Von den Brüdern Grimm ist viel die Rede. Ihr Bruder Ferdinand, der ein eigenes Werk von Fabeln und Märchen zusammentrug, ist heute vergessen. Als »schwarzes Schaf« der Familie endete er als 55-Jähriger, elend und verlassen.Nach der kulturhistorisch-philologischen Spurensuche nach Goethes unbekanntem Großvater (Monsieur Göthé, Band 391) nehmen sich Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz die unausgeleuchteten Winkel der Familie Grimm vor. Sie entdecken, nach dem »Malerbruder « Ludwig Emil (Folioband, 2015): Ferdinand, den Unglücksraben der Märchen- und Sagensammlerfamilie.Ferdinand Grimm (geboren 1790 in Hanau und früh gestorben in Wolfenbüttel) war der bunte Vogel, ein scheckiger Unglücksrabe unter den sechs Geschwistern der Familie. Auf dem Gebiet der Literatur und Volkserzählungen zu reüssieren, war sein Wunsch und Ziel: Er sammelte und publizierte Märchen und Sagen, war ein großer Kenner der Schriftkultur seiner Zeit, schrieb wunderbare Briefe. Doch die »Brüder Grimm« blieben immernur Jacob und Wilhelm. Ferdinand fehlte nicht nur der unbändige Lern- und Arbeitseifer seiner berühmten Brüder, ihm fehlte immer auch das Geld. Jacob und Wilhelm unterstützten ihn in einer Art repressiver Fürsorge. Sie gaben ihm Geld, aber ständig auch strenge, wenn nicht herablassende Ratschläge.In seinem unglücklichen, eigenbrötlerischen Leben half er auch seinen Brüdern beim Zusammentragen von Sagen und Märchen. Er war ein umfassend orientierter Sammler, der auch - anders als seine Brüder - zu den Leuten ging und ihnen bei ausgedehnten Wanderungen zuhörte. Seine drei Anthologien veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen, wohl, um seinen Brüdern nicht ins Gehege zu kommen. So ist ein immenser, weitgehend unbekannter Schatz entstanden, aus dem in diesem Buch geschöpft wird.Der neueste Streich des Duos Boehncke und Sarkowicz versammelt Sagen, Märchen, Briefe und andere Texte neben einem ausführlichen biographischen Essay, der dem »fremden Ferdinand« endlich Gerechtigkeitwiderfahren lässt: Denn Ferdinand Philipp Grimm, der am Ende seines Lebens in die Bibliotheksstadt Wolfenbüttel gezogen war, brachte die Nähe der Bücher kein Glück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Ach Bruder, dein Märchen geht böse aus
An den Rand gedrängt: Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz zeichnen das Leben Ferdinand Grimms nach und versammeln seine Märchentexte.
Von Hubert Spiegel
Es waren einmal fünf Brüder, die lebten zusammen mit ihrer Schwester in einem kleinen Häuschen zwischen Bach und Baum. Als die Stunde kam, da die Brüder hinaus in die Welt wollten und sie sich auf den Weg machten, gelangten sie bald an eine Kreuzung. Da gingen zwei von ihnen nach links und zwei nach rechts. Der fünfte Bruder aber wusste nicht wohin, ging mal nach rechts, mal nach links, erst vor, dann wieder zurück. Und wie er so merkte, dass er ganz allein stand auf der Welt, und nicht wusste, wohin mit sich, da setzte er sich auf den Boden, war fern von Bach und Baum, weinte bitterlich und musste sterben.
Märchen machen kurzen Prozess. Im wahren Leben dauert, was im Märchen in wenigen Sätzen unerbittlich auf den nicht selten tödlichen Punkt gebracht wird, oft sehr lange. Die letzten acht Jahre seines Lebens hatte Ferdinand Grimm kaum noch Kontakt zu seinen Geschwistern. Wilhelm mied ihn vollständig, Jacobs Briefe waren selten und unterkühlt. Dabei hatte man sich keineswegs einfach aus den Augen verloren. Man beäugte sich aus der Ferne - sehnsüchtig, missgünstig, gekränkt, verstört, beleidigt. War man sich fremd geworden? Das trifft es nicht richtig. Denn die Entfremdung hatte früh begonnen, wohl schon in Kindertagen. Ferdinand war anders als seine Brüder. Zwei von ihnen konnten das nicht ertragen. Sie meinten, ihm helfen zu müssen. Sie meinten, ihn ändern zu dürfen.
"Der fremde Ferdinand", wie das ebenso produktive wie akribisch vorgehende Rechercheteam und Autorenduo Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz sein neues - und wunderschön gestaltetes - Buch überschrieben hat, versammelt nicht nur die im Untertitel angekündigten "Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders", sondern unternimmt zugleich den Versuch, das komplizierte Familiengeflecht der Grimms zu durchleuchten. Dazu versammeln die Autoren die Publikationen Ferdinand Grimms, versehen sie mit Erläuterungen und spüren in einer etwa neunzigseitigen "Biographischen Erkundung" dem Leben und Werk des weitgehend unbekannt gebliebenen Bruders nach. Dabei berücksichtigen sie die bisherigen Ergebnisse der Grimm-Forschung und arbeiten mit den Quellen, vor allem mit der umfangreichen Korrespondenz der Familie sowie den diversen Nachlässen. Ferdinand erscheint dabei facettenreich und widersprüchlich: ein Träumer, Faulpelz und "Fensterpfeifer" in den Augen seiner Brüder, aber auch ein fleißiger Sammler und begabter Bearbeiter von Volksmärchen, der auf seinen Reisen, die er aus Geldmangel zu Fuß unternahm, aus den ursprünglichen Quellen zu schöpfen wusste. Ferdinand, der zweitjüngste der fünf Brüder, muss es verstanden haben, auf Unbekannte zuzugehen und Kontakte zu knüpfen, in literarisch interessierten Kreisen in München und Berlin ebenso wie in Dorfschenken und Bauernhäusern.
Heinz Rölleke hat bereits 1979 unter dem Titel "Der unbekannte Bruder Grimm" etliche Sagentexte aus dem Nachlass Ferdinands publiziert. Boehncke und Sarkowicz nehmen 42 davon auf und weisen darauf hin, dass im zweiten Band der "Deutschen Sagen" von Jacob und Wilhelm Grimm lediglich sechs von 222 Texten auf mündliche Überlieferung zurückgehen, während Rölleke allein im Nachlass Ferdinands 79 Sagen fand, die er sich auf seinen Wanderungen hatte erzählen lassen. Was also war Ferdinand in den Augen der älteren Brüder, und was hätte er sein können: ein fleißiger Zuträger, ein kongenialer Mitarbeiter, ein Versager oder ein Konkurrent und Störenfried, der das Monopol der Älteren in Frage stellte?
Vielleicht ging von Ferdinands Aktivitäten eine Bedrohung aus, die ihm nicht bewusst war: Jacob und Wilhelm traten zwar als unzertrennliche brüderliche Produktivkraft auf, hatten aber auch Differenzen, wie Steffen Martus in seiner 2009 erschienenen Biographie "Die Brüder Grimm" beschrieben hat. Einen Dritten hätte dieses Equilibrium vermutlich nicht verkraftet, schon gar nicht einen wie Ferdinand, der mit Bachstelzen kommunizierte, halbe Nächte aus dem Fenster sah und ganze Vormittage im Bett verschlief.
Die Briefe der Brüder kreisen um Ferdinands unstetes Wesen, seine ewigen Geldsorgen, um Krankheiten und immer wieder um zunehmend mutlosere Versuche, ihm eine Anstellung zu verschaffen. Der ständig wiederkehrende Vorwurf, er sei unendlich faul, war unzutreffend und ging Hand in Hand mit der Weigerung, Ferdinands Publikationen zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen. Im Jahr 1820 erschienen seine "Volkssagen und Mährchen der Deutschen und Ausländer", 1838 die "Volkssagen der Deutschen", und 1846, da war er bereits ein Jahr tot, gab ein bis heute Unbekannter die "Burgund Bergmärchen" heraus.
Aber wohl keines dieser Werke wurde im Familienkreis mit so viel Aufmerksamkeit bedacht wie Ferdinands Erzählung "Tante Henriette", die 1835 als Fortsetzungsgeschichte in der in Braunschweig und Leipzig erscheinenden "Mitternachtszeitung für gebildete Stände" erschien - eine Schlüsselerzählung über die Familie Grimm, in der sich Jacob und Wilhelm karikiert sehen mussten und sich in einer Situation wiederfanden, die sie sonst Ferdinand zugewiesen hatten: gutmütig belächelt und an den Rand gedrängt.
Doch "Tante Henriette" war nicht der erste Skandal, der Ferdinands Außenseiterstellung in der Familie zementierte. Ferdinand hatte offenbar ein "Geheimnis", und ausgerechnet an Weihnachten muss er es einem größeren Kreis enthüllt haben. Boehncke und Sarkowicz nehmen mit guten Gründen an, dass Ferdinand seine Homosexualität 1810 öffentlich gemacht hat. Das Märchen-Projekt der Brüder Grimm war ein Projekt der Romantik, aber es war auch ein Projekt des Strebens nach nationaler Einheit und der Sehnsucht nach "der guten alten Zeit", von der Martus zu Recht sagt, sie sei eine Erfindung der Grimmschen Zeit. Das Märchen kennt viele Außenseiterfiguren. Es weiß nur zu gut, was Abweichung bedeutet und wie sie bestraft wird. Für Ferdinand Grimm gingen die Märchen böse aus.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: "Der fremde Ferdinand". Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 300 S., Abb., geb., 44,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An den Rand gedrängt: Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz zeichnen das Leben Ferdinand Grimms nach und versammeln seine Märchentexte.
Von Hubert Spiegel
Es waren einmal fünf Brüder, die lebten zusammen mit ihrer Schwester in einem kleinen Häuschen zwischen Bach und Baum. Als die Stunde kam, da die Brüder hinaus in die Welt wollten und sie sich auf den Weg machten, gelangten sie bald an eine Kreuzung. Da gingen zwei von ihnen nach links und zwei nach rechts. Der fünfte Bruder aber wusste nicht wohin, ging mal nach rechts, mal nach links, erst vor, dann wieder zurück. Und wie er so merkte, dass er ganz allein stand auf der Welt, und nicht wusste, wohin mit sich, da setzte er sich auf den Boden, war fern von Bach und Baum, weinte bitterlich und musste sterben.
Märchen machen kurzen Prozess. Im wahren Leben dauert, was im Märchen in wenigen Sätzen unerbittlich auf den nicht selten tödlichen Punkt gebracht wird, oft sehr lange. Die letzten acht Jahre seines Lebens hatte Ferdinand Grimm kaum noch Kontakt zu seinen Geschwistern. Wilhelm mied ihn vollständig, Jacobs Briefe waren selten und unterkühlt. Dabei hatte man sich keineswegs einfach aus den Augen verloren. Man beäugte sich aus der Ferne - sehnsüchtig, missgünstig, gekränkt, verstört, beleidigt. War man sich fremd geworden? Das trifft es nicht richtig. Denn die Entfremdung hatte früh begonnen, wohl schon in Kindertagen. Ferdinand war anders als seine Brüder. Zwei von ihnen konnten das nicht ertragen. Sie meinten, ihm helfen zu müssen. Sie meinten, ihn ändern zu dürfen.
"Der fremde Ferdinand", wie das ebenso produktive wie akribisch vorgehende Rechercheteam und Autorenduo Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz sein neues - und wunderschön gestaltetes - Buch überschrieben hat, versammelt nicht nur die im Untertitel angekündigten "Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders", sondern unternimmt zugleich den Versuch, das komplizierte Familiengeflecht der Grimms zu durchleuchten. Dazu versammeln die Autoren die Publikationen Ferdinand Grimms, versehen sie mit Erläuterungen und spüren in einer etwa neunzigseitigen "Biographischen Erkundung" dem Leben und Werk des weitgehend unbekannt gebliebenen Bruders nach. Dabei berücksichtigen sie die bisherigen Ergebnisse der Grimm-Forschung und arbeiten mit den Quellen, vor allem mit der umfangreichen Korrespondenz der Familie sowie den diversen Nachlässen. Ferdinand erscheint dabei facettenreich und widersprüchlich: ein Träumer, Faulpelz und "Fensterpfeifer" in den Augen seiner Brüder, aber auch ein fleißiger Sammler und begabter Bearbeiter von Volksmärchen, der auf seinen Reisen, die er aus Geldmangel zu Fuß unternahm, aus den ursprünglichen Quellen zu schöpfen wusste. Ferdinand, der zweitjüngste der fünf Brüder, muss es verstanden haben, auf Unbekannte zuzugehen und Kontakte zu knüpfen, in literarisch interessierten Kreisen in München und Berlin ebenso wie in Dorfschenken und Bauernhäusern.
Heinz Rölleke hat bereits 1979 unter dem Titel "Der unbekannte Bruder Grimm" etliche Sagentexte aus dem Nachlass Ferdinands publiziert. Boehncke und Sarkowicz nehmen 42 davon auf und weisen darauf hin, dass im zweiten Band der "Deutschen Sagen" von Jacob und Wilhelm Grimm lediglich sechs von 222 Texten auf mündliche Überlieferung zurückgehen, während Rölleke allein im Nachlass Ferdinands 79 Sagen fand, die er sich auf seinen Wanderungen hatte erzählen lassen. Was also war Ferdinand in den Augen der älteren Brüder, und was hätte er sein können: ein fleißiger Zuträger, ein kongenialer Mitarbeiter, ein Versager oder ein Konkurrent und Störenfried, der das Monopol der Älteren in Frage stellte?
Vielleicht ging von Ferdinands Aktivitäten eine Bedrohung aus, die ihm nicht bewusst war: Jacob und Wilhelm traten zwar als unzertrennliche brüderliche Produktivkraft auf, hatten aber auch Differenzen, wie Steffen Martus in seiner 2009 erschienenen Biographie "Die Brüder Grimm" beschrieben hat. Einen Dritten hätte dieses Equilibrium vermutlich nicht verkraftet, schon gar nicht einen wie Ferdinand, der mit Bachstelzen kommunizierte, halbe Nächte aus dem Fenster sah und ganze Vormittage im Bett verschlief.
Die Briefe der Brüder kreisen um Ferdinands unstetes Wesen, seine ewigen Geldsorgen, um Krankheiten und immer wieder um zunehmend mutlosere Versuche, ihm eine Anstellung zu verschaffen. Der ständig wiederkehrende Vorwurf, er sei unendlich faul, war unzutreffend und ging Hand in Hand mit der Weigerung, Ferdinands Publikationen zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen. Im Jahr 1820 erschienen seine "Volkssagen und Mährchen der Deutschen und Ausländer", 1838 die "Volkssagen der Deutschen", und 1846, da war er bereits ein Jahr tot, gab ein bis heute Unbekannter die "Burgund Bergmärchen" heraus.
Aber wohl keines dieser Werke wurde im Familienkreis mit so viel Aufmerksamkeit bedacht wie Ferdinands Erzählung "Tante Henriette", die 1835 als Fortsetzungsgeschichte in der in Braunschweig und Leipzig erscheinenden "Mitternachtszeitung für gebildete Stände" erschien - eine Schlüsselerzählung über die Familie Grimm, in der sich Jacob und Wilhelm karikiert sehen mussten und sich in einer Situation wiederfanden, die sie sonst Ferdinand zugewiesen hatten: gutmütig belächelt und an den Rand gedrängt.
Doch "Tante Henriette" war nicht der erste Skandal, der Ferdinands Außenseiterstellung in der Familie zementierte. Ferdinand hatte offenbar ein "Geheimnis", und ausgerechnet an Weihnachten muss er es einem größeren Kreis enthüllt haben. Boehncke und Sarkowicz nehmen mit guten Gründen an, dass Ferdinand seine Homosexualität 1810 öffentlich gemacht hat. Das Märchen-Projekt der Brüder Grimm war ein Projekt der Romantik, aber es war auch ein Projekt des Strebens nach nationaler Einheit und der Sehnsucht nach "der guten alten Zeit", von der Martus zu Recht sagt, sie sei eine Erfindung der Grimmschen Zeit. Das Märchen kennt viele Außenseiterfiguren. Es weiß nur zu gut, was Abweichung bedeutet und wie sie bestraft wird. Für Ferdinand Grimm gingen die Märchen böse aus.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: "Der fremde Ferdinand". Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 300 S., Abb., geb., 44,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Matthias Heine findet die Familie Grimm noch interessanter seit Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz den wegen seiner Homosexualität und seines vermeintlichen Schlendrians von den "Übergeistern" Jacob und Wilhelm gescholtenen Bruder Ferdinand Grimm ins rechte Licht gesetzt haben. Vom Coming-out über Ferdinands literarisches Talent bis zu seinen Bemühungen um Sagen und Volkskunst klärt das Buch Heine auf, versammelt von Ferdinand auf Wanderungen durch Deutschland gesammelte Texte und lassen dieses unterdrückte Talent erkennen, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2020Zwergenfreund und Vogelsprachler
Wilhelm und Jacob Grimm haderten mit ihrem kaum bekannten jüngeren Bruder Ferdinand. Der war in ihren Augen
faul, seltsam, renitent, verschlossen. Und wohl schwul. Vor allem war er ein genialer Märchenerzähler und brillanter Schriftsteller
VON JUTTA PERSON
Wenn es ein Märchen vom schwarzen Schaf gäbe, würde es wohl eher ungut ausgehen. Vom äußersten Ende her betrachtet, wäre es wahrscheinlich sogar tieftraurig, ein Tod in Armut und Einsamkeit stünde am Schluss. Andererseits wären solche schwarzen Schafgeschichten unvollständig ohne ihr Dazwischen – ihre möglicherweise launigen, betriebsamen oder heimlich geselligen Spuren. Vielleicht sind aber auch die Märchenvorlagen das Problem: weil sie eine so runde wie rabiate Erzählung zusammensetzen und letztlich, mit ihrem ganzen magischen Gerät, auf Sinn und Ordnung aus sind. Meistens jedenfalls.
Ferdinand Grimm wurde 1788 als zweitjüngster Sohn der Familie Grimm in Hanau geboren und starb 1845 ziemlich elend in Wolfenbüttel. Der kaum bekannte Bruder von Jacob und Wilhelm Grimm verleitet notorisch dazu, einen Märchenplot in ein Leben hineinzulesen, das in vielen Abschnitten fast klischeehaft wirkt – eben märchenhaft in seinem Außenseitertum und seiner Pechvogelhaftigkeit: von den sechs Grimm-Geschwistern derjenige, der schon in Jugendjahren als seltsam, faul und widerspenstig galt, der seinen älteren Brüdern beim Sagensammeln zur Hand ging und dafür lobend erwähnt wurde, selbst weiter sammelte und schrieb, aber kein Publikum fand.
Entdeckt wurde Ferdinand Grimm schon in den siebziger Jahren, als der Germanist Heinz Rölleke zusammen mit Gerd Hoffmann eine Textsammlung mit dem Titel „Der unbekannte Bruder Grimm“ herausbrachte. Mittlerweile weiß man mehr, aber längst nicht alles über Ferdinand Grimm – was Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz dazu bewogen hat, einen Wiederentdeckungsband unter dem Titel „Der fremde Ferdinand“ zu veröffentlichen, mit Märchen, Sagen, Briefen, einer Erzählung, Erläuterungen und vor allem: einer höchst spannenden „biografischen Erkundung“, die den Vergessenen wieder ins Bewusstsein ruft. Den Herausgebern geht es darum, den unbekannten Bruder als Märchensammler und Schriftsteller kenntlich zu machen, ohne dabei die Verdienste von Jacob und Wilhelm zu schmälern: „Wir erlauben uns aber, ihrem Bruder Ferdinand die Gerechtigkeit nachzutragen, die sie ihm verweigert haben.“
Was war passiert? Nach dem frühen Tod des Vaters und dann auch der Mutter waren Jacob und Wilhelm in die Ernährerrolle für ihre vier jüngeren Geschwister gerückt. Zeitweise wohnen alle zusammen im Kasseler „Märchenhaus“. Bald schon beschreiben Jacob und Wilhelm ihren Bruder Ferdinand als „träg“, von unbeschreiblicher Faulheit ist die Rede, dazu kommt, durch die Linse der älteren Brüder betrachtet, der verschlossene Charakter eines renitenten Sonderlings. Ferdinand ist auf Du und Du mit Bachstelzen und Rotkehlchen und verwandelt sein Zimmer anscheinend in einen Taubenschlag (nicht metaphorisch gemeint). Seit seiner Kindheit ist er ein begeisterter Vogelbeobachter; nur stempeln die älteren Brüder ihn immer mehr zum „traurigen heiligen Franziskus“ ab. Oder zum losen Vogel, denn sein Herumwandern, die Langschläferei und sein Desinteresse an Gelddingen sind ihnen ein Dorn im Auge. Besonders die Faulheit schwebt wie ein monströser Wunschballon über dieser Familiengeschichte; es klingt, als ob Jacob und Wilhelm, die Ultrafleißigen, lustvoll horrifiziert an dieser Legende stricken. Dabei war Ferdinand alles andere als faul, wie die Grimm-Forscher Boehncke und Sarkowicz überzeugend belegen.
An Weihnachten 1810 muss es zu einem Skandal gekommen sein, über den Jacob und Wilhelm nur düstere Andeutungen von der „Unnatur“ des Bruders machen; die Forschung tappt seither im Dunkeln. Boehnke und Sarkowicz vermuten, dass Ferdinand „sein ‚Coming-out‘ vor der versammelten Festgemeinde mit erheblichem Aufwand inszeniert hat. Jacob und Wilhelm reagierten darauf mit homophoben Reflexen, wie sie, vor allem auch außerhalb von Berlin, seinerzeit nicht unüblich waren.“ Mit seinem Auftritt muss Ferdinand „die andachtsvolle Innerlichkeit im biedermeierlichen Interieur der Familie“ effektvoll gesprengt haben.
Zumindest vorübergehend verschlechtert sich das Verhältnis der Brüder drastisch. 1815 verschaffen Jacob und Wilhelm dem Jüngeren eine Stelle beim Verlagsbuchhändler Reimer in Berlin, wo er fast 20 Jahre lang als Korrektor arbeitet. Die letzten Jahre seines Lebens versucht Ferdinand sein Glück als Schriftsteller in Wolfenbüttel. Finanziell ist er, wie schon oft, auf die Unterstützung der Brüder angewiesen. Allerdings gewähren Jacob und Wilhelm ihm nur das Geld, meistens mit herablassenden Ermahnungen verbunden, das ihm sowieso zusteht: sein Erbe, von dem unklar bleibt, warum es ihm in den letzten, kümmerlichen Jahren nicht ganz ausgezahlt wird. Ferdinand wohnt in einem feuchtem Zimmer zur Miete, ernährt sich von „alter Wurst“ und ist mit Märchen beschäftigt. Als er stirbt, reist Jacob in letzter Minute an und organisiert die Beerdigung.
Es gab aber noch einen zweiten Familienskandal, der direkt in die Literatur führt: 1835 veröffentlichte Ferdinand die Erzählung „Tante Henriette“ in der Mitternachtzeitung für gebildete Stände. Es geht um eine Familie, deren Mitglieder als reale Grimms dechiffrierbar sind und mit süffisantem Schwung verhohnepiepelt werden. Ein Maskenball wird vorbereitet, im Zentrum steht die umtriebige Henriette, Wilhelm Grimms Frau, ihr pedantischer Gatte und dessen Bruder. „Daumendicker Flausch, wie Kant ihn trug“ und „kurze schlottrige schwarzgraue Pantalons“ machen ihn zum schrulligen Kauz. Das gesamte Gebäude ist ein brummender Mikrokosmos, in dem auch die Wäscherinnen – „hagre magre Weiber in schlappen gilbelnden Bänderhauben“ – zu Anschauungsobjekten der Volkstümlichkeit werden, eingerahmt von einer Hexenhauspersiflage: „schwarzer Schornsteinrauch malt über ihnen in der Luft einen langen Satansschweif, vor dessen Biegungen und Krümmungen weiße Katzen auf den Dächern schön niederducken“.
Hier macht sich ein brillanter Schriftsteller noch über den letzten Spitzgiebel lustig, aber besonders die honorige Festgesellschaft wird vom „verknitterten Dämchen“ bis zur „niederschwappenden Hängebacke“ satirisch auseinandergenommen.
Wie vielfältig die literarischen Ausdrucksebenen Ferdinand Grimms waren, zeigt sich auch in den Märchen und Sagen, die den Hauptteil des Bandes bilden. Ein routinierter Quellenkenner und eleganter Gestalter zieht hier sämtliche Register: Kohlen verwandeln sich in Gold, ein Zauberer lässt seine Verfolger tanzen, ein rachsüchtiger Zwerg setzt einem Schäfer eine Nebelkappe auf, drei Linden wachsen auf den Gräbern unschuldig zum Tode Verurteilter, der Geist eines grauen Fräuleins geht um, bis ein Bräutigam sie erlöst, und der Waldgeist Rübezahl wird nach seinen Ursprüngen befragt.
Ferdinand scheint ein Spezialinteresse für Zwerge gehabt zu haben, die tief unter der Erde oder genauer: im Berg leben. Ansonsten versucht er, Jacob und Wilhelm nicht ins Gehege zu kommen, und tatsächlich bleibt er mit seinen drei unter Pseudonym verfassten Märchen- und Sagenbänden bedrückend erfolglos. Das Unheimliche und Urtümliche, die unter der Hand wieder losgelassene Wunsch- und Verwünschkraft von Märchen und Sagen, kommt in seinen Texten oft viel besser zur Geltung als in den „offiziellen“ der großen Brüder.
In Ferdinands drittem Band erzählt das Kunstmärchen „Der Weibchenstein“ von einem Mädchen, das aus Kummer zu einem Erdvolk flüchtet. Tief im Berg bewohnt es eine Wunderwelt voller „großmächtiger Tulipane“, „sprenkeliger Fasane“, „zierlich nagender Raupen“ und so weiter; die Sätze quellen vor Adjektiven nur so über und erreichen extreme Lieblichkeit. Trotzdem findet Ferdinand immer wieder zurück zum doppelten Boden seiner souverän erzählten Geschichten.
Die „Burg- und Bergmärchen“ erscheinen 1846 posthum, herausgegeben von einem bis heute unbekannten „B.“. Eine freundliche anonyme Rezension erscheint, die „poetischen Werth“ attestiert. Vielleicht war Ferdinand doch nicht ganz so einsam wie vermutet, spekulieren die Herausgeber, vielleicht gab es einen an ihm und seinen Texten interessierten Wolfenbütteler Freundeskreis. Man kann ihm das, märchengemäß, nur nachträglich wünschen. Für die Gegenwart wünscht man sich mehr Forschung zu Ferdinand – und mehr Geschichten von Zwergenfreunden, Vogelsprachlern und heimlichen Märchenkönigen.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 448 Seiten, 44 Euro.
Ferdinand ist auf Du und
Du mit Bachstelzen
und Rotkehlchen
Eine Wunderwelt voller
„großmächtiger Tulipane“ und
„sprenkeliger Fasane“
Über den zu Lebzeiten nur mäßig erfolgreichen, aber exquisiten Schriftsteller Ferdinand Grimm, den Märchensammlergehilfen seiner berühmten Brüder, ist kaum etwas bekannt.
Foto: Historisches Museum Hanau Schloss Philippsruhe
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wilhelm und Jacob Grimm haderten mit ihrem kaum bekannten jüngeren Bruder Ferdinand. Der war in ihren Augen
faul, seltsam, renitent, verschlossen. Und wohl schwul. Vor allem war er ein genialer Märchenerzähler und brillanter Schriftsteller
VON JUTTA PERSON
Wenn es ein Märchen vom schwarzen Schaf gäbe, würde es wohl eher ungut ausgehen. Vom äußersten Ende her betrachtet, wäre es wahrscheinlich sogar tieftraurig, ein Tod in Armut und Einsamkeit stünde am Schluss. Andererseits wären solche schwarzen Schafgeschichten unvollständig ohne ihr Dazwischen – ihre möglicherweise launigen, betriebsamen oder heimlich geselligen Spuren. Vielleicht sind aber auch die Märchenvorlagen das Problem: weil sie eine so runde wie rabiate Erzählung zusammensetzen und letztlich, mit ihrem ganzen magischen Gerät, auf Sinn und Ordnung aus sind. Meistens jedenfalls.
Ferdinand Grimm wurde 1788 als zweitjüngster Sohn der Familie Grimm in Hanau geboren und starb 1845 ziemlich elend in Wolfenbüttel. Der kaum bekannte Bruder von Jacob und Wilhelm Grimm verleitet notorisch dazu, einen Märchenplot in ein Leben hineinzulesen, das in vielen Abschnitten fast klischeehaft wirkt – eben märchenhaft in seinem Außenseitertum und seiner Pechvogelhaftigkeit: von den sechs Grimm-Geschwistern derjenige, der schon in Jugendjahren als seltsam, faul und widerspenstig galt, der seinen älteren Brüdern beim Sagensammeln zur Hand ging und dafür lobend erwähnt wurde, selbst weiter sammelte und schrieb, aber kein Publikum fand.
Entdeckt wurde Ferdinand Grimm schon in den siebziger Jahren, als der Germanist Heinz Rölleke zusammen mit Gerd Hoffmann eine Textsammlung mit dem Titel „Der unbekannte Bruder Grimm“ herausbrachte. Mittlerweile weiß man mehr, aber längst nicht alles über Ferdinand Grimm – was Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz dazu bewogen hat, einen Wiederentdeckungsband unter dem Titel „Der fremde Ferdinand“ zu veröffentlichen, mit Märchen, Sagen, Briefen, einer Erzählung, Erläuterungen und vor allem: einer höchst spannenden „biografischen Erkundung“, die den Vergessenen wieder ins Bewusstsein ruft. Den Herausgebern geht es darum, den unbekannten Bruder als Märchensammler und Schriftsteller kenntlich zu machen, ohne dabei die Verdienste von Jacob und Wilhelm zu schmälern: „Wir erlauben uns aber, ihrem Bruder Ferdinand die Gerechtigkeit nachzutragen, die sie ihm verweigert haben.“
Was war passiert? Nach dem frühen Tod des Vaters und dann auch der Mutter waren Jacob und Wilhelm in die Ernährerrolle für ihre vier jüngeren Geschwister gerückt. Zeitweise wohnen alle zusammen im Kasseler „Märchenhaus“. Bald schon beschreiben Jacob und Wilhelm ihren Bruder Ferdinand als „träg“, von unbeschreiblicher Faulheit ist die Rede, dazu kommt, durch die Linse der älteren Brüder betrachtet, der verschlossene Charakter eines renitenten Sonderlings. Ferdinand ist auf Du und Du mit Bachstelzen und Rotkehlchen und verwandelt sein Zimmer anscheinend in einen Taubenschlag (nicht metaphorisch gemeint). Seit seiner Kindheit ist er ein begeisterter Vogelbeobachter; nur stempeln die älteren Brüder ihn immer mehr zum „traurigen heiligen Franziskus“ ab. Oder zum losen Vogel, denn sein Herumwandern, die Langschläferei und sein Desinteresse an Gelddingen sind ihnen ein Dorn im Auge. Besonders die Faulheit schwebt wie ein monströser Wunschballon über dieser Familiengeschichte; es klingt, als ob Jacob und Wilhelm, die Ultrafleißigen, lustvoll horrifiziert an dieser Legende stricken. Dabei war Ferdinand alles andere als faul, wie die Grimm-Forscher Boehncke und Sarkowicz überzeugend belegen.
An Weihnachten 1810 muss es zu einem Skandal gekommen sein, über den Jacob und Wilhelm nur düstere Andeutungen von der „Unnatur“ des Bruders machen; die Forschung tappt seither im Dunkeln. Boehnke und Sarkowicz vermuten, dass Ferdinand „sein ‚Coming-out‘ vor der versammelten Festgemeinde mit erheblichem Aufwand inszeniert hat. Jacob und Wilhelm reagierten darauf mit homophoben Reflexen, wie sie, vor allem auch außerhalb von Berlin, seinerzeit nicht unüblich waren.“ Mit seinem Auftritt muss Ferdinand „die andachtsvolle Innerlichkeit im biedermeierlichen Interieur der Familie“ effektvoll gesprengt haben.
Zumindest vorübergehend verschlechtert sich das Verhältnis der Brüder drastisch. 1815 verschaffen Jacob und Wilhelm dem Jüngeren eine Stelle beim Verlagsbuchhändler Reimer in Berlin, wo er fast 20 Jahre lang als Korrektor arbeitet. Die letzten Jahre seines Lebens versucht Ferdinand sein Glück als Schriftsteller in Wolfenbüttel. Finanziell ist er, wie schon oft, auf die Unterstützung der Brüder angewiesen. Allerdings gewähren Jacob und Wilhelm ihm nur das Geld, meistens mit herablassenden Ermahnungen verbunden, das ihm sowieso zusteht: sein Erbe, von dem unklar bleibt, warum es ihm in den letzten, kümmerlichen Jahren nicht ganz ausgezahlt wird. Ferdinand wohnt in einem feuchtem Zimmer zur Miete, ernährt sich von „alter Wurst“ und ist mit Märchen beschäftigt. Als er stirbt, reist Jacob in letzter Minute an und organisiert die Beerdigung.
Es gab aber noch einen zweiten Familienskandal, der direkt in die Literatur führt: 1835 veröffentlichte Ferdinand die Erzählung „Tante Henriette“ in der Mitternachtzeitung für gebildete Stände. Es geht um eine Familie, deren Mitglieder als reale Grimms dechiffrierbar sind und mit süffisantem Schwung verhohnepiepelt werden. Ein Maskenball wird vorbereitet, im Zentrum steht die umtriebige Henriette, Wilhelm Grimms Frau, ihr pedantischer Gatte und dessen Bruder. „Daumendicker Flausch, wie Kant ihn trug“ und „kurze schlottrige schwarzgraue Pantalons“ machen ihn zum schrulligen Kauz. Das gesamte Gebäude ist ein brummender Mikrokosmos, in dem auch die Wäscherinnen – „hagre magre Weiber in schlappen gilbelnden Bänderhauben“ – zu Anschauungsobjekten der Volkstümlichkeit werden, eingerahmt von einer Hexenhauspersiflage: „schwarzer Schornsteinrauch malt über ihnen in der Luft einen langen Satansschweif, vor dessen Biegungen und Krümmungen weiße Katzen auf den Dächern schön niederducken“.
Hier macht sich ein brillanter Schriftsteller noch über den letzten Spitzgiebel lustig, aber besonders die honorige Festgesellschaft wird vom „verknitterten Dämchen“ bis zur „niederschwappenden Hängebacke“ satirisch auseinandergenommen.
Wie vielfältig die literarischen Ausdrucksebenen Ferdinand Grimms waren, zeigt sich auch in den Märchen und Sagen, die den Hauptteil des Bandes bilden. Ein routinierter Quellenkenner und eleganter Gestalter zieht hier sämtliche Register: Kohlen verwandeln sich in Gold, ein Zauberer lässt seine Verfolger tanzen, ein rachsüchtiger Zwerg setzt einem Schäfer eine Nebelkappe auf, drei Linden wachsen auf den Gräbern unschuldig zum Tode Verurteilter, der Geist eines grauen Fräuleins geht um, bis ein Bräutigam sie erlöst, und der Waldgeist Rübezahl wird nach seinen Ursprüngen befragt.
Ferdinand scheint ein Spezialinteresse für Zwerge gehabt zu haben, die tief unter der Erde oder genauer: im Berg leben. Ansonsten versucht er, Jacob und Wilhelm nicht ins Gehege zu kommen, und tatsächlich bleibt er mit seinen drei unter Pseudonym verfassten Märchen- und Sagenbänden bedrückend erfolglos. Das Unheimliche und Urtümliche, die unter der Hand wieder losgelassene Wunsch- und Verwünschkraft von Märchen und Sagen, kommt in seinen Texten oft viel besser zur Geltung als in den „offiziellen“ der großen Brüder.
In Ferdinands drittem Band erzählt das Kunstmärchen „Der Weibchenstein“ von einem Mädchen, das aus Kummer zu einem Erdvolk flüchtet. Tief im Berg bewohnt es eine Wunderwelt voller „großmächtiger Tulipane“, „sprenkeliger Fasane“, „zierlich nagender Raupen“ und so weiter; die Sätze quellen vor Adjektiven nur so über und erreichen extreme Lieblichkeit. Trotzdem findet Ferdinand immer wieder zurück zum doppelten Boden seiner souverän erzählten Geschichten.
Die „Burg- und Bergmärchen“ erscheinen 1846 posthum, herausgegeben von einem bis heute unbekannten „B.“. Eine freundliche anonyme Rezension erscheint, die „poetischen Werth“ attestiert. Vielleicht war Ferdinand doch nicht ganz so einsam wie vermutet, spekulieren die Herausgeber, vielleicht gab es einen an ihm und seinen Texten interessierten Wolfenbütteler Freundeskreis. Man kann ihm das, märchengemäß, nur nachträglich wünschen. Für die Gegenwart wünscht man sich mehr Forschung zu Ferdinand – und mehr Geschichten von Zwergenfreunden, Vogelsprachlern und heimlichen Märchenkönigen.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 448 Seiten, 44 Euro.
Ferdinand ist auf Du und
Du mit Bachstelzen
und Rotkehlchen
Eine Wunderwelt voller
„großmächtiger Tulipane“ und
„sprenkeliger Fasane“
Über den zu Lebzeiten nur mäßig erfolgreichen, aber exquisiten Schriftsteller Ferdinand Grimm, den Märchensammlergehilfen seiner berühmten Brüder, ist kaum etwas bekannt.
Foto: Historisches Museum Hanau Schloss Philippsruhe
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"Boehncke/Sarkowicz machen diesen nie beachteten Ferdinand Grimm endlich sichtbar: mit seinen meist kurzen Volkssagen, den »Burg- und Bergmärchen«, die erst nach seinem Tod erschienen, der Schlüsselerzählung »Tante Henriette«, den Texten aus dem Nachlass und auch mit Briefen, die am Schluss in der ausführlichen, reich illustrierten biografischen Erkundung mitgeteilt werden." Neues Deutschland 20201013