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Eine alte Lady findet in mörderischen Krimis Zuflucht vor der Realität des Krieges, ein Einbrecher wünscht sich nichts sehnlicher, als ins Gefängnis zu kommen, ein Millionär muß unter der Fuchtel seiner Frau gestohlene Krawatten ins Kaufhaus zurückbringen. Zwölf Erzählungen und zwei Stücke aus dem Nachlaß zeigen Veza Canetti erneut als eine Meisterin des Dialogs und der Charakterisierung. Das Nachwort von Angelika Schedel gibt Auskunft über das Leben Veza Canettis und die Geschichte ihrer Entdeckung.

Produktbeschreibung
Eine alte Lady findet in mörderischen Krimis Zuflucht vor der Realität des Krieges, ein Einbrecher wünscht sich nichts sehnlicher, als ins Gefängnis zu kommen, ein Millionär muß unter der Fuchtel seiner Frau gestohlene Krawatten ins Kaufhaus zurückbringen. Zwölf Erzählungen und zwei Stücke aus dem Nachlaß zeigen Veza Canetti erneut als eine Meisterin des Dialogs und der Charakterisierung. Das Nachwort von Angelika Schedel gibt Auskunft über das Leben Veza Canettis und die Geschichte ihrer Entdeckung.
Autorenporträt
Veza Canetti, geboren 1897 in Wien, gestorben 1963, war die erste Ehefrau, Muse und Mitarbeiterin von Elias Canetti. Erst nach ihrem Tod wurde auch sie als bedeutende Autorin bekannt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2002

Ein Tiger im Dreivierteltakt
Von amerikanischen Agenten und Wiener Kaffeehauskönigen: Erzählungen und Stücke aus dem Nachlass von Veza Canetti
Es soll einen langen Prosatext geben, den „Genießer”; auch auf ihren ersten, den „Kaspar-Hauser”-Roman warten wir noch. Doch diese beiden unveröffentlichten Manuskripte gelten als verschollen. So ist, was jetzt aus dem Nachlass von Veza Canetti erschienen ist, ihr vorerst letztes Wort. In Vezas Taufschein stand der Vorname Venetiana. Ihre Mutter hieß Rachel Calderon und war eine Belgrader spaniolische Jüdin, die den aus Ungarn stammenden Handlungsreisenden Hermann Taubner ehelichte. Doch all diese schönen Namen haben Veza Taubner-Calderon nichts genützt. Ihre Texte hatten noch nach ihrem Tod daran zu leiden, dass sie den literarisch interessierten Chemiestudenten Elias Canetti geheiratet hatte.
Die späte Veröffentlichung vieler ihrer Arbeiten profitierte zwar von der zunehmenden Beachtung des Canetti-Warenzeichens, doch maß man sie – warum eigentlich? – dann auch an Canettis Werken. Wobei Frau Canetti schlecht aussehen musste. Da half auch das schöne Wort ihres Mannes, eines patriarchalisch-notorischen Fremdgängers, nichts, der in einem Brief an Hermann Kesten erklärte, Vezas „geistiger Anteil” an seinem Hauptwerk „Masse und Macht” sei „so groß wie meiner. Es gibt keine Silbe darin, die wir nicht zusammen bedacht und besprochen haben”.
Die jetzt in dem Band „Der Fund” erschienenen Texte sind untereinander so verschieden, dass eine pauschal kritische Bewertung von Vezas Künsten falsch scheint. Einige Erzählungen sind unter Pseudonym – Veza Magd, Martin und auch Martina Murner – Anfang der Dreissiger Jahre in der Wiener „Arbeiter- Zeitung” erschienen und haben demgemäß die Tendenz zum sozialistisch gut Gemeinten: „Der Dichter” macht Lesern mit gesellschaftlichen Schwierigkeiten Mut, es trotzdem mit dem Schreiben zu versuchen. Der „Unterschied”, das fehlende Kapital, die falsche Schicht, bedeuten etwas, aber in diesen kleinen Prosa-Lehrstücken jeweils doch nicht alles.
Beinahe klassisch vielschichtig modelliert ist hingegen „Die Flucht vor der Erde”. Eine Variante der Geschichte vom Gelehrten und der jungen Künstlerin, die sich hier auf wenigen Seiten in einer überraschenden Liebe finden und wieder verlieren. Sie ist psychologisch genau und stilistisch gelassen gekonnt geschrieben, als wäre sie von Schnitzler selbst.
Bitterböse und drastisch direkt wirkt die noch während der englischen Emigration der Canettis entstandene autobiografische Erzählung über das bigotte Pfarrerehepaar „Toogood”, das einem Flüchtlingspaar, das den deutschen Bomben auf London ausweichen will, auf dem Land gegen Miete Zuflucht gewährt, ihm aber heimlich die besten Sachen wegisst. Im Milchbrei zweiter Klasse gibt es Würmer statt Rosinen.
Eine Entdeckung jedoch, die man noch heute inszenieren könnte, ist „Der Tiger”. Ein so genanntes Lustspiel aus dem „Alten Wien”, das die Kunst- und Halbweltszene nach dem ersten Weltkrieg ironisch mit dem amerikanischen Agenten Stuart Smith konfrontiert. Der kauft auf, was er kriegen kann, um ihn drängen sich Balleteusen, Bildhauer, Maler. Der Dichter Knut Tell, der in Vezas Werken immer wieder kehrt, hält spöttisch Distanz, auch einige andere behalten ihre Würde, hübsche Töchter werden verkauft und verkaufen sich, und selbst dem „Tiger”, einem zuhälterischen Kaffeehauskönig, der glaubt, über Smith dekorative Tischgarnituren nach Amerika exportieren zu können, dreht der Agent unter der Hand Büsten, Gemälde und Ähnliches an. Der Künstler ist nichts, ich bin beinahe nichts, sagt der Agent, „der Käufer ist alles”. „Schund”, meint dazu der Tiger, und regt sich fürchterlich auf. Dann bringt ihm Frau Sandoval, eine verarmte Großbürgerin, bei, dass Kunst gerade jetzt die beste Deko ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab Venetiana Taubner-Calderon meist die Sekretärin ihres Mannes. Er soll sie zu wenig gefördert haben und hat sich gegen diesen Vorwurf immer gewehrt.
HANS-PETER KUNISCH
VEZA CANETTI: Der Fund. Erzählungen und Stücke. Mit einem Nachwort von Angelika Schedel. Carl Hanser-Verlag. München 2001. 326 Seiten, 23,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2001

Demut vor dem Leser
Im verborgenen gereift: Veza Canettis Erzählungen und Stücke

Er ißt sein Brot ohne Tränen, aber mit staubigen Fingern, während er verstohlen zur Gouvernante hinüberschielt, die zwei frisierte Kinder hütet. So dürfe man nicht essen, sagt die Dame, weil dadurch der ganze Dreck in den Magen gelange. Sie zeigt mit dem Finger auf Gustl wie auf ein Tier: "So ißt man die Krankheiten in sich hinein!" Gustl wünschte, er hätte nie in das Brot gebissen. Er bereut seine Gier, den Hunger und sein Dasein, weil er in diesem Augenblick nicht als Mensch, sondern als Exempel gilt für eine verfehlte Erziehung.

"Der Dichter", so heißt die kurze Erzählung der Wiener Autorin Veza Canetti, die den Sieg des Geistes über alle Drangsal feiert. Die Klassenschranken werden nicht eingerissen, sie zeugen in ihrer monumentalen Bedeutung von einer engstirnigen Gesellschaft, die sich zu ihrem eigenen Wohl Grenzen setzt und vielfach innerhalb dieser Barrieren scheitert. In der Schule wissen später alle, was sie einmal werden wollen, ob Pilot, Kapitän oder Bürgermeister. Nur Gustl bleibt schweigsam. Ihn zieht es zur Poesie. Niemand erkennt Gustl wieder, als er nach Jahren heimkehrt und in müde Augen blickt, die einmal glühten, aber das ist lange her. Die Frau des Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti läßt ihn am Ende in aller Stille triumphieren, ohne Anflüge von Schadenfreude.

Veza Canettis Band "Der Fund" versammelt ihre bislang letzten Erzählungen und Kurzdramen, denen allen, gleich ob sie einen beschwingten oder schwermütigen Ton anschlagen, ein einziges Thema, sozusagen eine Lebensklugheit, gemein ist. Das Gefälle zwischen Reichen und Armen, solchen, denen alle Türen offenstehen, und anderen, die zeitlebens durchs Schlüsselloch auf Komfort und Luxus der anderen spähen, prägt das Werk der Autorin. Schon ihre kürzesten Erzählungen, kaum vier, fünf Seiten lang, atmen das Flair des Schattendaseins, das unerträglich wird, wenn plötzlich schöne, angesehene Figuren auftreten und Beliebigkeiten austauschen, weil sie nie das harte Los der Verzweifelten teilten. Immer ist es der vergleichende Blick auf das Fremde, welcher die eigene Existenz in Frage stellt.

Vielfach setzen hier Kleinodien den Gedankenstrom in Gang, ein Brief, ein Kleid, ein Fingerzeig, der den Unterschied manifestiert, den sozialen, aber auch den physischen. Denn auffallend oft müssen Canettis Helden mit einem Makel leben, wie auch die Autorin selbst daran litt, ohne linken Unterarm aufzuwachsen. Marie heißt das Mädchen mit dem krummen Rücken, die den Hut immer weit in den Nacken schiebt, weil sie ihren Buckel verstecken will. Anna zieht ihn dagegen in die Stirn, um ihr entstelltes Gesicht zu verbergen. In der Erzählung "Drei Viertel" verkleiden sich die beiden Frauen nach außen wie nach innen hin, denn jeder sichtbare Defekt hinterläßt auch Seelenstriemen: Wenn Maria auf Menschen zugeht, zeigt sie keine Scheu, nur Blicke von hinten auf das gewundene Rückgrat schmerzen wie Messerstiche. "Im hellen Zimmer fiel ein Lehnstuhl auf. Er hatte einen hohen, würdigen Rücken. Als sie darin saß, schien es, als wäre sie jetzt ganz sie selbst. Sie hatte ihren Raum, sie hatte keine Seite, keine Rückseite, sie steckte im Schutz der hohen Lehne wie eine Puppe in der Schachtel." Mögen andere darüber klagen, mit dem Rücken an der Wand zu stehen, Maria ist es angenehm, ihre Schulterblätter gegen Mauern zu pressen.

Veza Canettis Werk, nicht nur der jüngste Band, ist in der Tat ein reicher Fund, auch wenn die Zeit an den meisten Texten nicht spurlos vorübergegangen ist: Die nun erschienenen Erzählungen unterscheiden rigoros zwischen Guten und Bösen oder, milder ausgedrückt, zwischen besseren und schlechteren Menschen. Gewiß ist diese scharf gezogene Charaktergrenze auch Teil ihrer eigenen Lebenserfahrung gewesen. Für Charaktertiefe bleibt in diesem Schema allerdings wenig Raum. Canetti schätzt ihre Helden, ob sie nun Herrn Hoe beisteht, der aus Weltekel in den Raubtierkäfig steigt, weil kein Tier so bösartig wie der Mensch sei, oder ob sie ihre Hauptfigur vor dem stechenden Blick des Hellsehers bewahrt. Man könnte auch sagen, Canettis Erzählungen sind im verborgenen gereift und in manchem durchaus zeitgemäß, denn gemessen an der Trennschärfe, die gerade heute zwischen dem Lager der vermeintlichen Weltverbesserer und dem der Schurken eingefordert wird, wirkt Canettis Prosa geradezu nuancenreich.

Vielleicht, weil sie am eigenen Leib erfuhr, was es hieß, aus der Gesellschaft verstoßen zu werden, vielleicht auch wegen ihrer eigenen Behinderung, vermittelt die Autorin ein Gefühl für die Schuld einer minderen sozialen Abkunft. Ihre Neugier gilt den kleinen Leuten und deren Träumen. In den zwanziger Jahren veröffentlichte sie einige Erzählungen in der Wiener "Arbeiter-Zeitung", oft unter dem Pseudonym Veza Magd. Schon mit diesem scheuen Auftritt verriet sie Demut vor dem Leser. Ein Leben im verborgenen, geduckt und unscheinbar, führte diese Autorin in den späten zwanziger Jahren. Als Jüdin wurde sie geschmäht, wenn auch der Chefredakteur zunächst an ihr festhielt, weil sie die besten Geschichten lieferte. Dennoch mußte sie schließlich vor den Nationalsozialisten über Frankreich nach England fliehen. An der Seite Canettis galt sie bald nur noch als Frau des berühmten Schriftstellers, nicht mehr als kreativer Kopf, der eigenständige Werke schrieb. Erst in den neunziger Jahren gelangten ihre Werke ans Licht der Öffentlichkeit. Zu spät gewiß, aber früh genug für ein Publikum, das eintauchen will in die typisch wienerische Atmosphäre zwischen den Kriegen, in eine Welt, die, kaum wiedererstanden, neuerlich dem Untergang entgegentrieb.

Ihre beiden Dramen "Der Tiger" und "Der Palankin" jedoch verblassen neben den Erzählungen. Es sind Stücke mit schwammigen Höhepunkten und vagen Pointen, das erste, ein Lustspiel im alten Wien, stößt eine anständige Frau in die Arme eines halbseidenen Kaffeehausbesitzers, das zweite läßt einen verdrossenen Einbrecher in einem Londoner Nobelviertel erfolglos von Villa zu Villa streunen, weil er immer mit der Aussicht auf reichen Profit vertröstet und zum Nachbarn geschickt wird. Veza Canettis Lustspiele sind von so viel Ernst und Milieukritik durchtränkt, daß der Witz nicht mehr zünden kann. Umgekehrt gelingt die Mischung vortrefflich, wenn sie mit sanfter Ironie über das Leid in den Prosastücken hinwegzwinkert.

Canettis Stärke liegt in der bündigen Darstellung, wenn jeder Satz wie eine Sprachrampe wirkt, welche die Gedanken des Lesers über Punkt und Komma hinausbefördert. Ihre Schilderung, so anschaulich und poetisch sie sein mag, tippt vieles nur an, hält es in der Schwebe, bis man dem vorläufigen Finale aus eigener Kraft ein zweites, endgültiges, hinzudenkt: In "Die Flucht vor der Erde" verfällt ein Wissenschaftler auf die Idee, sich selbst in die Erdumlaufbahn zu katapultieren. Seinen Tod wünscht er sich fern der Erde, deren Bewohner ihn mehr und mehr befremden. "Möchte mit Beendigung des fürchterlichen Meisterwerks auch sein Wahn zu Ende sein." Es schwingt noch Hoffnung in diesem Schlußsatz, etwas, das ihn nicht bleischwer aufs Papier drückt, sondern zum Auftakt einer neuen Zeit erklärt, einem Epilog der Umkehr, den man nicht lesen, nur erfinden kann.

ALEXANDER BARTL

Veza Canetti: "Der Fund". Erzählungen und Stücke. Carl Hanser Verlag, München 2001. 352 S., geb., 46,- DM.

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