "modernen Prometheus" und seines Geschöpfes in die Wirklichkeit unseres Alltags haben Künstler, Wissenschaftler und Publizisten auf einem Symposion nachgezeichnet, das die Bundeszentrale für politische Bildung im Früh sommer 1999 in Weimar ausgerichtet hat und dessen Ergebnisse hier gesammelt sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2000Das Gefühlsleben der Androiden
Hallo, Dolly: Ein Sammelband zum "Frankenstein-Komplex"
Der Frankenstein-Roman, den die neunzehnjährige Mary Shelley 1816 schrieb, erscheint auf irritierende Weise geeignet, Argumente für die Diskussion grundlegender ethischer Fragen der Gegenwart bereitzustellen. Die Bemühungen Victor Frankensteins, auf künstliche Weise menschliches Leben zu erschaffen, stehen in einer langen literarischen Tradition, weisen aber in ihrer entschieden naturwissenschaftlichen Orientierung auf heutige medizinische Forschungen und Praktiken voraus. Auch in der Literaturwissenschaft hat in den letzten Jahren die Diskussion um künstliche Menschen einen Aufschwung erfahren. Als Frucht eines Symposions in Weimar ist ein Band erschienen, der sich dem "Frankenstein-Komplex" unter interdisziplinären Aspekten nähert.
Der Kölner Germanist Rudolf Drux versammelt darin neben den wissenschaftlichen Tagungsbeiträgen auch literarische Zeugnisse aus dem Umfeld des Frankenstein-Stoffes, etwa zwei Gedichte Hans Magnus Enzensbergers über tatsächliche Versuche im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, künstliches Leben zu erschaffen, einen Essay Durs Grünbeins oder Szenen aus den Frankenstein-Stücken Wolfgang Deichsels. Die übrigen Beiträge untersuchen die Stoffgeschichte der literarischen Androiden, darunter Mary Shelleys Roman, setzen ein Gedicht Goethes oder die ethische Problematik der entwickelten Gentechnik in Bezug zu Frankenstein. Dieser Bezug ist bei einigen der Aufsätze nicht sonderlich eng, was zwar den einzelnen Texten nicht schadet, dem Zusammenhang des Buches aber einigen Abbruch tut.
Zu den herausragenden Beiträgen gehören die Aufsätze von Rudolf Drux, der einen gekonnten Überblick der Genese des literarischen Androidenmotivs liefert, und die Untersuchung "Herr und Knecht. Über künstliche Menschen im Film" von Thomas Koebner. Beide können als hervorragende Einführungen in die jeweilige Thematik dienen. Zudem erörtern sie eindrucksvoll die Aktualität des Androidenthemas. Bei Thomas Koebner geschieht das im Blick auf den Sciencefictionfilm "Blade Runner". Der handelt von Maschinenmenschen, deren Programmierung auch lose Fragmente einer menschenähnlichen Erinnerung umfasst: "Aber besteht nicht auch unsere Identität bei flüchtiger Ansicht aus Erinnerungsbruchstücken, oft unzusammenhängenden Fetzen von ,Selbstbewusstsein', die uns die Einheit einer Person und ihrer Geschichte suggerieren sollen?" Dies wirft die Frage auf, was eigentlich den genuinen Menschen von seinen selbstgeschaffenen Doppelgängern noch unterscheidet: "Was ist der Mensch?" Jede Beschäftigung mit der Androidenproblematik landet früher oder später bei dieser Frage. Definitionsversuche aus den vergangenen Jahrhunderten wollten den Unterschied zwischen dem Menschen und seinen Replikanten etwa in der Sprachausübung, dem Gefühlsleben, dem Kunstschaffen oder der Religiosität sehen, Bereiche, die den Androiden verschlossen seien. Es verwundert nicht, dass die Verwischung gerade dieser postulierten Unterschiede im Zentrum der ambitionierten literarischen und filmischen Projekte zur Erschaffung von Androiden stehen. Die Ergebnisse sind homosexuelle Computer oder religionsstiftende Roboter, elektromechanische Literaten oder Maschinenmenschen, die sich erst nach vielen Jahren ihrer artifiziellen Herkunft bewusst werden (und sich zuvor für authentische Menschen hielten).
Ein Spannungsverhältnis, das schon Shelleys Roman prägt. Denn das aus Leichenteilen zusammengesetzte Monster leidet an humanoiden Empfindungen wie Zorn, Scham und vor allem Einsamkeit, während sein menschlicher Schöpfer ein solches Gefühlsleben häufig vermissen lässt oder zugunsten seines Forscherehrgeizes unterdrückt. Der Android ist in der Lage, seinen Schöpfer zu ersetzen - als Arbeiter, Intellektueller, nicht zuletzt als Liebender. Vom authentischen Menschen ist er nicht mehr zu unterscheiden. Das ist die verstörende Botschaft, die dem Frankenstein-Roman seine bis heute ungebrochene Faszination sichert.
TILMAN SPRECKELSEN.
Rudolf Drux (Hrsg.): "Der Frankenstein-Komplex. Kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 276 S., geb., 16,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hallo, Dolly: Ein Sammelband zum "Frankenstein-Komplex"
Der Frankenstein-Roman, den die neunzehnjährige Mary Shelley 1816 schrieb, erscheint auf irritierende Weise geeignet, Argumente für die Diskussion grundlegender ethischer Fragen der Gegenwart bereitzustellen. Die Bemühungen Victor Frankensteins, auf künstliche Weise menschliches Leben zu erschaffen, stehen in einer langen literarischen Tradition, weisen aber in ihrer entschieden naturwissenschaftlichen Orientierung auf heutige medizinische Forschungen und Praktiken voraus. Auch in der Literaturwissenschaft hat in den letzten Jahren die Diskussion um künstliche Menschen einen Aufschwung erfahren. Als Frucht eines Symposions in Weimar ist ein Band erschienen, der sich dem "Frankenstein-Komplex" unter interdisziplinären Aspekten nähert.
Der Kölner Germanist Rudolf Drux versammelt darin neben den wissenschaftlichen Tagungsbeiträgen auch literarische Zeugnisse aus dem Umfeld des Frankenstein-Stoffes, etwa zwei Gedichte Hans Magnus Enzensbergers über tatsächliche Versuche im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, künstliches Leben zu erschaffen, einen Essay Durs Grünbeins oder Szenen aus den Frankenstein-Stücken Wolfgang Deichsels. Die übrigen Beiträge untersuchen die Stoffgeschichte der literarischen Androiden, darunter Mary Shelleys Roman, setzen ein Gedicht Goethes oder die ethische Problematik der entwickelten Gentechnik in Bezug zu Frankenstein. Dieser Bezug ist bei einigen der Aufsätze nicht sonderlich eng, was zwar den einzelnen Texten nicht schadet, dem Zusammenhang des Buches aber einigen Abbruch tut.
Zu den herausragenden Beiträgen gehören die Aufsätze von Rudolf Drux, der einen gekonnten Überblick der Genese des literarischen Androidenmotivs liefert, und die Untersuchung "Herr und Knecht. Über künstliche Menschen im Film" von Thomas Koebner. Beide können als hervorragende Einführungen in die jeweilige Thematik dienen. Zudem erörtern sie eindrucksvoll die Aktualität des Androidenthemas. Bei Thomas Koebner geschieht das im Blick auf den Sciencefictionfilm "Blade Runner". Der handelt von Maschinenmenschen, deren Programmierung auch lose Fragmente einer menschenähnlichen Erinnerung umfasst: "Aber besteht nicht auch unsere Identität bei flüchtiger Ansicht aus Erinnerungsbruchstücken, oft unzusammenhängenden Fetzen von ,Selbstbewusstsein', die uns die Einheit einer Person und ihrer Geschichte suggerieren sollen?" Dies wirft die Frage auf, was eigentlich den genuinen Menschen von seinen selbstgeschaffenen Doppelgängern noch unterscheidet: "Was ist der Mensch?" Jede Beschäftigung mit der Androidenproblematik landet früher oder später bei dieser Frage. Definitionsversuche aus den vergangenen Jahrhunderten wollten den Unterschied zwischen dem Menschen und seinen Replikanten etwa in der Sprachausübung, dem Gefühlsleben, dem Kunstschaffen oder der Religiosität sehen, Bereiche, die den Androiden verschlossen seien. Es verwundert nicht, dass die Verwischung gerade dieser postulierten Unterschiede im Zentrum der ambitionierten literarischen und filmischen Projekte zur Erschaffung von Androiden stehen. Die Ergebnisse sind homosexuelle Computer oder religionsstiftende Roboter, elektromechanische Literaten oder Maschinenmenschen, die sich erst nach vielen Jahren ihrer artifiziellen Herkunft bewusst werden (und sich zuvor für authentische Menschen hielten).
Ein Spannungsverhältnis, das schon Shelleys Roman prägt. Denn das aus Leichenteilen zusammengesetzte Monster leidet an humanoiden Empfindungen wie Zorn, Scham und vor allem Einsamkeit, während sein menschlicher Schöpfer ein solches Gefühlsleben häufig vermissen lässt oder zugunsten seines Forscherehrgeizes unterdrückt. Der Android ist in der Lage, seinen Schöpfer zu ersetzen - als Arbeiter, Intellektueller, nicht zuletzt als Liebender. Vom authentischen Menschen ist er nicht mehr zu unterscheiden. Das ist die verstörende Botschaft, die dem Frankenstein-Roman seine bis heute ungebrochene Faszination sichert.
TILMAN SPRECKELSEN.
Rudolf Drux (Hrsg.): "Der Frankenstein-Komplex. Kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 276 S., geb., 16,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Versuch, sich der Frankenstein-Thematik von verschiedenen Seiten zu nähern, stösst bei Tilman Spreckelsen auf offene Ohren: Neben Texten von Goethe, Enzensberger und Grünbein könne man auch Beiträge lesen, die sich beispielsweise mit ethischen Problemen bei der Gentechnik - natürlich im Zusammenhang mit Frankenstein - beschäftigen. Allerdings sei der Zusammenhang dann bisweilen doch nicht so eng, dass es dem Konzept des Buches nicht doch manchmal Abbruch täte. Mehrere Beiträge hebt der Rezensent jedoch als besonders gelungen hervor. Zum einen nennt er die Aufsätze des Herausgebers Rudolf Drux, der einen "gekonnten Überblick der Genese des literarischen Androidenmotivs" liefere, zum anderen den Beitrag Thomas Koebners über künstliche Menschen im Film und den Aspekt der Erinnerung bei Androiden und genuinen Menschen. Beiden Autoren gelingt es, so der Rezensent, nicht nur hervorragend in die Thematik einzuführen, sondern auch die Aktualität des Themas aufzuzeigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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