Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.1999Der Herr der Lesarten
Klaus Reichert als Fremdenführer im Reich Shakespeares
Schon 1813 notierte Goethe, es sei über Shakespeare so viel gesagt, dass es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig. Da war Shakespeare durch Lessing, Wieland, Eschenburg, Herder und natürlich durch Ludwig Tieck und August Wilhelm Schlegel schon ein deutscher Nationaldichter geworden. Nach Klaus Reicherts Meinung jedoch in allzu gezähmter und gebändigter Form: "Nur um den Preis seiner Fremdheit konnte Shakespeare zum dritten deutschen Klassiker avancieren." Im Umkreis der vergeblichen deutschen Revolution schauderte man alsbald vor dem Bilde zurück, das sich die Deutschen selber geschaffen hatten. Der gedankenreiche und tatenarme Hamlet als Inbegriff des Deutschen wurde 1844 von Ferdinand Freiligrath vergeblich zum Handeln aufgefordert, bei Gervinus erscheint er 1849 als Symbol des deutschen Scheiterns: "Das Bild, das wir Deutsche in diesem Spiegel vor uns sehen, ist zum Erschrecken ähnlich." Seither haben Reichert zufolge die Mythisierungen nicht aufgehört bis hin zur Ausrufung des "Zeitgenossen Shakespeare" bei Jan Kott.
Der Domestizierung Shakespeares will Reichert durch eine distanzierende Verfahrensweise entgegenwirken, die den wilden und widersprüchlichen Shakespeare zur Kenntlichkeit verfremdet. Der Frankfurter Anglist und Kulturwissenschaftler beginnt mit einer dreifachen Lektüre des "Hamlet". Darin wird der Held zuvörderst seines "denkerischen Nimbus" entkleidet und auch vom Bild des edlen Prinzen, der zu gut für die Welt ist, bleibt wenig übrig. Hamlet erscheint vielmehr als höchst widersprüchliche Symbolfigur einer Sinnkrise, einer tiefen Verunsicherung der Welterfahrung. In ihr bildet sich die freudige und zugleich angstbesetzte Entdeckung des Individuums ab, die sich in der Renaissance vollzog, und das überkreuzt sich sonderbar mit der Einsicht in die Überholtheit eines heldischen Individualismus. Noch in Hamlets Wortspielen kommt die Schwierigkeit zur Sprache, eine individuelle Sicht der Dinge mit der allgemeinen zu vereinbaren. Für Hamlets Konflikte gibt es keine Lösung, so steht am Ende nur eine verzweifelte, eine "regressive Entscheidung zur Untat", der "Wille zur Vernichtung". Hamlets Gewalt freilich entspringt der Ohnmacht, und so verschlägt sie nichts gegen den "skrupellosen legalen Mörder", wie ihn Fortinbras verkörpert.
Reicherts Verfahrensweise bringt die Dialektik von Nähe und Ferne zum Vorschein. Gerade die sozial- und kulturgeschichtliche Distanzierung rückt die individualpsychologische Aktualität ins Licht. So findet man bei Shakespeare die "Grunddispositionen moderner Psyche", aus deren Erscheinungsformen sich das gewaltdurchsetzte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft entziffern lässt. Immer wieder sucht Reichert in Shakespeares Dramen die Widersprüche und Gegensatzbildungen auf, sowohl im Blick auf die Sprache wie die Inhalte und ihre geschichtlichen Hintergründe. Im "Kaufmann von Venedig" hebt er den Prozess der wechselseitigen Brutalisierung hervor, der in einem "Akt der Identitätszerstörung" endet. Der Komödienschluss mildert das nicht ab, bringt vielmehr die Zerstörung des Rechts und die erzwungene Versöhnung durch repressive Toleranz nur umso mehr zur Geltung. Ebenso wenig kann der tragische Untergang des"Othello" vergessen machen, dass dieser Aufgeklärte im gesellschaftlichen Prozess von den Pragmatikern der Macht seiner Ich-Bildung beraubt wird. Umso mehr aber zeigt sich die Notwendigkeit der Distanz, des Takts und des Respekts vor dem Ungesagten für den Ausgleich der Interessen des Ich und des Geltungsanspruchs der Anderen, mag das auch schon bei Shakespeare als verlorene Sache erscheinen.
Die auf die Spitze getriebenen Widersprüche Shakespeares finden in der Geschichte der Zeit oft eine bündige Erklärung. Exemplarisch wird das in Reicherts Verweis auf Francis Bacon deutlich, der die höchsten Ansprüche an das Recht formulierte, um als Lordkanzler der Bestechlichkeit überführt zu werden. Das führt aber in Reicherts Studien nicht zu bündigen Interpretationen. Als Renaissance-Forscher hat er gelernt, den verführerischen Analogien zu widerstehen. Vielmehr plädiert er für die "brüchige Interpretation", für das "Aushalten der Widersprüche". Nicht die aktualisierende Aneignung, sondern die Distanzierung fördert Maximen zu Tage, die auch für die Gegenwart taugen.
So zeigt sich Reichert wie schon in seinem Buch "Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels" (1985) als ein Virtuose des Widerspruchs und der Dialektik des Fremden und des Eigenen. Merkwürdig und fremdartig sei das, was die Liebenden sprächen, sagt Hippolyta in "Sommernachtstraum". Theseus, der Herrscher, stellt dazu nur lapidar fest, dass es jedenfalls nicht wahr sei, und damit scheint eine klare Grenze zwischen Fantasie und pragmatischer Vernunft gezogen. Solche Grenzen in Frage zu stellen weist ins Zentrum der Kunst Shakespeares und bezeichnet zugleich die Verfahrensweise seines Interpreten. Jeder Einfall als "Widerstand gegen das Vorgedachte" erzeugt neue Blicke und neue Widersprüche. So muss sich zwangsläufig der exemplarische Leser Reichert in die melancholisch eingefärbten Widersprüche Shakespeares verwickeln. Keinen Prototyp hat Shakespeare so verspottet wie den Leser, Belesenheit führt bei ihm todsicher zum Scheitern. In seinem vermutlich letzten Drama "Der Sturm" aber hat der Dichter in der Figur des Prospero die Überwindung der Ungunst Fortunas durch Belesenheit verbildlicht. Bei Reichert erscheint jedoch Pospero, der "Leser Macchiavellis", nicht als Pendant des altersweisen und weltmüden Dichters, sondern als "vertriebener Fürst, der sich wieder in den Besitz seiner Herrschaft" bringen will. Am Ende steht das Wunschbild restituierter Herrschaft im Zeichen Fortunas.
Der alt-neue Herrscher aber weiß um die Widersprüche dieser Welt. Unter der Hand macht auch der Vor-Leser Reichert mit Shakespeare dem Vergangenen wie dem Folterinstrumentarium der Jetztzeit den Prozess. Der regressive postmoderne Wille zur Sinnvernichtung ist ihm trotz aller Einsicht in die Ohnmacht des Individuums fern, und so restituiert er virtuell ein versunkenes Reich literaturwissenschaftlicher Herrlichkeit. Das geht natürlich nicht ohne überlegenen Gestus ab. Der aber wird mit so viel Feinheit, Takt und Überredungsgabe zelebriert, dass sich der minder gebildete Shakespeare-Freund gern und dankbar diesem Souverän im Land der Lesarten fügt.
FRIEDMAR APEL
Klaus Reichert: "Der fremde Shakespeare". Carl Hanser Verlag, München und Wien 1998. 352 S., br., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus Reichert als Fremdenführer im Reich Shakespeares
Schon 1813 notierte Goethe, es sei über Shakespeare so viel gesagt, dass es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig. Da war Shakespeare durch Lessing, Wieland, Eschenburg, Herder und natürlich durch Ludwig Tieck und August Wilhelm Schlegel schon ein deutscher Nationaldichter geworden. Nach Klaus Reicherts Meinung jedoch in allzu gezähmter und gebändigter Form: "Nur um den Preis seiner Fremdheit konnte Shakespeare zum dritten deutschen Klassiker avancieren." Im Umkreis der vergeblichen deutschen Revolution schauderte man alsbald vor dem Bilde zurück, das sich die Deutschen selber geschaffen hatten. Der gedankenreiche und tatenarme Hamlet als Inbegriff des Deutschen wurde 1844 von Ferdinand Freiligrath vergeblich zum Handeln aufgefordert, bei Gervinus erscheint er 1849 als Symbol des deutschen Scheiterns: "Das Bild, das wir Deutsche in diesem Spiegel vor uns sehen, ist zum Erschrecken ähnlich." Seither haben Reichert zufolge die Mythisierungen nicht aufgehört bis hin zur Ausrufung des "Zeitgenossen Shakespeare" bei Jan Kott.
Der Domestizierung Shakespeares will Reichert durch eine distanzierende Verfahrensweise entgegenwirken, die den wilden und widersprüchlichen Shakespeare zur Kenntlichkeit verfremdet. Der Frankfurter Anglist und Kulturwissenschaftler beginnt mit einer dreifachen Lektüre des "Hamlet". Darin wird der Held zuvörderst seines "denkerischen Nimbus" entkleidet und auch vom Bild des edlen Prinzen, der zu gut für die Welt ist, bleibt wenig übrig. Hamlet erscheint vielmehr als höchst widersprüchliche Symbolfigur einer Sinnkrise, einer tiefen Verunsicherung der Welterfahrung. In ihr bildet sich die freudige und zugleich angstbesetzte Entdeckung des Individuums ab, die sich in der Renaissance vollzog, und das überkreuzt sich sonderbar mit der Einsicht in die Überholtheit eines heldischen Individualismus. Noch in Hamlets Wortspielen kommt die Schwierigkeit zur Sprache, eine individuelle Sicht der Dinge mit der allgemeinen zu vereinbaren. Für Hamlets Konflikte gibt es keine Lösung, so steht am Ende nur eine verzweifelte, eine "regressive Entscheidung zur Untat", der "Wille zur Vernichtung". Hamlets Gewalt freilich entspringt der Ohnmacht, und so verschlägt sie nichts gegen den "skrupellosen legalen Mörder", wie ihn Fortinbras verkörpert.
Reicherts Verfahrensweise bringt die Dialektik von Nähe und Ferne zum Vorschein. Gerade die sozial- und kulturgeschichtliche Distanzierung rückt die individualpsychologische Aktualität ins Licht. So findet man bei Shakespeare die "Grunddispositionen moderner Psyche", aus deren Erscheinungsformen sich das gewaltdurchsetzte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft entziffern lässt. Immer wieder sucht Reichert in Shakespeares Dramen die Widersprüche und Gegensatzbildungen auf, sowohl im Blick auf die Sprache wie die Inhalte und ihre geschichtlichen Hintergründe. Im "Kaufmann von Venedig" hebt er den Prozess der wechselseitigen Brutalisierung hervor, der in einem "Akt der Identitätszerstörung" endet. Der Komödienschluss mildert das nicht ab, bringt vielmehr die Zerstörung des Rechts und die erzwungene Versöhnung durch repressive Toleranz nur umso mehr zur Geltung. Ebenso wenig kann der tragische Untergang des"Othello" vergessen machen, dass dieser Aufgeklärte im gesellschaftlichen Prozess von den Pragmatikern der Macht seiner Ich-Bildung beraubt wird. Umso mehr aber zeigt sich die Notwendigkeit der Distanz, des Takts und des Respekts vor dem Ungesagten für den Ausgleich der Interessen des Ich und des Geltungsanspruchs der Anderen, mag das auch schon bei Shakespeare als verlorene Sache erscheinen.
Die auf die Spitze getriebenen Widersprüche Shakespeares finden in der Geschichte der Zeit oft eine bündige Erklärung. Exemplarisch wird das in Reicherts Verweis auf Francis Bacon deutlich, der die höchsten Ansprüche an das Recht formulierte, um als Lordkanzler der Bestechlichkeit überführt zu werden. Das führt aber in Reicherts Studien nicht zu bündigen Interpretationen. Als Renaissance-Forscher hat er gelernt, den verführerischen Analogien zu widerstehen. Vielmehr plädiert er für die "brüchige Interpretation", für das "Aushalten der Widersprüche". Nicht die aktualisierende Aneignung, sondern die Distanzierung fördert Maximen zu Tage, die auch für die Gegenwart taugen.
So zeigt sich Reichert wie schon in seinem Buch "Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels" (1985) als ein Virtuose des Widerspruchs und der Dialektik des Fremden und des Eigenen. Merkwürdig und fremdartig sei das, was die Liebenden sprächen, sagt Hippolyta in "Sommernachtstraum". Theseus, der Herrscher, stellt dazu nur lapidar fest, dass es jedenfalls nicht wahr sei, und damit scheint eine klare Grenze zwischen Fantasie und pragmatischer Vernunft gezogen. Solche Grenzen in Frage zu stellen weist ins Zentrum der Kunst Shakespeares und bezeichnet zugleich die Verfahrensweise seines Interpreten. Jeder Einfall als "Widerstand gegen das Vorgedachte" erzeugt neue Blicke und neue Widersprüche. So muss sich zwangsläufig der exemplarische Leser Reichert in die melancholisch eingefärbten Widersprüche Shakespeares verwickeln. Keinen Prototyp hat Shakespeare so verspottet wie den Leser, Belesenheit führt bei ihm todsicher zum Scheitern. In seinem vermutlich letzten Drama "Der Sturm" aber hat der Dichter in der Figur des Prospero die Überwindung der Ungunst Fortunas durch Belesenheit verbildlicht. Bei Reichert erscheint jedoch Pospero, der "Leser Macchiavellis", nicht als Pendant des altersweisen und weltmüden Dichters, sondern als "vertriebener Fürst, der sich wieder in den Besitz seiner Herrschaft" bringen will. Am Ende steht das Wunschbild restituierter Herrschaft im Zeichen Fortunas.
Der alt-neue Herrscher aber weiß um die Widersprüche dieser Welt. Unter der Hand macht auch der Vor-Leser Reichert mit Shakespeare dem Vergangenen wie dem Folterinstrumentarium der Jetztzeit den Prozess. Der regressive postmoderne Wille zur Sinnvernichtung ist ihm trotz aller Einsicht in die Ohnmacht des Individuums fern, und so restituiert er virtuell ein versunkenes Reich literaturwissenschaftlicher Herrlichkeit. Das geht natürlich nicht ohne überlegenen Gestus ab. Der aber wird mit so viel Feinheit, Takt und Überredungsgabe zelebriert, dass sich der minder gebildete Shakespeare-Freund gern und dankbar diesem Souverän im Land der Lesarten fügt.
FRIEDMAR APEL
Klaus Reichert: "Der fremde Shakespeare". Carl Hanser Verlag, München und Wien 1998. 352 S., br., 39,80 DM.
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