Er liegt am Boden, eine junge Frau kniet neben ihm und hält den Kopf des Sterbenden, ein schmaler, junger Mann, den Blick zur Seite gerichtet. Das Bild wird zur Ikone, es wird Hunderttausende auf die Straße treiben, aber wer ist der junge Mann, wer hätte er sein können?
Benno Ohnesorg, 1967 auf der Anti-Schah-Demonstration in Berlin erschossen, war Uwe Timms Freund und Gefährte, als beide Anfang der sechziger Jahre am Braunschweig-Kolleg das Abitur nachholten. Uwe Timm erzählt von dieser gewaltsam beendeten frühen Freundschaft, von den Erfahrungen einer Generation und vom Aufbruch eines Schriftstellers.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Benno Ohnesorg, 1967 auf der Anti-Schah-Demonstration in Berlin erschossen, war Uwe Timms Freund und Gefährte, als beide Anfang der sechziger Jahre am Braunschweig-Kolleg das Abitur nachholten. Uwe Timm erzählt von dieser gewaltsam beendeten frühen Freundschaft, von den Erfahrungen einer Generation und vom Aufbruch eines Schriftstellers.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2005Der Tod des schönen, fremden Freundes
Uwe Timm hat ein Buch über seinen Schulkameraden Benno Ohnesorg geschrieben
"Warten Sie, ich zeig' Ihnen was", sagt Uwe Timm, öffnet im Arbeitszimmer seiner Wohnung eine Schublade und holt ein paar Bilder und Papiere heraus. Draußen fährt eben wieder die Trambahn vorbei, ein kurzes Klingeln und ein Heulen, und man fragt sich, wie er hier überhaupt schreiben kann, mit dieser Geräuschkulisse, mit den Unterbrechungen im Zehn-Minuten-Takt. Das Arbeitszimmer ist sorgsam aufgeräumt, der Schreibtisch fast leer: ein paar gespitzte Bleistifte liegen darauf, das Manuskript eines Freundes, der berühmte Pottwalzahn aus dem Roman "Rot" und Uwe Tellkamps "Eisvogel". Der Himmel über dem Englischen Garten ist wolkenverhangen. Es nieselt. Also gibt es Friesentee mit viel Milch.
"Gucken Sie mal!" Er zeigt auf eins der Fotos. Da stehen sie: Uwe Timm und Benno Ohnesorg in schwarzen Badehosen, im Sommer 1962 im Braunschweiger Freibad an der Oker. Der eine etwas dünner und blasser als der andere, die Arme umeinandergelegt. Zwei Freunde, zwei Klassenkameraden, die das Abitur nachholten. Beide hatten sie eine Lehre gemacht, Benno Ohnesorg als "Schaufenstergestalter", Uwe Timm als Kürschner, hatten gearbeitet, aber die Arbeit befriedigte sie nicht. Sie wollten studieren, Zeit zum Lesen haben, schreiben. Timm holt unter den Papieren das andere Bild vom erschossenen Benno Ohnesorg hervor, das nach dem 2. Juni 1967 als Ikone um die Welt ging und Hunderttausende auf die Straßen trieb. Beide Fotos gehören zu den Koordinaten seines neuen Buchs "Der Freund und der Fremde". Er nennt es eine "Erzählung". Aber es ist auch Autobiographie und ein Requiem für Benno Ohnesorg.
Reine Empörung
"Ich habe mehrere Anläufe gemacht, dieses Buch zu schreiben", erzählt er. "Ich war gerade in Paris, als ich von seinem Tod erfuhr, promovierte dort über ,Das Problem der Absurdität bei Camus'. Ich war in meiner Wohnung und hörte leise Radio, und ich weiß noch, daß in den Nachrichten über de Gaulles Waffenembargo für den Nahen Osten berichtet wurde und dann davon, daß es am Vortag anläßlich des Schahbesuchs in Berlin zu Ausschreitungen gekommen und ein Student erschossen worden war. Der Name fiel, aber ich war mir nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte, rief in Deutschland an. Er war es. Der erste Anlauf konnte also nichts als reine Empörung sein. Dann hatte ich Bedenken, über ihn zu schreiben, weil sein Name so bekannt war und meiner nicht. Später beschloß ich, eine Geschichte über drei Menschen zu erzählen: über ihn, über die unbekannte Frau, die auf dem Foto neben Benno Ohnesorg kniet, und über den Zivilfahnder Kurras, der ihn erschossen hat. Aber auch das habe ich wieder verworfen."
Ja, warum eigentlich? In "Der Freund und der Fremde" gibt es am Ende eine Szene, in der der Erzähler vor Kurras' Haustür steht. Er will klingeln, geht dann aber wieder zurück, was man beim Lesen erst mal schade findet. Denn die gegenläufigen Geschichten von Ohnesorg und Kurras wären wie ein weiteres Kapitel aus der "Blackbox BRD" gewesen, wie ein Vorläufer-Drama zu dem, was Andres Veiel für Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen gezeigt hat, zwei deutsche Biographien. "Warum haben Sie denn nicht geklingelt?"
Timm schenkt Tee nach. "Na ja, ich denke, daß der erste Furor, den ich hatte, und natürlich nicht nur ich, sondern meine Generation, daß dieser Furor bei mir unter anderem eben auch durch das Schreiben nachgelassen hat. Ich hatte, wenn Sie so wollen, nicht mehr die ausreichende Neugierde, diesen Mann zu sehen, der, da bin ich sicher, das gesagt hätte, was er immer gesagt hat." Vor der 14. Strafkammer des Landgerichts Berlin hatte sich Kurras, mit Pomade im Haar, beflissen bis devot gezeigt - und trotzig, wenn Zeugen seine Version von Messerstechern in der Menge in Frage stellten. "Er hat sich auch einem psychologischen Test entzogen. Da war eine Sperre. Vor seiner Tür dachte ich, das reicht. Es begann ein leichter Nieselregen, wie jetzt, also bin ich zurück zur U-Bahnstation."
Uwe Timm hat kein reißerisches Buch über den 2. Juni geschrieben. Ohnehin paßt das Reißerische nicht zu ihm. Eher ist er doch ein skrupulöser Mensch. Was ihn hier interessiert, ist die Schwelle davor: Wie junge Menschen wie verrückt die Existentialisten lesen, Sartre und vor allem Camus, und vom politischen Existentialismus mit Marcuse zur politischen Revolte kommen. "Der Freund und der Fremde" spielt in der Schwarze-Rollpulli-Zeit, in der selbstgewiß und manchmal etwas zu angestrengt alle von der "Unabhängigkeit" zu reden beginnen, zur Freiheit verdammt sind, wie Sisyphos hadern und trotzdem glückliche Menschen sein wollen. Und eben das ist faszinierend, weil es mit einer enormen Distanz einerseits zu sich selbst, andererseits zum "Freund" geschrieben ist (er sagt immer "der Freund", einfach nur "Benno" geht ihm nicht über die Lippen). So wie in "Am Beispiel meines Bruders" der andere, also der Bruder, eine Art Alibifunktion hat, die es über Umwege erlaubt, von sich zu sprechen, ist es auch hier: Der Schreibende sucht sich selbst im fremden Freund.
"Sagen Sie mal, war es mitunter nicht auch etwas nervtötend, all die Bücher wiederzulesen, die Sie und Benno Ohnesorg damals aufgesogen haben und die Sie zum Teil ja auch zitieren?" Sicher seien sie damals sehr selbstgewiß gewesen, gerade was die Lektüre anging. Er räumt das sofort ein. Seine eigenen Sachen habe er aus dem Archiv des Braunschweiger Kollegs auch gar nicht bestellt. Vielleicht aus genau diesem Grund.
Tatsächlich sind die Briefe Benno Ohnesorgs, die er in das Buch aufgenommen hat - den an den Schuldirektor in Braunschweig zum Beispiel - in einer Weise bildungsbeflissen, die aus der historischen Distanz bizarr anmutet: "Ich beschäftige mich hauptsächlich ,bildend', schreibt der 19jährige Ohnesorg. "Ich male, zeichne und mache Linolschnitte und Plastiken. Ich besuche Ausstellungen der Kestner-Gesellschaft, des Kunstvereins und der Galerie Seide in Hannover. In der Literatur bevorzuge ich die moderne Lyrik (seit Baudelaire) und das Drama (Griechen, Shakespeare, Drama der Gegenwart). Ich höre literarische Vorträge und die Konzerte der Kammermusikgemeinde und der Reihe ,Meister am Klavier'. Seit Januar 1959 lese ich die ,Deutsche Zeitung für Kunst und Literatur: Panorama'." Ist das nicht ein bißchen so, wie wenn man heute angeben würde, den "Klavier-Kaiser" zu hören?
"Sie müssen das vor dem Hintergrund verstehen", meint Timm, "daß wir beide von der Arbeit kamen. Wir standen auf glühenden Kohlen! Wenn man Mädchen davon erzählte, dann ächzten die natürlich. Und was Camus und den ,Fremden' betrifft: Haben Sie je ein literarisches Buch gelesen, das sie zu Taten ermutigt hat? Damals führte die Lektüre zu einer entschiedeneren Haltung. Man machte radikale Schnitte. Ich habe eine ganze Doktorarbeit weggeschmissen, von der ich heute glaube, daß sie die bessere gewesen ist, und noch einmal von vorne angefangen. Das war so ein Schnitt. Im Privaten führte dieser Furor zu ruppigen Trennungen, was am Ende auch mit Benno Ohnesorg so war. Eigentlich hatten wir vorgehabt, zusammen nach Berlin zu gehen. Ich aber ging, wegen eines Mädchens, nach München. Daß er deswegen mit mir haderte, wußte ich lange nicht. Seine Witwe hat es mir später erzählt."
Uwe Timm ist 68er. Das läßt sich nicht bestreiten. Von Camus kam er zur Revolte, beteiligte sich an der Studentenbewegung und an marxistischen Gruppen, glaubte an die Revolution und verbrachte vermutlich sehr viel Zeit in Wohngemeinschaften. Wenn er diese Zeit in seinen Büchern zur Sprache bringt, in "Rot" zum Beispiel oder, vorher, in "Heißer Sommer" oder "Kerbels Flucht", geschieht dies jedoch nie ohne Selbstironie, nie ohne Distanz. Zwiespältig sind seine Figuren, und zwiespältig ist auch die Konstruktion von "Der Freund und der Fremde", die zwischen Zeitebenen hin und her wechselt und in diesem Changieren eine Schwellenzeit auslotet.
Die Mädchen ächzten
"Wie reagieren Sie denn darauf, daß heute immerzu auf die 68er eingedroschen wird? Sie lesen doch gerade Uwe Tellkamps ,Eisvogel'", fragt man ihn. Doch winkt er ab. Von Tellkamp habe er erst ein paar Seiten gelesen, da könne er noch nichts sagen. Aber was man sonst höre, das sei doch Stammtischgerede und absolut blöde. Bis jetzt hat er ruhig in seinem Schreibtischstuhl gesessen, war sozusagen gar nicht aus der Ruhe zu bringen. Jetzt echauffiert er sich: "Daß man heute einfach so ein Mädchen kennenlernen kann, ohne Anbahnungsprozesse, die dem spanischen Hofzeremoniell gleichen, daß es ein größeres Maß an Mitbestimmung gibt, Homosexuelle sich outen können, Psychiatrien keine Strafanstalten mehr sind - all das ist immerhin eine Folge von achtundsechzig!"
Trotzdem, das müsse er zugeben, komme es ihm manchmal so vor, als ob die Situation heute, da sie von Ratlosigkeit bestimmt sei und da in ihr alles eingeödet scheine, so ähnlich anmute, wie die vor achtundsechzig. Lähmung und Stillstand. Weil die jungen Menschen keine Jobs haben, kann wieder so etwas wie Einschüchterung stattfinden, verfestigen sich autoritäre Verhältnisse. Erst vorhin habe er eine junge Regisseurin getroffen, die davon erzählte, wie Redakteure sich aufführen wie Halbgötter. Das war mal anders.
Erwartet uns also wieder eine Revolution? Das wisse er natürlich auch nicht. "Aber vielleicht beginnt man ja wieder darüber nachzudenken, wie es anders sein könnte." Er faltet den Personalbogen aus dem Braunschweiger Kolleg zusammen. "Benno Ohnesorg, geboren am 15. 10. 1940" steht unter dem Paßfoto, das einen hübschen und sehr ernsten Jungen zeigt. "Er war ja gar nicht besonders politisiert", sagt Timm mit Blick auf das Bild. "Er hatte Nirumands Buch ,Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt' gelesen und war deshalb zur Demonstration gegangen. Er war kein Krakeeler, und das hat zur Empörung beigetragen. Die stärkste Theorie bleibt leer und abstrakt, wenn sie nicht getragen wird von etwas." Im Sommer 1967 wurde sie getragen durch das Bild des toten Benno Ohnesorg.
JULIA ENCKE
Uwe Timm: "Der Freund und der Fremde". Kiepenheuer und Witsch. 176 Seiten. 16,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Timm hat ein Buch über seinen Schulkameraden Benno Ohnesorg geschrieben
"Warten Sie, ich zeig' Ihnen was", sagt Uwe Timm, öffnet im Arbeitszimmer seiner Wohnung eine Schublade und holt ein paar Bilder und Papiere heraus. Draußen fährt eben wieder die Trambahn vorbei, ein kurzes Klingeln und ein Heulen, und man fragt sich, wie er hier überhaupt schreiben kann, mit dieser Geräuschkulisse, mit den Unterbrechungen im Zehn-Minuten-Takt. Das Arbeitszimmer ist sorgsam aufgeräumt, der Schreibtisch fast leer: ein paar gespitzte Bleistifte liegen darauf, das Manuskript eines Freundes, der berühmte Pottwalzahn aus dem Roman "Rot" und Uwe Tellkamps "Eisvogel". Der Himmel über dem Englischen Garten ist wolkenverhangen. Es nieselt. Also gibt es Friesentee mit viel Milch.
"Gucken Sie mal!" Er zeigt auf eins der Fotos. Da stehen sie: Uwe Timm und Benno Ohnesorg in schwarzen Badehosen, im Sommer 1962 im Braunschweiger Freibad an der Oker. Der eine etwas dünner und blasser als der andere, die Arme umeinandergelegt. Zwei Freunde, zwei Klassenkameraden, die das Abitur nachholten. Beide hatten sie eine Lehre gemacht, Benno Ohnesorg als "Schaufenstergestalter", Uwe Timm als Kürschner, hatten gearbeitet, aber die Arbeit befriedigte sie nicht. Sie wollten studieren, Zeit zum Lesen haben, schreiben. Timm holt unter den Papieren das andere Bild vom erschossenen Benno Ohnesorg hervor, das nach dem 2. Juni 1967 als Ikone um die Welt ging und Hunderttausende auf die Straßen trieb. Beide Fotos gehören zu den Koordinaten seines neuen Buchs "Der Freund und der Fremde". Er nennt es eine "Erzählung". Aber es ist auch Autobiographie und ein Requiem für Benno Ohnesorg.
Reine Empörung
"Ich habe mehrere Anläufe gemacht, dieses Buch zu schreiben", erzählt er. "Ich war gerade in Paris, als ich von seinem Tod erfuhr, promovierte dort über ,Das Problem der Absurdität bei Camus'. Ich war in meiner Wohnung und hörte leise Radio, und ich weiß noch, daß in den Nachrichten über de Gaulles Waffenembargo für den Nahen Osten berichtet wurde und dann davon, daß es am Vortag anläßlich des Schahbesuchs in Berlin zu Ausschreitungen gekommen und ein Student erschossen worden war. Der Name fiel, aber ich war mir nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte, rief in Deutschland an. Er war es. Der erste Anlauf konnte also nichts als reine Empörung sein. Dann hatte ich Bedenken, über ihn zu schreiben, weil sein Name so bekannt war und meiner nicht. Später beschloß ich, eine Geschichte über drei Menschen zu erzählen: über ihn, über die unbekannte Frau, die auf dem Foto neben Benno Ohnesorg kniet, und über den Zivilfahnder Kurras, der ihn erschossen hat. Aber auch das habe ich wieder verworfen."
Ja, warum eigentlich? In "Der Freund und der Fremde" gibt es am Ende eine Szene, in der der Erzähler vor Kurras' Haustür steht. Er will klingeln, geht dann aber wieder zurück, was man beim Lesen erst mal schade findet. Denn die gegenläufigen Geschichten von Ohnesorg und Kurras wären wie ein weiteres Kapitel aus der "Blackbox BRD" gewesen, wie ein Vorläufer-Drama zu dem, was Andres Veiel für Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen gezeigt hat, zwei deutsche Biographien. "Warum haben Sie denn nicht geklingelt?"
Timm schenkt Tee nach. "Na ja, ich denke, daß der erste Furor, den ich hatte, und natürlich nicht nur ich, sondern meine Generation, daß dieser Furor bei mir unter anderem eben auch durch das Schreiben nachgelassen hat. Ich hatte, wenn Sie so wollen, nicht mehr die ausreichende Neugierde, diesen Mann zu sehen, der, da bin ich sicher, das gesagt hätte, was er immer gesagt hat." Vor der 14. Strafkammer des Landgerichts Berlin hatte sich Kurras, mit Pomade im Haar, beflissen bis devot gezeigt - und trotzig, wenn Zeugen seine Version von Messerstechern in der Menge in Frage stellten. "Er hat sich auch einem psychologischen Test entzogen. Da war eine Sperre. Vor seiner Tür dachte ich, das reicht. Es begann ein leichter Nieselregen, wie jetzt, also bin ich zurück zur U-Bahnstation."
Uwe Timm hat kein reißerisches Buch über den 2. Juni geschrieben. Ohnehin paßt das Reißerische nicht zu ihm. Eher ist er doch ein skrupulöser Mensch. Was ihn hier interessiert, ist die Schwelle davor: Wie junge Menschen wie verrückt die Existentialisten lesen, Sartre und vor allem Camus, und vom politischen Existentialismus mit Marcuse zur politischen Revolte kommen. "Der Freund und der Fremde" spielt in der Schwarze-Rollpulli-Zeit, in der selbstgewiß und manchmal etwas zu angestrengt alle von der "Unabhängigkeit" zu reden beginnen, zur Freiheit verdammt sind, wie Sisyphos hadern und trotzdem glückliche Menschen sein wollen. Und eben das ist faszinierend, weil es mit einer enormen Distanz einerseits zu sich selbst, andererseits zum "Freund" geschrieben ist (er sagt immer "der Freund", einfach nur "Benno" geht ihm nicht über die Lippen). So wie in "Am Beispiel meines Bruders" der andere, also der Bruder, eine Art Alibifunktion hat, die es über Umwege erlaubt, von sich zu sprechen, ist es auch hier: Der Schreibende sucht sich selbst im fremden Freund.
"Sagen Sie mal, war es mitunter nicht auch etwas nervtötend, all die Bücher wiederzulesen, die Sie und Benno Ohnesorg damals aufgesogen haben und die Sie zum Teil ja auch zitieren?" Sicher seien sie damals sehr selbstgewiß gewesen, gerade was die Lektüre anging. Er räumt das sofort ein. Seine eigenen Sachen habe er aus dem Archiv des Braunschweiger Kollegs auch gar nicht bestellt. Vielleicht aus genau diesem Grund.
Tatsächlich sind die Briefe Benno Ohnesorgs, die er in das Buch aufgenommen hat - den an den Schuldirektor in Braunschweig zum Beispiel - in einer Weise bildungsbeflissen, die aus der historischen Distanz bizarr anmutet: "Ich beschäftige mich hauptsächlich ,bildend', schreibt der 19jährige Ohnesorg. "Ich male, zeichne und mache Linolschnitte und Plastiken. Ich besuche Ausstellungen der Kestner-Gesellschaft, des Kunstvereins und der Galerie Seide in Hannover. In der Literatur bevorzuge ich die moderne Lyrik (seit Baudelaire) und das Drama (Griechen, Shakespeare, Drama der Gegenwart). Ich höre literarische Vorträge und die Konzerte der Kammermusikgemeinde und der Reihe ,Meister am Klavier'. Seit Januar 1959 lese ich die ,Deutsche Zeitung für Kunst und Literatur: Panorama'." Ist das nicht ein bißchen so, wie wenn man heute angeben würde, den "Klavier-Kaiser" zu hören?
"Sie müssen das vor dem Hintergrund verstehen", meint Timm, "daß wir beide von der Arbeit kamen. Wir standen auf glühenden Kohlen! Wenn man Mädchen davon erzählte, dann ächzten die natürlich. Und was Camus und den ,Fremden' betrifft: Haben Sie je ein literarisches Buch gelesen, das sie zu Taten ermutigt hat? Damals führte die Lektüre zu einer entschiedeneren Haltung. Man machte radikale Schnitte. Ich habe eine ganze Doktorarbeit weggeschmissen, von der ich heute glaube, daß sie die bessere gewesen ist, und noch einmal von vorne angefangen. Das war so ein Schnitt. Im Privaten führte dieser Furor zu ruppigen Trennungen, was am Ende auch mit Benno Ohnesorg so war. Eigentlich hatten wir vorgehabt, zusammen nach Berlin zu gehen. Ich aber ging, wegen eines Mädchens, nach München. Daß er deswegen mit mir haderte, wußte ich lange nicht. Seine Witwe hat es mir später erzählt."
Uwe Timm ist 68er. Das läßt sich nicht bestreiten. Von Camus kam er zur Revolte, beteiligte sich an der Studentenbewegung und an marxistischen Gruppen, glaubte an die Revolution und verbrachte vermutlich sehr viel Zeit in Wohngemeinschaften. Wenn er diese Zeit in seinen Büchern zur Sprache bringt, in "Rot" zum Beispiel oder, vorher, in "Heißer Sommer" oder "Kerbels Flucht", geschieht dies jedoch nie ohne Selbstironie, nie ohne Distanz. Zwiespältig sind seine Figuren, und zwiespältig ist auch die Konstruktion von "Der Freund und der Fremde", die zwischen Zeitebenen hin und her wechselt und in diesem Changieren eine Schwellenzeit auslotet.
Die Mädchen ächzten
"Wie reagieren Sie denn darauf, daß heute immerzu auf die 68er eingedroschen wird? Sie lesen doch gerade Uwe Tellkamps ,Eisvogel'", fragt man ihn. Doch winkt er ab. Von Tellkamp habe er erst ein paar Seiten gelesen, da könne er noch nichts sagen. Aber was man sonst höre, das sei doch Stammtischgerede und absolut blöde. Bis jetzt hat er ruhig in seinem Schreibtischstuhl gesessen, war sozusagen gar nicht aus der Ruhe zu bringen. Jetzt echauffiert er sich: "Daß man heute einfach so ein Mädchen kennenlernen kann, ohne Anbahnungsprozesse, die dem spanischen Hofzeremoniell gleichen, daß es ein größeres Maß an Mitbestimmung gibt, Homosexuelle sich outen können, Psychiatrien keine Strafanstalten mehr sind - all das ist immerhin eine Folge von achtundsechzig!"
Trotzdem, das müsse er zugeben, komme es ihm manchmal so vor, als ob die Situation heute, da sie von Ratlosigkeit bestimmt sei und da in ihr alles eingeödet scheine, so ähnlich anmute, wie die vor achtundsechzig. Lähmung und Stillstand. Weil die jungen Menschen keine Jobs haben, kann wieder so etwas wie Einschüchterung stattfinden, verfestigen sich autoritäre Verhältnisse. Erst vorhin habe er eine junge Regisseurin getroffen, die davon erzählte, wie Redakteure sich aufführen wie Halbgötter. Das war mal anders.
Erwartet uns also wieder eine Revolution? Das wisse er natürlich auch nicht. "Aber vielleicht beginnt man ja wieder darüber nachzudenken, wie es anders sein könnte." Er faltet den Personalbogen aus dem Braunschweiger Kolleg zusammen. "Benno Ohnesorg, geboren am 15. 10. 1940" steht unter dem Paßfoto, das einen hübschen und sehr ernsten Jungen zeigt. "Er war ja gar nicht besonders politisiert", sagt Timm mit Blick auf das Bild. "Er hatte Nirumands Buch ,Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt' gelesen und war deshalb zur Demonstration gegangen. Er war kein Krakeeler, und das hat zur Empörung beigetragen. Die stärkste Theorie bleibt leer und abstrakt, wenn sie nicht getragen wird von etwas." Im Sommer 1967 wurde sie getragen durch das Bild des toten Benno Ohnesorg.
JULIA ENCKE
Uwe Timm: "Der Freund und der Fremde". Kiepenheuer und Witsch. 176 Seiten. 16,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.09.2005Wir wollten der feigen Ironie entsagen
Literatur an der eigenen Haut erleben: Uwe Timms Erzählung über Benno Ohnesorg „Der Freund und der Fremde”
„Auf allen Gebieten der Kunst bemühe ich mich um das Verständnis für das gegenwärtige Schaffen”, schreibt im November 1959 der junge Schaufenstergestalter Benno Ohnesorg in einem Brief an den Direktor des Braunschweig-Kollegs, wo er sein Abitur nachholen möchte. Das ist ein Satz, in dem der kulturelle Habitus einer ganzen Generation wie in der Nussschale enthalten scheint - das Hochgestimmte, Ernsthafte, Ironieferne und Bildungswillige einer Jugend, die Abschied von den Eltern nimmt, indem sie „literarische Vorträge” hört „und die Konzerte der Kammermusikgemeinde und der Reihe Meister am Klavier”.
Hier stellt das Zeitgenössische noch einen Prüfstein dar, dem man sich mit heiligem Eifer zu widmen verspricht. Von Pop, Drogen und Rebellion scheint diese moderne Kunst samt ihren Jüngern noch meilenweit entfernt. In dem Satz des jungen Benno Ohnesorg spiegelt sich die geistige Situation von 1959. Ebenso zeitspezifisch ist wohl der erklärte Wille, eine als beengend empfundene soziale Herkunft durch kulturelle Bildung zu überwinden - eine Bildung, die dem Nützlichen und Praktischen stolz den Rücken kehrt. Das Nützliche und Praktische haben junge Männer wie Ohnesorg schon sattsam erlebt, als Dekorateur oder, wie Uwe Timm, sein Freund und Kollege in Braunschweiger Tagen, als Kürschner. Den Satz aus Ohnesorgs Brief hätte auch er selbst schreiben können, bemerkt Uwe Timm, und wahrscheinlich mit ihm viele andere, die wie Ohnesorg und Timm auf dem zweiten Bildungsweg nachholten, was ihnen auf dem ersten unzugänglich geblieben war. Mit ihrem hartnäckig verfolgten Vorsatz, die Enge ihrer Ausbildung durch Bildung zu überwinden, verkörpern die jungen Männer aus dem Braunschweig-Kolleg (Frauen waren, berichtet Uwe Timm, die Ausnahme) einen Typus des sozialen Aufsteigers, wie er in der heutigen Bildungslandschaft kaum mehr vorgesehen ist.
Das Problem der Absurdität
Gut dreißig Jahre nach der gemeinsamen Zeit mit Ohnesorg in Braunschweig und fast dreißig Jahre nach dessen gewaltsamem Tod am 2. Juni 1967 in Berlin hat Uwe Timm Nachforschungen über seinen Freund angestellt. Er hat mit Ohnesorgs Sohn gesprochen, der um sich den Hausrat seiner verstorbenen Eltern und Großeltern geschart hat und es nicht über sich bringt, etwas wegzuwerfen. Er hat mit der Frau gesprochen, die auf dem Pressefoto des sterbend am Boden liegenden Benno Ohnesorg neben ihm kniet, und er hat sich auf den Weg zu Karl-Heinz Kurras gemacht, dem Polizisten, der Ohnesorg erschossen hat. Vor Kurras Tür stehend, zögert Timm, und geht schließlich weg, ohne geklingelt zu haben. So bleiben seine Nachforschungen bewusst lückenhaft. Uwe Timm ist kein Reporter und will auch keiner sein. Dazu fehlt ihm das Investigative und auch das Insistierende. Nicht um den (oft genug aufgerollten) Fall Ohnesorg geht es in seiner Erzählung; so gesehen, ist das Ausweichen vor einer - ohnehin kaum ergiebigen - Konfrontation mit Kurras nur konsequent.
Ohnehin heißt die Hauptfigur seines Buches nicht Benno Ohnesorg, sondern Uwe Timm. Dazu tritt als Dritter im Bunde „der Fremde”. Man könnte Timms Buch ein autobiographisches Porträt selbdritt nennen: mit Uwe Timm in der Mitte, und mit zwei Brüdern im Geiste, die ihn flankieren, mit Benno Ohnesorg auf der einen und mit Camus „Fremdem”, mit Meursault, auf der anderen Seite. Der Schriftsteller Uwe Timm, um dessen „formative years” es in diesem Buch in erster Linie geht, ist ohne den Einfluss und das übermächtige Vorbild von Camus nicht zu denken. Im Frühsommer 1967, als ihn die Nachricht von Ohnesorgs Tod erreicht, schreibt Timm in Paris an einer Dissertation, die dem „Problem der Absurdität bei Camus” gewidmet ist. Unter dem Eindruck der Berliner Ereignisse und zunehmend in den Bann der Studentenbewegung gezogen, wird er die schon beendete Dissertation in kleine Stücke reißen. Jahre später nimmt er die Arbeit am selben Thema wieder auf und reicht eine neue, politisch geschärfte Fassung ein. Das Vorbild des Fremden und seiner „indifférence” hat, zumindest vorübergehend, ausgedient. Aber das ist schon nicht mehr die Geschichte dieses Buches.
Wäre Timms Erzählung vom eigenen Bildungsweg, von seiner Lehrzeit als Kürschner, der frühen Übernahme des väterlichen Geschäfts, dem Eintritt ins Begabtenkolleg und dem späteren Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in München und Paris, und wäre die Geschichte seiner Freundschaft mit dem ähnlich gestimmten und dann doch wieder grundverschiedenen Benno Ohnesorg weniger aufschlussreich, wenn Ohnesorg nicht zufällig als Opfer der „putativen Notwehr” des Polizisten Kurras tragische Prominenz erlangt hätte? Wohl kaum. Seine Wirkung rührt daher, dass es von Gefühlslagen und Denkweisen berichtet, die weit über die hier ins Bild gerückten Individuen hinaus das Signum einer Generation waren. In dem scheuen Hochmut der literarischen Enthusiasten, die sich am Ufer der Oker ihre Gedichte vorlesen und die zugleich an der Aufgabe verzweifeln, ein Mädchen kunstgerecht anzusprechen, drückt sich ein Wille zur Absonderung von der Gesellschaft aus, der ironischerweise binnen weniger Jahre in den gewaltigen Kollektivtaumel der Studentenbewegung mündet. Dass der Aufruhr von 1968 auch und gerade das Werk der zarter Besaiteten, der Leser und Träumer gewesen ist, ruft Timms Buch nachdrücklich in Erinnerung.
Noch heute, so scheint es, lässt sich der Erzähler vom idealistischen Elan seines jungen Selbst gern anstecken. „Der junge Mann, der ich war”, schreibt er einmal in elegischem Ton, „saß am Fenster des Wohnheims und schrieb, draußen rauschte der Wind, und der Wind war wie das schäumende Brechen der Wogen. Er schrieb an einer Sprache der Liebe, an einem Versuch, der Distanz, der indifférence zu entkommen, die er ja selbst gewählt hatte, ein Widerspruch, der doch sogleich hätte einsichtig sein müssen für ihn, es aber nicht war, weil er darin verstrickt und ohne Distanz zu sich war.” Ist das nun die Sprache des jungen Mannes oder die des heutigen Erzählers?
Juvenile Selbstermächtigung
Den jungen Mann, der in die Haut des Fremden geschlüpft ist und die Probleme der großen Literatur an sich selbst zu erleben glaubt, kann man verstehen. Der Erzähler, der dies vierzig Jahre später noch einmal reflexiv vergegenwärtigt, müsste dahinter auch die Pose, das Modische, die juvenile Selbstermächtigung wahrnehmen. Dem jungen Mann stand es nicht zu Gebote, mit seiner Bildung lässig umzugehen; dafür war sie ein zu teuer erkämpftes Gut. Dass er „der Ironie, dieser feigen Form der Uneigentlichkeit in der Sprache”, entsagen möchte und dauerhaft entsagt hat, glaubt man noch an der Schreibweise des älter gewordenen Uwe Timm zu spüren. Es ist tatsächlich etwas sehr Ironiefreies um diese éducation sentimentale in den deutschen Frühsechzigern, was man zum einen Teil wohl der damaligen Denkungsart, zum anderen aber Uwe Timms ungebrochenem Verhältnis zu ihr in Rechnung stellen kann. Wir kommen nicht umhin, uns die jungen Männer aus dem Braunschweig-Kolleg als besonders förderungswürdige, viel versprechende Menschen vorzustellen - die Eignungsprüfer haben in ihren Beurteilungen nicht geirrt.
Was den Dritten in diesem Buch, nämlich Meursault, den Fremden, angeht, darf man sich nicht so sicher sein, ob auch er ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft ist. Dass die realen Figuren dieses Buches trotz heißesten Identifikationsbemühens an die Vieldeutigkeit dieser literarischen Figur nicht heranreichen, spricht nicht gegen sie und Timms Erzählung, aber in jedem Fall für die Literatur.
CHRISTOPH BARTMANN
UWE TIMM: Der Freund und der Fremde. Eine Erzählung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 176 Seiten, 16,90 Euro.
Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg in Berlin von einem Polizisten erschossen.
Foto: Henschel/akg-images
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Literatur an der eigenen Haut erleben: Uwe Timms Erzählung über Benno Ohnesorg „Der Freund und der Fremde”
„Auf allen Gebieten der Kunst bemühe ich mich um das Verständnis für das gegenwärtige Schaffen”, schreibt im November 1959 der junge Schaufenstergestalter Benno Ohnesorg in einem Brief an den Direktor des Braunschweig-Kollegs, wo er sein Abitur nachholen möchte. Das ist ein Satz, in dem der kulturelle Habitus einer ganzen Generation wie in der Nussschale enthalten scheint - das Hochgestimmte, Ernsthafte, Ironieferne und Bildungswillige einer Jugend, die Abschied von den Eltern nimmt, indem sie „literarische Vorträge” hört „und die Konzerte der Kammermusikgemeinde und der Reihe Meister am Klavier”.
Hier stellt das Zeitgenössische noch einen Prüfstein dar, dem man sich mit heiligem Eifer zu widmen verspricht. Von Pop, Drogen und Rebellion scheint diese moderne Kunst samt ihren Jüngern noch meilenweit entfernt. In dem Satz des jungen Benno Ohnesorg spiegelt sich die geistige Situation von 1959. Ebenso zeitspezifisch ist wohl der erklärte Wille, eine als beengend empfundene soziale Herkunft durch kulturelle Bildung zu überwinden - eine Bildung, die dem Nützlichen und Praktischen stolz den Rücken kehrt. Das Nützliche und Praktische haben junge Männer wie Ohnesorg schon sattsam erlebt, als Dekorateur oder, wie Uwe Timm, sein Freund und Kollege in Braunschweiger Tagen, als Kürschner. Den Satz aus Ohnesorgs Brief hätte auch er selbst schreiben können, bemerkt Uwe Timm, und wahrscheinlich mit ihm viele andere, die wie Ohnesorg und Timm auf dem zweiten Bildungsweg nachholten, was ihnen auf dem ersten unzugänglich geblieben war. Mit ihrem hartnäckig verfolgten Vorsatz, die Enge ihrer Ausbildung durch Bildung zu überwinden, verkörpern die jungen Männer aus dem Braunschweig-Kolleg (Frauen waren, berichtet Uwe Timm, die Ausnahme) einen Typus des sozialen Aufsteigers, wie er in der heutigen Bildungslandschaft kaum mehr vorgesehen ist.
Das Problem der Absurdität
Gut dreißig Jahre nach der gemeinsamen Zeit mit Ohnesorg in Braunschweig und fast dreißig Jahre nach dessen gewaltsamem Tod am 2. Juni 1967 in Berlin hat Uwe Timm Nachforschungen über seinen Freund angestellt. Er hat mit Ohnesorgs Sohn gesprochen, der um sich den Hausrat seiner verstorbenen Eltern und Großeltern geschart hat und es nicht über sich bringt, etwas wegzuwerfen. Er hat mit der Frau gesprochen, die auf dem Pressefoto des sterbend am Boden liegenden Benno Ohnesorg neben ihm kniet, und er hat sich auf den Weg zu Karl-Heinz Kurras gemacht, dem Polizisten, der Ohnesorg erschossen hat. Vor Kurras Tür stehend, zögert Timm, und geht schließlich weg, ohne geklingelt zu haben. So bleiben seine Nachforschungen bewusst lückenhaft. Uwe Timm ist kein Reporter und will auch keiner sein. Dazu fehlt ihm das Investigative und auch das Insistierende. Nicht um den (oft genug aufgerollten) Fall Ohnesorg geht es in seiner Erzählung; so gesehen, ist das Ausweichen vor einer - ohnehin kaum ergiebigen - Konfrontation mit Kurras nur konsequent.
Ohnehin heißt die Hauptfigur seines Buches nicht Benno Ohnesorg, sondern Uwe Timm. Dazu tritt als Dritter im Bunde „der Fremde”. Man könnte Timms Buch ein autobiographisches Porträt selbdritt nennen: mit Uwe Timm in der Mitte, und mit zwei Brüdern im Geiste, die ihn flankieren, mit Benno Ohnesorg auf der einen und mit Camus „Fremdem”, mit Meursault, auf der anderen Seite. Der Schriftsteller Uwe Timm, um dessen „formative years” es in diesem Buch in erster Linie geht, ist ohne den Einfluss und das übermächtige Vorbild von Camus nicht zu denken. Im Frühsommer 1967, als ihn die Nachricht von Ohnesorgs Tod erreicht, schreibt Timm in Paris an einer Dissertation, die dem „Problem der Absurdität bei Camus” gewidmet ist. Unter dem Eindruck der Berliner Ereignisse und zunehmend in den Bann der Studentenbewegung gezogen, wird er die schon beendete Dissertation in kleine Stücke reißen. Jahre später nimmt er die Arbeit am selben Thema wieder auf und reicht eine neue, politisch geschärfte Fassung ein. Das Vorbild des Fremden und seiner „indifférence” hat, zumindest vorübergehend, ausgedient. Aber das ist schon nicht mehr die Geschichte dieses Buches.
Wäre Timms Erzählung vom eigenen Bildungsweg, von seiner Lehrzeit als Kürschner, der frühen Übernahme des väterlichen Geschäfts, dem Eintritt ins Begabtenkolleg und dem späteren Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in München und Paris, und wäre die Geschichte seiner Freundschaft mit dem ähnlich gestimmten und dann doch wieder grundverschiedenen Benno Ohnesorg weniger aufschlussreich, wenn Ohnesorg nicht zufällig als Opfer der „putativen Notwehr” des Polizisten Kurras tragische Prominenz erlangt hätte? Wohl kaum. Seine Wirkung rührt daher, dass es von Gefühlslagen und Denkweisen berichtet, die weit über die hier ins Bild gerückten Individuen hinaus das Signum einer Generation waren. In dem scheuen Hochmut der literarischen Enthusiasten, die sich am Ufer der Oker ihre Gedichte vorlesen und die zugleich an der Aufgabe verzweifeln, ein Mädchen kunstgerecht anzusprechen, drückt sich ein Wille zur Absonderung von der Gesellschaft aus, der ironischerweise binnen weniger Jahre in den gewaltigen Kollektivtaumel der Studentenbewegung mündet. Dass der Aufruhr von 1968 auch und gerade das Werk der zarter Besaiteten, der Leser und Träumer gewesen ist, ruft Timms Buch nachdrücklich in Erinnerung.
Noch heute, so scheint es, lässt sich der Erzähler vom idealistischen Elan seines jungen Selbst gern anstecken. „Der junge Mann, der ich war”, schreibt er einmal in elegischem Ton, „saß am Fenster des Wohnheims und schrieb, draußen rauschte der Wind, und der Wind war wie das schäumende Brechen der Wogen. Er schrieb an einer Sprache der Liebe, an einem Versuch, der Distanz, der indifférence zu entkommen, die er ja selbst gewählt hatte, ein Widerspruch, der doch sogleich hätte einsichtig sein müssen für ihn, es aber nicht war, weil er darin verstrickt und ohne Distanz zu sich war.” Ist das nun die Sprache des jungen Mannes oder die des heutigen Erzählers?
Juvenile Selbstermächtigung
Den jungen Mann, der in die Haut des Fremden geschlüpft ist und die Probleme der großen Literatur an sich selbst zu erleben glaubt, kann man verstehen. Der Erzähler, der dies vierzig Jahre später noch einmal reflexiv vergegenwärtigt, müsste dahinter auch die Pose, das Modische, die juvenile Selbstermächtigung wahrnehmen. Dem jungen Mann stand es nicht zu Gebote, mit seiner Bildung lässig umzugehen; dafür war sie ein zu teuer erkämpftes Gut. Dass er „der Ironie, dieser feigen Form der Uneigentlichkeit in der Sprache”, entsagen möchte und dauerhaft entsagt hat, glaubt man noch an der Schreibweise des älter gewordenen Uwe Timm zu spüren. Es ist tatsächlich etwas sehr Ironiefreies um diese éducation sentimentale in den deutschen Frühsechzigern, was man zum einen Teil wohl der damaligen Denkungsart, zum anderen aber Uwe Timms ungebrochenem Verhältnis zu ihr in Rechnung stellen kann. Wir kommen nicht umhin, uns die jungen Männer aus dem Braunschweig-Kolleg als besonders förderungswürdige, viel versprechende Menschen vorzustellen - die Eignungsprüfer haben in ihren Beurteilungen nicht geirrt.
Was den Dritten in diesem Buch, nämlich Meursault, den Fremden, angeht, darf man sich nicht so sicher sein, ob auch er ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft ist. Dass die realen Figuren dieses Buches trotz heißesten Identifikationsbemühens an die Vieldeutigkeit dieser literarischen Figur nicht heranreichen, spricht nicht gegen sie und Timms Erzählung, aber in jedem Fall für die Literatur.
CHRISTOPH BARTMANN
UWE TIMM: Der Freund und der Fremde. Eine Erzählung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 176 Seiten, 16,90 Euro.
Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg in Berlin von einem Polizisten erschossen.
Foto: Henschel/akg-images
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Hubert Spiegel ist diese Erzählung über Uwe Timms Jugendfreund Benno Ohnesorg nach "Am Beispiel meines Bruders" der zweite Teil eines autobiografischen Projekts. Denn diese sehr persönliche Geschichte über die Freundschaft zweier junger Männer versucht aus seiner Sicht zwar erfolgreich, der 1968-Symbolfigur, die Benno Ohnesorg war, seine Geschichte zurückzugeben. Doch eine Ohnesorg-Biografie wollte Timm mit diesen Erinnerungsbruchstücken nicht schreiben, erkennt der Kritiker. insein. Und das ist aus seiner Sicht auch gut so. Vielmehr werde hier eine Bildungsgeschichte erzählt, die der Rezensent exemplarisch für Timms und Ohnesorgs Generation stehen sieht: Zwei Freunde brechen aus der Sprachlosigkeit ihrer kleinbürgerlichen Elternhäuser auf, um in der Bildung und der Literatur ihr Glück zu finden. Zwar sei der Autor nicht davor gefeit, den Freund und den jungen Mann, der er selbst damals gewesen ist, gelegentlich weichzuzeichnen. Trotzdem kann Timm den Rezensenten immer wieder mit dem authentischem Lebensgefühl der Bundesrepublik der sechziger Jahre verblüffen. Zu den "anrührendsten" Szenen jedoch zählt für Spiegel die Schilderung eines Besuchs bei Ohnesorgs Sohn Lukas, der erst nach dem Tod Bennos geboren wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Timms Buch über den Jugendfreund ist mehr als ein Requiem, es erzählt poetisch vom Jungsein, von künstlerischem Aufbruch, politischer Rebellion und dem Lebensgefühl einer Generation.« Welt am Sonntag