Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?
Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe. Das ist die Adresse, an die man sich wendet, wenn man nicht einverstanden ist mit denen, die die Macht haben. Ein Neubau aus den sechziger Jahren, zwei Stockwerke mit Flachdach in drei versetzten Quadraten. Einige Meter dezente Bannmeile, abgegrenzt durch eine Kette aus Schmiedeeisen. Dahinter ein paar Polizisten mit Sprechfunkgeräten. Auf der Wiese vor dem Haus ein kleines goldfarbenes Schild mit schwarzem Adler, darunter ein einziges Wort: Bundesverfassungsgericht.
Es ist das höchste deutsche Gericht, oberstes Verfassungsorgan, im Rang gleich mit Bundespräsident und Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat. 16 Richter entscheiden hier, je acht in zwei Senaten. Sie kontrollieren Regierung und Parlament in so genannten Organstreitigkeiten oder Normenkontrollverfahren. Vertreter der Exekutive, aber auch einzelne Bürger können sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das Gericht wenden. Wiederbewaffnung, Schwangerschaftsabbruch und Kopftuch in der Schule, um nur einige Streitfälle zu nennen, standen auf der Agenda der Richter - in den ersten 50 Jahren des Gerichts gingen fast 130 000 Verfassungsbeschwerden ein, ungefähr 3000 hatten Erfolg. Uwe Wesel beschreibt und bewertet das bedeutungsvolle Wirken des obersten deutschen Gerichts - vom Verbot der KPD 1956 bis zum Urteil gegen den großen Lauschangriff 2004.
1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und beschloss die Errichtung eines starken, unangreifbaren Verfassungsgerichts. Zu bedrückend war die Erinnerung an die Weimarer Republik, in der Kommunisten und Nationalsozialisten wesentlich an der Aushöhlung der Verfassung beteiligt waren. In den Jahren nach 1951 hat das Bundesverfassungsgericht seine Position als unparteiische und überparteiliche Instanz in politischen Auseinandersetzungen behauptet. Uwe Wesels Buch ist die erste umfassende Darstellung der Rolle des höchsten deutschen Gerichts.
Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe. Das ist die Adresse, an die man sich wendet, wenn man nicht einverstanden ist mit denen, die die Macht haben. Ein Neubau aus den sechziger Jahren, zwei Stockwerke mit Flachdach in drei versetzten Quadraten. Einige Meter dezente Bannmeile, abgegrenzt durch eine Kette aus Schmiedeeisen. Dahinter ein paar Polizisten mit Sprechfunkgeräten. Auf der Wiese vor dem Haus ein kleines goldfarbenes Schild mit schwarzem Adler, darunter ein einziges Wort: Bundesverfassungsgericht.
Es ist das höchste deutsche Gericht, oberstes Verfassungsorgan, im Rang gleich mit Bundespräsident und Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat. 16 Richter entscheiden hier, je acht in zwei Senaten. Sie kontrollieren Regierung und Parlament in so genannten Organstreitigkeiten oder Normenkontrollverfahren. Vertreter der Exekutive, aber auch einzelne Bürger können sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das Gericht wenden. Wiederbewaffnung, Schwangerschaftsabbruch und Kopftuch in der Schule, um nur einige Streitfälle zu nennen, standen auf der Agenda der Richter - in den ersten 50 Jahren des Gerichts gingen fast 130 000 Verfassungsbeschwerden ein, ungefähr 3000 hatten Erfolg. Uwe Wesel beschreibt und bewertet das bedeutungsvolle Wirken des obersten deutschen Gerichts - vom Verbot der KPD 1956 bis zum Urteil gegen den großen Lauschangriff 2004.
1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und beschloss die Errichtung eines starken, unangreifbaren Verfassungsgerichts. Zu bedrückend war die Erinnerung an die Weimarer Republik, in der Kommunisten und Nationalsozialisten wesentlich an der Aushöhlung der Verfassung beteiligt waren. In den Jahren nach 1951 hat das Bundesverfassungsgericht seine Position als unparteiische und überparteiliche Instanz in politischen Auseinandersetzungen behauptet. Uwe Wesels Buch ist die erste umfassende Darstellung der Rolle des höchsten deutschen Gerichts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004Vor den Roben stehen
Uwe Wesel geht nach Karlsruhe / Von Michael Stolleis
Uwe Wesel ist nicht nur ein Universalist der Rechtsgeschichte mit einem Schwerpunkt in der Antike, sondern auch politischer Publizist, Kommentator der Zeitgeschichte und Pädagoge. Er schreibt Bücher über Recht, die jedermann versteht, "Jura für Nicht-Juristen" etwa, weiter ein Buch über Rechtsanwälte, ein anderes über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit von der Weimarer Republik bis heute. Sein neuestes Werk gab es schon einmal 1996 in Kurzfassung "Die Hüter der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht: seine Geschichte, seine Leistungen und seine Krisen". Nun hat es sich zu einem umfangreichen Band gemausert. "Lehrbuch" mag man es nicht eigentlich nennen; dazu unterscheidet es sich im Ton und im Aufbau zu sehr von dem, was im Jurastudium sonst üblich ist. Es ist eben ein "Wesel", in der Sache einwandfrei recherchiert, ohne Schnörkel erzählt, aber mit erhellenden Pointen und gelegentlichem Insiderwissen, insgesamt eine Geschichte des "Verfassungsorgans" Bundesverfassungsgericht und seiner Menschen, eingebunden in den Kontext der Geschichte der Bundesrepublik.
Wahrgenommen wird das Gericht, so Wesel, in drei Stufen. Das große Publikum kennt die spektakulären Fälle (Wiederbewaffnung, KPD-Verbot, Privatfernsehen, Parteienfinanzierung, Mitbestimmung, Ostverträge, Maastricht und andere). Eine breite mittlere Gruppe von Urteilen hat nicht dieses politische Flair, wird aber vor allem von der Fachwelt beachtet und verarbeitet. Es sind die Leitentscheidungen, in denen das Gericht seit fünfzig Jahren Schritt für Schritt das Grundgesetz auf geltendes Recht heruntergerechnet hat. Wenig dringt schließlich von der Masse der jährlich 5000 Verfassungsbeschwerden nach draußen. Nur etwa zwei Prozent von ihnen sind erfolgreich.
Dieser immense Stoff wird nun von Wesel historisch gegliedert. Er erklärt, wie es bei der Gründung der Bundesrepublik zur Verfassungsgerichtsbarkeit kam, wie sich das Gericht zurechtfand und seinen Rang stabilisierte, wie das immer wieder kritisierte Verfahren der Richterwahl funktioniert und was von den opaken Zonen zwischen Recht und Politik auf der einen, Parteipolitik auf der anderen Seite zu halten ist. Er gruppiert wichtige Entscheidungen unter der Überschrift "Dauerthemen", so die Gleichberechtigung der Geschlechter und den allgemeinen Gleichheitssatz, dann die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit sowie die Parteienfinanzierung. Hier gab es ganze Ketten von Urteilen, teils ein Nachjustieren des Rechts an einer veränderten Realität, teils Versuche, die Realität doch noch dem Recht zu unterwerfen. Das war und ist Innenpolitik mit juristischen Mitteln, mit charakteristischen Modulationen von Adenauer bis Schröder. Alle rechtsförmig geführten Debatten der letzten Jahrzehnte tauchen noch einmal auf, die Bildungs- und die Ostpolitik, der Schwangerschaftsabbruch und die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die Berufsverbote, das Tucholsky-Zitat "Soldaten sind Mörder", die Volkszählung, die Orte Muthlangen und Brokdorf samt Sitzblockaden, das Kruzifix, das "NPD-Verbot" und schließlich das "Kopftuch". Wesel nimmt hier kein Blatt vor den Mund, bezeichnet deutlich die Manöver der Politik, erkennt aber auch die Grundlinie des Gerichts an, sich insgesamt von der Parteipolitik so weit fernzuhalten, daß sein öffentliches und fachliches Ansehen - trotz gelegentlicher Einbrüche - kontinuierlich wachsen konnte.
Natürlich wählt auch Wesel aus, was er für wichtig hält. Die großen Entscheidungen zum Verhältnis von Staat und Kirche samt Diakonie erwähnt er nicht einmal, ausgenommen die Kruzifix-Entscheidung. Auch der Sozialstaat ist stark unterbelichtet. So fehlen etwa die Urteile zur Verfassungsmäßigkeit der Sozial- und Jugendhilfegesetze, zur Eigentumsqualität der Rentenanwartschaften oder auch zahlreiche Entscheidungen zur Herstellung von Gerechtigkeit in der sozialen Sicherung. Nennen wir das Ganze also ein populär geschriebenes Sachbuch, sehr geeignet für Studierende, aber im Grunde auch für alle politisch Interessierten, die wahrnehmen, daß keine höheren Mächte über uns walten, sondern gut oder schlecht funktionierende Institutionen und Menschen, unter denen sich erfreulicherweise auch immer wieder grundsatztreue, einem freiheitlichen und offenen Menschenbild verbundene Juristen finden. Das Gericht mag von Fall zu Fall kritisiert werden. Aus der fachlichen Nähe und aus der historischen Distanz betrachtet, wie es hier geschieht, hat es seine Sache gut gemacht. Der "Gang nach Karlsruhe" ist in einer rechtlich minutiös durchstrukturierten Gesellschaft zum Siegel des inneren Friedens geworden. Er könnte künftig, angesichts schärfer werdender Verteilungskämpfe oder spektakulärer Bedrohungen der äußeren Sicherheit, noch wichtiger werden als bisher.
Uwe Wesel: "Der Gang nach Karlsruhe". Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik. Karl Blessing Verlag, München 2004. 416 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Wesel geht nach Karlsruhe / Von Michael Stolleis
Uwe Wesel ist nicht nur ein Universalist der Rechtsgeschichte mit einem Schwerpunkt in der Antike, sondern auch politischer Publizist, Kommentator der Zeitgeschichte und Pädagoge. Er schreibt Bücher über Recht, die jedermann versteht, "Jura für Nicht-Juristen" etwa, weiter ein Buch über Rechtsanwälte, ein anderes über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit von der Weimarer Republik bis heute. Sein neuestes Werk gab es schon einmal 1996 in Kurzfassung "Die Hüter der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht: seine Geschichte, seine Leistungen und seine Krisen". Nun hat es sich zu einem umfangreichen Band gemausert. "Lehrbuch" mag man es nicht eigentlich nennen; dazu unterscheidet es sich im Ton und im Aufbau zu sehr von dem, was im Jurastudium sonst üblich ist. Es ist eben ein "Wesel", in der Sache einwandfrei recherchiert, ohne Schnörkel erzählt, aber mit erhellenden Pointen und gelegentlichem Insiderwissen, insgesamt eine Geschichte des "Verfassungsorgans" Bundesverfassungsgericht und seiner Menschen, eingebunden in den Kontext der Geschichte der Bundesrepublik.
Wahrgenommen wird das Gericht, so Wesel, in drei Stufen. Das große Publikum kennt die spektakulären Fälle (Wiederbewaffnung, KPD-Verbot, Privatfernsehen, Parteienfinanzierung, Mitbestimmung, Ostverträge, Maastricht und andere). Eine breite mittlere Gruppe von Urteilen hat nicht dieses politische Flair, wird aber vor allem von der Fachwelt beachtet und verarbeitet. Es sind die Leitentscheidungen, in denen das Gericht seit fünfzig Jahren Schritt für Schritt das Grundgesetz auf geltendes Recht heruntergerechnet hat. Wenig dringt schließlich von der Masse der jährlich 5000 Verfassungsbeschwerden nach draußen. Nur etwa zwei Prozent von ihnen sind erfolgreich.
Dieser immense Stoff wird nun von Wesel historisch gegliedert. Er erklärt, wie es bei der Gründung der Bundesrepublik zur Verfassungsgerichtsbarkeit kam, wie sich das Gericht zurechtfand und seinen Rang stabilisierte, wie das immer wieder kritisierte Verfahren der Richterwahl funktioniert und was von den opaken Zonen zwischen Recht und Politik auf der einen, Parteipolitik auf der anderen Seite zu halten ist. Er gruppiert wichtige Entscheidungen unter der Überschrift "Dauerthemen", so die Gleichberechtigung der Geschlechter und den allgemeinen Gleichheitssatz, dann die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit sowie die Parteienfinanzierung. Hier gab es ganze Ketten von Urteilen, teils ein Nachjustieren des Rechts an einer veränderten Realität, teils Versuche, die Realität doch noch dem Recht zu unterwerfen. Das war und ist Innenpolitik mit juristischen Mitteln, mit charakteristischen Modulationen von Adenauer bis Schröder. Alle rechtsförmig geführten Debatten der letzten Jahrzehnte tauchen noch einmal auf, die Bildungs- und die Ostpolitik, der Schwangerschaftsabbruch und die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die Berufsverbote, das Tucholsky-Zitat "Soldaten sind Mörder", die Volkszählung, die Orte Muthlangen und Brokdorf samt Sitzblockaden, das Kruzifix, das "NPD-Verbot" und schließlich das "Kopftuch". Wesel nimmt hier kein Blatt vor den Mund, bezeichnet deutlich die Manöver der Politik, erkennt aber auch die Grundlinie des Gerichts an, sich insgesamt von der Parteipolitik so weit fernzuhalten, daß sein öffentliches und fachliches Ansehen - trotz gelegentlicher Einbrüche - kontinuierlich wachsen konnte.
Natürlich wählt auch Wesel aus, was er für wichtig hält. Die großen Entscheidungen zum Verhältnis von Staat und Kirche samt Diakonie erwähnt er nicht einmal, ausgenommen die Kruzifix-Entscheidung. Auch der Sozialstaat ist stark unterbelichtet. So fehlen etwa die Urteile zur Verfassungsmäßigkeit der Sozial- und Jugendhilfegesetze, zur Eigentumsqualität der Rentenanwartschaften oder auch zahlreiche Entscheidungen zur Herstellung von Gerechtigkeit in der sozialen Sicherung. Nennen wir das Ganze also ein populär geschriebenes Sachbuch, sehr geeignet für Studierende, aber im Grunde auch für alle politisch Interessierten, die wahrnehmen, daß keine höheren Mächte über uns walten, sondern gut oder schlecht funktionierende Institutionen und Menschen, unter denen sich erfreulicherweise auch immer wieder grundsatztreue, einem freiheitlichen und offenen Menschenbild verbundene Juristen finden. Das Gericht mag von Fall zu Fall kritisiert werden. Aus der fachlichen Nähe und aus der historischen Distanz betrachtet, wie es hier geschieht, hat es seine Sache gut gemacht. Der "Gang nach Karlsruhe" ist in einer rechtlich minutiös durchstrukturierten Gesellschaft zum Siegel des inneren Friedens geworden. Er könnte künftig, angesichts schärfer werdender Verteilungskämpfe oder spektakulärer Bedrohungen der äußeren Sicherheit, noch wichtiger werden als bisher.
Uwe Wesel: "Der Gang nach Karlsruhe". Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik. Karl Blessing Verlag, München 2004. 416 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Kaum ein Jurist sei wohl so gut geeignet gewesen, dieses Buch zu schreiben, wie der jetzt emeritierte Rechtsprofessor Uwe Wesel, meint der Rezensent Roderich Reifenrath. Mit der Geschichte des Bundesverfassungsgericht kennen sich viele aus, aber der "linksliberale Staatsbürger" Wesel sei zum einen einer der wenigen Juristen, die in der Lage sind, sich nicht nur verständlich, sondern nachgerade unterhaltsam auszudrücken. Seine Auswahl von entscheidenden Gerichtsurteilen hält der Rezensent darüber hinaus für bestens gelungen. Wesel konzentriert sich auf jene Urteile, die - wie etwa das "Lüth-Urteil" von 1958 in Sachen Meinungsfreiheit - für eine Stärkung der Grundrechte eintreten. Kritische Bemerkungen lässt Reifenrath eher nebenbei fallen, etwa die, dass sich Wesel an Karl-Friedrich Fromme, seinem alten Feind von der FAZ, doch "irgendwie ziellos abarbeitet". Fazit: "Ein Buch zum Lesen. Durchwühlen, durchquälen gar muss sich da niemand."
© Perlentaucher Medien GmbH
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