Haben im Ersten Weltkrieg in Belgien und Nordfrankreich Franktireurs gegen die Deutschen gekämpft? Diese Frage wird vor allem seit der 2001 erschienenen Studie der irischen Historiker John Horne und Alan Kramer in der Forschung mehrheitlich verneint. Gunter Spraul überprüft die Argumentation Hornes und Kramers auf der Basis einer eingehenden Untersuchung der von ihnen verwendeten Quellen und deren kritischer Einordnung in den jeweiligen Kontext. Außerdem analysiert der Autor bislang nicht verwendete militärische Quellen. Er untersucht allgemeine Vorwürfe an die deutschen Truppen und einzelne Zwischenfälle mit Zivilisten, insbesondere die Ereignisse in Leuven/Löwen. Schnell steht fest, dass eine seriöse Bearbeitung dieses Themas ohne ein ausgeprägtes Maß an Skepsis gegenüber "amtlichen" Bekundungen beider Seiten nicht möglich ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2016Was geschah denn nun wirklich?
Gunter Spraul über deutsche Grausamkeiten in Belgien im Ersten Weltkrieg
Kaum etwas hat schon während des Ersten Weltkrieges die Öffentlichkeit über die Grenzen Europas hinaus so erregt wie das Geschehen in Belgien. Die massenhafte Erschießung von Frauen und Kindern, alten Männern sowie Priestern, die Zerstörung von Dörfern und Städten - allen voran Löwen mit seiner weltberühmten Bibliothek - und andere Kriegsverbrechen machten aus dem Land Goethes und Schillers über Nacht ein Land von Barbaren. Alle deutschen Versuche, dieses Geschehen als gerechtfertigte Reaktion auf einen illegitimen Franktireurkrieg zu rechtfertigen, waren erfolglos.
Spätestens seit der 2001 vorgelegten Studie von Alan Kramer und John Horne über die Kriegsgreuel konnte man den Eindruck haben, dass alle Fragen geklärt seien. Detailliert listeten sie die jeweiligen Orte sowie die geschehenen Verbrechen und Zerstörungen auf. Verantwortlich dafür sei vor dem Hintergrund der Erfahrungen von 1870/71 eine Art Massensuggestion gewesen. Erschöpfung, Alkohol, Beschuss durch eigene Soldaten sowie ethnisch-konfessionelle Vorbehalte hätten die Lage schnell eskalieren lassen. Einen Franktireurkrieg, der deren Verhalten rechtfertigen würde, habe es nicht gegeben.
Diese These will Gunter Spraul als Mythos dekonstruieren und dabei zugleich den "Verfall der Wissenschaft" - das heißt schlampiges und rein ideologisch motiviertes Arbeiten - nachweisen. Als Leser würde man nun eine Darstellung erwarten, die auf breiter Quellengrundlage eine ausgewogene Analyse beinhaltet. Aber davon kann keine Rede sein: Bereits die Einleitung macht deutlich, dass dieses Buch nichts anderes als eine 679-seitige und aus Sicht des Autors vernichtende Rezension der Studie von Horne und Kramer - "HK", wie er sie im Verlauf der Darstellung stets nennt - ist. In den ersten beiden Kapiteln versucht er, diesem Autorenteam Unkenntnis militärischer Sachverhalte, schlampige und einseitige Auswertung der Quellen und entsprechend falsche Schlussfolgerungen nachzuweisen. Danach seziert er "Allgemeine ,Greuel'-Vorwürfe", fehlende Sachverhalte wie "Wegsperren" oder die Frage "Brieftauben - Hobby oder militärisches Kampfmittel?" und "einzelne Zwischenfälle".
Das Ergebnis ist eine vollständige Widerlegung der Forschungen von "HK": "Das Bild des deutschen Heeres", so Sprauls abschließende These, "das aus einer Bande von Mördern, Plünderern, Brandstiftern und Vergewaltigern bestanden haben soll, ist ein Zerrbild, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat und das auch kein Ergebnis einer ,wissenschaftlichen Analyse' darstellt."
Lässt man beiseite, dass kein seriöser Historiker dies behaupten würde, so gilt es gleichwohl zu fragen, ob die schwer lesbaren Ausführungen des Autors zutreffend und eine grundlegende Revision unseres bisherigen Bildes der Ereignisse notwendig machen könnten. An dieser Stelle gilt es zunächst festzuhalten, dass die Arbeit von Horne und Kramer bereits bei Erscheinen keineswegs unumstritten war. Die Vernachlässigung deutscher Quellen wegen ihrer angeblichen Unzuverlässigkeit, die fehlende Unterscheidung zwischen völkerrechtlich erlaubten Repressalien und tatsächlichen Kriegsverbrechen sowie die Tendenz, alliierte Quellen ohne Überprüfung für bare Münze zu nehmen, waren nur einige der Kritikpunkte. Hier setzt der Autor zu Recht an und kann "HK" zahlreiche faktische Fehler nachweisen. Manche Regimenter waren da, wo sie Verbrechen verübt haben sollen, gar nicht. Auch die Verwechslung von Namen und Orten kann er belegen beziehungsweise manche militärische Verhaltensweise in Frage stellen.
Im weiteren Verlauf seiner Darstellung tappt er aber in die gleiche "Falle" wie Kramer und Horne. So wie diese beiden Historiker die deutschen Quellen seiner Meinung nach vernachlässigt haben, lässt er nun die alliierten "wegen ihres großen Umfangs" beiseite. So wie er dem Autorenteam vorwirft, einseitig auf alliierte Quellen zu vertrauen, stützt Spraul die eigene Kritik im Wesentlichen auf die Regimentsgeschichten. So wie er Kramer und Horne nachweist, häufig mit Vermutungen zu arbeiten, so benutzt auch er gern das Wort "wenig wahrscheinlich", anstatt einen schlüssigen Beweis zu führen.
Auch wenn Spraul manche neue Quelle erschließt, die belegen, dass "Franktireurs" keine reine Einbildung waren, so sind die von ihm herangezogenen Regimentsgeschichten problematisch: Oft viele Jahre nach den Ereignissen geschrieben, sind deren Grundlagen nicht überprüfbar. Hinzu kommt, dass das Reichsarchiv, das in der Franktireurfrage alle Kritik rigoros abbügelte (wie schon die Reichsleitung mit ihren "Weißbüchern"), keine Scheu hatte, Dokumente der allgemeinen Linie "anzupassen" - sprich zu fälschen. Ein Blick in die Akten des Bundesarchivs/Militärarchivs in Freiburg im Breisgau, die der Autor nicht eingesehen hat, hätte hier sehr hilfreich sein können.
Unangenehm wird es, wenn Spraul etwa Korps-Befehle, die aufgrund entsprechender Vorfälle ausdrücklich vor Plünderungen und anderen Gewaltakten warnen und damit deren Existenz ausdrücklich belegen, mit dem Hinweis relativiert, hier doch auch die "Angaben zu Angriffen von Zivilisten auf die sächsischen Soldaten" zu berücksichtigen. Wenn ihn bei der Schilderung der Ereignisse in Dinant allein die Frage interessiert, ob es sich um eine "gewaltsame Erkundung" oder einen "Überfall" betrunkener deutscher Soldaten gehandelt habe - nicht jedoch, warum 674 Belgier, mehr als die Hälfte Greise, Frauen, Kinder und Säuglinge, als vermeintliche Franktireure erschossen wurden, dann wird aus berechtigter Kritik ein ärgerliches, rechtskonservatives Machwerk, das offenkundig die durch "HK" vermeintlich beschmutzte nationale Ehre wiederherstellen will.
Kurzum, diese von Spraul vorgelegte ausufernde "Rezension" sollte ein Anlass sein, sich interdisziplinär und unter kritischer Hinzuziehung aller verfügbaren Akten abermals sine ira et studio und ohne nationale Scheuklappen den furchtbaren Ereignissen in Belgien zu widmen. Vielleicht wissen wir dann, was wirklich geschah.
MICHAEL EPKENHANS
Gunter Spraul: Der Franktireurkrieg 1914. Untersuchungen zum Verfall einer Wissenschaft und zum Umgang mit nationalen Mythen. Frank & Timme Verlag, Berlin 2016. 679 S., 68,- [Euro].
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Gunter Spraul über deutsche Grausamkeiten in Belgien im Ersten Weltkrieg
Kaum etwas hat schon während des Ersten Weltkrieges die Öffentlichkeit über die Grenzen Europas hinaus so erregt wie das Geschehen in Belgien. Die massenhafte Erschießung von Frauen und Kindern, alten Männern sowie Priestern, die Zerstörung von Dörfern und Städten - allen voran Löwen mit seiner weltberühmten Bibliothek - und andere Kriegsverbrechen machten aus dem Land Goethes und Schillers über Nacht ein Land von Barbaren. Alle deutschen Versuche, dieses Geschehen als gerechtfertigte Reaktion auf einen illegitimen Franktireurkrieg zu rechtfertigen, waren erfolglos.
Spätestens seit der 2001 vorgelegten Studie von Alan Kramer und John Horne über die Kriegsgreuel konnte man den Eindruck haben, dass alle Fragen geklärt seien. Detailliert listeten sie die jeweiligen Orte sowie die geschehenen Verbrechen und Zerstörungen auf. Verantwortlich dafür sei vor dem Hintergrund der Erfahrungen von 1870/71 eine Art Massensuggestion gewesen. Erschöpfung, Alkohol, Beschuss durch eigene Soldaten sowie ethnisch-konfessionelle Vorbehalte hätten die Lage schnell eskalieren lassen. Einen Franktireurkrieg, der deren Verhalten rechtfertigen würde, habe es nicht gegeben.
Diese These will Gunter Spraul als Mythos dekonstruieren und dabei zugleich den "Verfall der Wissenschaft" - das heißt schlampiges und rein ideologisch motiviertes Arbeiten - nachweisen. Als Leser würde man nun eine Darstellung erwarten, die auf breiter Quellengrundlage eine ausgewogene Analyse beinhaltet. Aber davon kann keine Rede sein: Bereits die Einleitung macht deutlich, dass dieses Buch nichts anderes als eine 679-seitige und aus Sicht des Autors vernichtende Rezension der Studie von Horne und Kramer - "HK", wie er sie im Verlauf der Darstellung stets nennt - ist. In den ersten beiden Kapiteln versucht er, diesem Autorenteam Unkenntnis militärischer Sachverhalte, schlampige und einseitige Auswertung der Quellen und entsprechend falsche Schlussfolgerungen nachzuweisen. Danach seziert er "Allgemeine ,Greuel'-Vorwürfe", fehlende Sachverhalte wie "Wegsperren" oder die Frage "Brieftauben - Hobby oder militärisches Kampfmittel?" und "einzelne Zwischenfälle".
Das Ergebnis ist eine vollständige Widerlegung der Forschungen von "HK": "Das Bild des deutschen Heeres", so Sprauls abschließende These, "das aus einer Bande von Mördern, Plünderern, Brandstiftern und Vergewaltigern bestanden haben soll, ist ein Zerrbild, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat und das auch kein Ergebnis einer ,wissenschaftlichen Analyse' darstellt."
Lässt man beiseite, dass kein seriöser Historiker dies behaupten würde, so gilt es gleichwohl zu fragen, ob die schwer lesbaren Ausführungen des Autors zutreffend und eine grundlegende Revision unseres bisherigen Bildes der Ereignisse notwendig machen könnten. An dieser Stelle gilt es zunächst festzuhalten, dass die Arbeit von Horne und Kramer bereits bei Erscheinen keineswegs unumstritten war. Die Vernachlässigung deutscher Quellen wegen ihrer angeblichen Unzuverlässigkeit, die fehlende Unterscheidung zwischen völkerrechtlich erlaubten Repressalien und tatsächlichen Kriegsverbrechen sowie die Tendenz, alliierte Quellen ohne Überprüfung für bare Münze zu nehmen, waren nur einige der Kritikpunkte. Hier setzt der Autor zu Recht an und kann "HK" zahlreiche faktische Fehler nachweisen. Manche Regimenter waren da, wo sie Verbrechen verübt haben sollen, gar nicht. Auch die Verwechslung von Namen und Orten kann er belegen beziehungsweise manche militärische Verhaltensweise in Frage stellen.
Im weiteren Verlauf seiner Darstellung tappt er aber in die gleiche "Falle" wie Kramer und Horne. So wie diese beiden Historiker die deutschen Quellen seiner Meinung nach vernachlässigt haben, lässt er nun die alliierten "wegen ihres großen Umfangs" beiseite. So wie er dem Autorenteam vorwirft, einseitig auf alliierte Quellen zu vertrauen, stützt Spraul die eigene Kritik im Wesentlichen auf die Regimentsgeschichten. So wie er Kramer und Horne nachweist, häufig mit Vermutungen zu arbeiten, so benutzt auch er gern das Wort "wenig wahrscheinlich", anstatt einen schlüssigen Beweis zu führen.
Auch wenn Spraul manche neue Quelle erschließt, die belegen, dass "Franktireurs" keine reine Einbildung waren, so sind die von ihm herangezogenen Regimentsgeschichten problematisch: Oft viele Jahre nach den Ereignissen geschrieben, sind deren Grundlagen nicht überprüfbar. Hinzu kommt, dass das Reichsarchiv, das in der Franktireurfrage alle Kritik rigoros abbügelte (wie schon die Reichsleitung mit ihren "Weißbüchern"), keine Scheu hatte, Dokumente der allgemeinen Linie "anzupassen" - sprich zu fälschen. Ein Blick in die Akten des Bundesarchivs/Militärarchivs in Freiburg im Breisgau, die der Autor nicht eingesehen hat, hätte hier sehr hilfreich sein können.
Unangenehm wird es, wenn Spraul etwa Korps-Befehle, die aufgrund entsprechender Vorfälle ausdrücklich vor Plünderungen und anderen Gewaltakten warnen und damit deren Existenz ausdrücklich belegen, mit dem Hinweis relativiert, hier doch auch die "Angaben zu Angriffen von Zivilisten auf die sächsischen Soldaten" zu berücksichtigen. Wenn ihn bei der Schilderung der Ereignisse in Dinant allein die Frage interessiert, ob es sich um eine "gewaltsame Erkundung" oder einen "Überfall" betrunkener deutscher Soldaten gehandelt habe - nicht jedoch, warum 674 Belgier, mehr als die Hälfte Greise, Frauen, Kinder und Säuglinge, als vermeintliche Franktireure erschossen wurden, dann wird aus berechtigter Kritik ein ärgerliches, rechtskonservatives Machwerk, das offenkundig die durch "HK" vermeintlich beschmutzte nationale Ehre wiederherstellen will.
Kurzum, diese von Spraul vorgelegte ausufernde "Rezension" sollte ein Anlass sein, sich interdisziplinär und unter kritischer Hinzuziehung aller verfügbaren Akten abermals sine ira et studio und ohne nationale Scheuklappen den furchtbaren Ereignissen in Belgien zu widmen. Vielleicht wissen wir dann, was wirklich geschah.
MICHAEL EPKENHANS
Gunter Spraul: Der Franktireurkrieg 1914. Untersuchungen zum Verfall einer Wissenschaft und zum Umgang mit nationalen Mythen. Frank & Timme Verlag, Berlin 2016. 679 S., 68,- [Euro].
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