Diese intellektuelle Biographie unternimmt eine grundlegende Revision von Robert Michels’ politischem Werk und Leben. Sie ist nicht nur die bislang umfassendste Gesamtdeutung dieses Klassikers der Politikwissenschaft, sondern auch die erste seit über drei Jahrzehnten. Ihr theoretisches Herzstück ist eine Neuinterpretation von Michels’ berühmter "Soziologie des Parteiwesens" (1911), ihrer pessimistischen, aber auch ihrer demokratiepädagogischen Sinngehalte. Hat die Forschung bisher beim frühen Michels nach Erklärungen für die spätere Wende zum akademischen Botschafter des italienischen Faschismus gesucht, wird hier auf der Basis unbekannten Text- und Archivmaterials der ‚Präfaschist’ Michels als Legende - der Forschung, vor allem aber auch des späten Michels selbst - entlarvt. Dies macht den Blick frei auf den unkonventionellen Sozialdemokraten Michels: als radikaler Liberaler und Republikaner, Feminist, Sexualreformer, Bewegungsforscher, leidenschaftlicher Vertreter des nationalen Selbstbestimmungsrechts und europäischer Pazifist. Das biographische Herzstück bildet Michels’ Rolle im Ersten Weltkrieg, seine resignative Außenseiterposition im Kontext der allgemeinen Kriegsbegeisterung von 1914, aber auch sein proitalienisches Kriegsengagement in den Folgejahren, das seine Fremdheit im Weltkrieg eher zementiert als sie überwindet. Die Rekonstruktion der vielfältigen Brüche seiner Biographie relativiert nicht, sondern präzisiert vielmehr Michels’ politische Verantwortung in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: obwohl kein "Faschist der ersten Stunde", steht Michels für die Erosion des politischen Liberalismus in der Nachkriegszeit und hat diese durch seine publizistische Wirkung noch verstärkt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2008Gesetzesduselig
Robert Michels geht mit der SPD ins Gericht – mit der von 1907
Der Internationalismus war ein programmatisches Kennzeichen der deutschen Arbeiterbewegung und gehörte fest in ihr Geschichtsbild. Bereits für die Zeitgenossen war das internationalistische Credo der deutschen Arbeiterbewegung aber mehr Fassade als politische Substanz. Robert Michels, ein soziologischer Weltenbummler auf dem Weg von links nach rechts, selbst enttäuschter Sozialdemokrat mit weitergehenden Karrierewünschen, später dann Anhänger des Duce, formulierte 1907 eine dezidiert internationalistische Kritik an der deutschen SPD. Sie ist jetzt neben anderen kaum bekannten Texten von Timm Genett kommentiert und in der Reihe „Schriften zur europäischen Ideengeschichte” neu ediert worden (Robert Michels: Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbande (1907), in: Timm Genett (Hrsg.): Robert Michels. Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung. Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Bewegung, (Schriften zur europäischen Ideengeschichte Bd. 2), Akademie Verlag 2008, Berlin 2008, 59,80 Euro). Wir kennen jetzt unter anderem ein erhellendes Detail, nämlich dass Michels der Partei Mussolinis nicht – wie zumeist behauptet - 1921 oder 1923, sondern erst am 6. Juni 1928 beitrat.
Die SPD galt zwar als beeindruckende Organisations- und Mobilisierungsmaschine für „Stimmzettelsiege”. Ihre Schwesterparteien wollten die Deutungshoheit der Genossen aus dem Lande von Marx und Engels jedoch nicht akzeptieren. Vor allem italienische und französische Sozialisten vermissten die politische Aktion – wie etwa nach der Wahlrechtsverschlechterung in Sachsen 1896. Statt dessen hüteten die deutschen Genossen das weitverzweigte Vereinsnetz von den sozialistischen Kinderfreunden bis zum Feuerbestattungsbund wie ihren Augapfel. Ein politischer Massenstreik konnte da nur schaden. Italienische Genossen machten sehr viel ausgiebiger vom Generalstreik Gebrauch. Die deutschen Genossen hielten sie für „gesetzesduselig”. Sie kannten noch nicht einmal den Text der Internationale, auch wenn sie fabelhafte Kongresse ausrichten konnten. So entstand das Bild einer SPD, die dem Gasmann gleicht. Wer sich mit Bienenfleiß „in die Spezialfragen der Fabrikinspektion und der Gewerbegerichte, des Rollmarkensystems in den Konsumvereinsläden und der Gasverbrauchskontrolle bei der kommunalen Gasbeleuchtung eingearbeitet hat”, verlor das große Ganze aus dem Blick. Die Genossen Gasableser, die nicht zündelten, waren für die Revolution unbrauchbar.
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Robert Michels geht mit der SPD ins Gericht – mit der von 1907
Der Internationalismus war ein programmatisches Kennzeichen der deutschen Arbeiterbewegung und gehörte fest in ihr Geschichtsbild. Bereits für die Zeitgenossen war das internationalistische Credo der deutschen Arbeiterbewegung aber mehr Fassade als politische Substanz. Robert Michels, ein soziologischer Weltenbummler auf dem Weg von links nach rechts, selbst enttäuschter Sozialdemokrat mit weitergehenden Karrierewünschen, später dann Anhänger des Duce, formulierte 1907 eine dezidiert internationalistische Kritik an der deutschen SPD. Sie ist jetzt neben anderen kaum bekannten Texten von Timm Genett kommentiert und in der Reihe „Schriften zur europäischen Ideengeschichte” neu ediert worden (Robert Michels: Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbande (1907), in: Timm Genett (Hrsg.): Robert Michels. Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung. Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Bewegung, (Schriften zur europäischen Ideengeschichte Bd. 2), Akademie Verlag 2008, Berlin 2008, 59,80 Euro). Wir kennen jetzt unter anderem ein erhellendes Detail, nämlich dass Michels der Partei Mussolinis nicht – wie zumeist behauptet - 1921 oder 1923, sondern erst am 6. Juni 1928 beitrat.
Die SPD galt zwar als beeindruckende Organisations- und Mobilisierungsmaschine für „Stimmzettelsiege”. Ihre Schwesterparteien wollten die Deutungshoheit der Genossen aus dem Lande von Marx und Engels jedoch nicht akzeptieren. Vor allem italienische und französische Sozialisten vermissten die politische Aktion – wie etwa nach der Wahlrechtsverschlechterung in Sachsen 1896. Statt dessen hüteten die deutschen Genossen das weitverzweigte Vereinsnetz von den sozialistischen Kinderfreunden bis zum Feuerbestattungsbund wie ihren Augapfel. Ein politischer Massenstreik konnte da nur schaden. Italienische Genossen machten sehr viel ausgiebiger vom Generalstreik Gebrauch. Die deutschen Genossen hielten sie für „gesetzesduselig”. Sie kannten noch nicht einmal den Text der Internationale, auch wenn sie fabelhafte Kongresse ausrichten konnten. So entstand das Bild einer SPD, die dem Gasmann gleicht. Wer sich mit Bienenfleiß „in die Spezialfragen der Fabrikinspektion und der Gewerbegerichte, des Rollmarkensystems in den Konsumvereinsläden und der Gasverbrauchskontrolle bei der kommunalen Gasbeleuchtung eingearbeitet hat”, verlor das große Ganze aus dem Blick. Die Genossen Gasableser, die nicht zündelten, waren für die Revolution unbrauchbar.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Timm Genetts 800-Seiten-Werk über Robert Michels hat bei Rezensent Stefan Breuer großen Eindruck hinterlassen. Er sieht darin die erste "intellektuelle Biografie" des Soziologen und Politikwissenschafters, die diesen Namen auch verdient. Er bescheinigt Genett, das umfangreiche Oeuvre des Denkers durchdrungen, seinen Nachlass und die Michels-Forschung sorgfältig ausgewertet sowie die zeitgeschichtlichen Kontexte gründlich erarbeitet zu haben. Und er bescheinigt ihm, Michels in ein neues Licht zu rücken und weit verbreitete Meinungen über ihn umzustoßen. So kommt der Autor seines Erachtens zu einer differenzierten Betrachtung von Michels, sieht den Sozialisten wie den Liberalen, den progressiven Positivisten wie den "pessimistischen Elite-Theoretiker", den demokratischen Nationalisten und den zum Faschismus "Bekehrten". Vorwürfe der Glättung und der Verharmlosung wird es nach Ansicht Breuers gegen Genett sicher geben, aber er betont eindrücklich, dass das Buch derartiges in keiner Weise im Sinn hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"[Es handelt sich] um die erste intellektuelle Biografie des Soziologen und Politikwissenschaftlers, die diese Bezeichnung verdient. Basierend auf der intensiven Durchdringung eines weit verstreuten, in mehreren Sprachen verfassten OEuvre, angereichert durch eine gründliche Auswertung des in Turin lagernden Nachlasses, inspiriert und informiert durch die überaus rege Michels-Forschung in Italien, supplementiert schliesslich durch die sorgfältige Auslotung eines Kontexts, der sich auf so heterogene Gebiete erstreckt wie die Debatten der Zweiten Internationale, die positivistische Kriminalanthropologie, die Weltkriegspublizistik oder den Faschismus, stösst das Achthundert-Seiten-Werk von Timm Genett Kapitel um Kapitel die Meinungen um, die sich über Michels eingebürgert haben." Stefan Breuer in: Neue Zürcher Zeitung, 28. August 2008 "Die späte Karriere des deutsch-italienischen Gelehrten unter dem Faschismus hat jahrzehntelang den Blick auf Michels' überaus reichhaltiges Frühwerk verstellt, dessen Gehalt vom Autor jetzt in seiner außerordentlich verdienstvollen, mit immenser Gründlichkeit erarbeiteten Darstellung erstmals umfassend rekonstruiert worden ist. [...] Genetts magistral[e] Studie [verdient] ein uneingeschränktes Lob und darüber hinaus Beachtung nicht nur derjenigen [...], die sich für die Genese der modernen Sozialwissenschaften interessieren." Hans-Christof Kraus in: Das Historisch-Politische Buch, 56 (2008) 3 "Das Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen." Dr. Steffen Augsberg in: Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht und Parteienforschung, 2008/2009, Heft 15 Eine "gewichtige intellektuelle Biografie" TN in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 13. Januar 2009 "Sein Ziel, die These einer 'faschistischen Präfiguration' von Michels' Werk zu widerlegen, hat Gennett [...] erreicht und einen fesselnd zu lesenden Beitrag zur Politik- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt." Max Bloch in: H-Soz-u-Kult, 27. März 2009 "Genetts Buch ist zweifellos die umfassendste Darstellung des Lebens und des Gesamtwerkes von Michels in deutscher Sprache. Sie ist durchgängig kritisch und konsequent historisch. Trotz des ungeheuren Umfangs wirkt das Buch nicht weitschweifig oder langatmig, es ist vielmehr gut lesbar." Werner Röhr in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 57 (2009) 9