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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Karl-Markus Gauß stellt in einer Doppelrezension zweier Bücher von und über Leopold von Andrian diesen österreichischen Schriftsteller eingehend vor, der ein "Schlüsselwerk des fin de siecle" geschrieben hat und dem, wie Gauß schreibt, ein "Ehrenplatz" in einer noch zu schreibenden "Literaturgeschichte des Scheiterns" zusteht. Die Erzählung "Der Garten der Erkenntnis" des 20-jährigen Andrian, in dem es um eine unglückliche Jugend eines Adligen im Internat und um seine als "schuldhaft" erlebte Homosexualität geht, war schon zu seiner Entstehungszeit gleichzeitig "verstaubt und modern", meint der Rezensent. Während die Handlung eher etwas "akademisch" anmutet, sind die Erfahrungen des Protagonisten von den "krisenhaften" Veränderungen der Moderne bestimmt, so Gauß, der meint, dass diese Erzählung auch heute noch Leser erreicht, die sich bereitwillig auf "nach innen gewandte lyrische Prosa" einlassen. Dass Andrian ansonsten außer zwei Texten über Österreich nichts mehr publiziert hat und sein lebenslang geplantes Opus magnum nicht zustande kam, lag nicht zuletzt an Andrians Konflikt, "Kunst und Leben" zu vereinbaren und an seiner Homosexualität, die er mit seiner reaktionären Religiosität nicht vereinbaren konnte, so der Rezensent mitfühlend.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2004

Wie man einen Sepp anhimmelt
Ach, Österreich: Das lange, große Scheitern des vorzeitig vollendeten Leopold von Andrian
Der Jüngling, begabt und unglücklich, beginnt mit dreizehn ein Tagebuch, das er erst als Greis, restlos gescheitert, abbrechen wird. Von wenigen, durch seine Tätigkeit als ranghoher Diplomat bedingten Unterbrechungen abgesehen, hält er sechzig Jahre lang Zwiesprache mit sich, ohne auch nur ein Stück weiterzukommen. „Ja, ich möchte an meinem Dichterberuf zweifeln”, vertraut er dem Tagebuch gleich auf dessen erster Seite an, ein wenig altklug und unüberhörbar selbstbewusst in allem Selbstzweifel.
An seiner Berufung zum Dichter zweifelte Leopold Reichsfreiherr Ferdinand von Andrian zu Werburg in Wahrheit keineswegs; aber der 1875 geborene österreichische Aristokrat, der sich als Dichter bürgerlich Leopold Andrian nannte, hielt den Ästhetizismus seines Standes und seiner Zeit für jene unsichtbare Mauer, die zwischen ihm und dem Leben stand und ihn hinderte, einen unmittelbaren Zugang zu den einfachen Dingen zu finden. Die Sehnsucht danach konnte er paradoxerweise nur in der Kunst stillen, und so verdanken sich seine besten Werke gerade dem Zweifel, ob ihn nicht die Kunst daran hindere zu leben.
Sein Tagebuch ist ein riesiges Archiv, in dem der Gymnasiast, der Student, der Diplomat, der reiche Privatier Jahr um Jahr jenes Meisterwerk plante, das ihn für das nicht gelebte Leben entschädigen sollte. Von der Jugend zum Alter hat er dieses Meisterwerk stets anders, aber immer in Übereinstimmung mit seinem Lebensalter entworfen. In seinen mittleren Jahren träumte er von dem epochalen Roman „Gabriels Lauf zum Ideal”, im Alter vom opus magnum „Die Glocken des Alters”. Nichts davon gedieh über Passagen, Skizzen, ins Weite zielende Pläne hinaus. So gründet der Ruhm Leopold Andrians auf einem einzigen Buch, dem genialen Wurf eines vorzeitig Vollendeten.
Verdorben wie ein Gassenbub
„Der Garten der Erkenntnis” ist eine preziös gemeißelte, kalkuliert verrätselte Erzählung, die Andrian mit zwanzig Jahren veröffentlichte. Dem Ruf des Werks hat es nicht geschadet, dass der Autor in den nächsten dreißig Jahren als Neuausgaben nur kostbare Privatdrucke duldete. Als die Erzählung, in der Andrian seine düstere Jugend in noblen Internaten, seine als schuldhaftes Verhängnis erlittene Homosexualität virtuos umspielte, 1895 erschien, bejubelte sie Hermann Bahr als „das beste Werk...was bisher die europäische Moderne hervorgebracht hat, unsäglich tief und schön”. Ein Schlüsselwerk des fin de siècle war sie gewiss und zudem schon damals verstaubt und modern zugleich, höchst artifiziell und geradezu naiv. Das kostbare Dekor, die Inszenierung, die äußere Handlung muten akademisch an, die Erfahrungen, von denen erzählt wird, sind hingegen von den krisenhaften Umwälzungen der Moderne geprägt und sprechen auch heute noch das Sensorium jeden Lesers an, der sich auf die feinnervige, nach innen gewandte lyrische Prosa einlässt.
Ein Fürstensohn, bis zu seinem zwölften Jahr in der Obhut der Mutter, wächst im geistlichen Konvikt auf, geht in Bozen aufs Gymnasium, beginnt in Wien zu studieren und verliert früh den Zugang zu den Dingen, die um ihn sind. Er sucht über sich hinaus zu gelangen in der als Freundschaft getarnten Liebe zu Clemens, der „arm...neugierig, verdorben wie ein Gassenbub und fast pathetisch unschuldig” war; aber auch der Kult der Schönheit, die Versenkung in alte Heiligenbilder, in das barocke Zeremoniell der Kirche – nichts rettet ihn davor, sich zwanghaft selbst beobachten und die unüberwindliche Distanz zwischen sich und der Welt selbstquälerisch genießen zu müssen. „So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben”, lautet der letzte Satz der Erzählung.
Was er in ihr variantenreich camouflierte, hat Leopold Andrian selbst im Tagebuch nur verschlüsselt abgehandelt: die Homosexualität, die der in religiösen Fragen reaktionäre Freiherr sich mit Selbsterziehungsprogrammen auszutreiben versuchte und der er doch lebenslang verfallen blieb. Im Tagebuch taucht die ersehnte homosexuelle Praxis unter dem Sigel „Alpha” auf, während „Beta”, gesellschaftlich ersehnt, aber sexuell nicht erstrebt, für heterosexuelle Liebesversuche steht und Gamma für Onanie. Andrian war schon über sechzig, als er erkannte, dass ihn der Konflikt zwischen der Begierde, seine Sexualität auszuleben und zugleich kirchenkonform zu bestehen, auch literarisch ruiniert hatte.
Sein großer autobiographischer Roman, als Fortsetzung der Jugenderzählung gedacht, wurde auch darüber zunichte, dass er in ihm die Wahrheit sagen musste, sie aber zugleich verschweigen wollte: „ein Dichter befreit sich indem er dichtet...Das wäre auch ganz schön, wenn nicht Alpha in seinen Tiefen rumoren würde, u. wenn nicht der Bruch zwischen unterbewusst u. oberbewusst bestände. Weil er besteht, kann er das Alpha nicht in Worte bringen, u. weil er inzwischen wieder sündigt...kann er nicht die relig. Dinge (Gott) rein u. stark genug fühlen. So muss die Arbeit misslingen.”
Nach dem Erfolg des „Garten der Erkenntnis” studierte Andrian in Wien Jura und trat 1900 in den diplomatischen Dienst der Donaumonarchie ein. Bis 1918 diente er in wechselnder Verwendung in Athen, Rio de Janeiro, St.Petersburg, Bukarest und während des Ersten Weltkrieges als Generalkonsul in Warschau, von wo er in Hunderten Eingaben, geheimen Telegrammen, Protokollen vergeblich auf die Politik des Kaisers, der Regierung und des Militärs Einfluss zu nehmen versuchte.
Die österreichischen Germanisten Ursula Prutsch und Klaus Zeyringer, beide in Frankreich lehrend, haben den Nachlass Andrians in Marbach, aber auch das „Haus-, Hof- und Staatsarchiv” in Wien durchgesehen, eine Auswahl aus den Tagebüchern, der privaten und dienstlichen Korrespondenz, aus Notizheften, unpublizierten Manuskripten und Memoranden zusammengestellt. Aus ihrer wohlkommentierten Collage ersteht das Bildnis eines Mannes, der hellsichtig und borniert zugleich war, ein Ästhet und Bürokrat, ein Verächter der Massen und Prophet „ethnischer Gerechtigkeit”. Sein Konzept eines europäischen Großösterreich ist jetzt erstmals in seinem Zusammenhang und mit seinen Widersprüchen zu studieren.
Andrians politische Memoranden über „die Zukunft Polens”, „die ruthenische Frage”, über die Ordnung Ost- und Südosteuropas sind von drei zentralen Gedanken, Ressentiments oder Illusionen bestimmt. Erstens von seiner unversöhnlichen Feindschaft gegen „Preußen-Deutschland”, mit dem Österreich-Ungarn in Kriegskoalition vereint war, während er selbst den verbündeten Staat für die größte Gefahr Österreichs und Europas hielt. In dem Gedicht „Karfreitag”, das in einer von Dietrich Sudhof sorgfältig edierten neuen Ausgabe des dichterischen Werkes enthalten ist, schrieb er schon 1913: Wir wollen lieber Österreichisch sterben,/ als wie im Deutschen Reich verderben.
Als wie – da zückt der Lektor den Rotstift. Andrian, dem skrupulös feilenden Stilisten, ist die saloppe Doppelung nicht unbeabsichtigt widerfahren; vielmehr hat er ausdrücklich, unter anderem in dem unpublizierten Manuskript „Die Sprache des Österreichers”, diese mit ihren vermeintlichen Regelverstößen gegen ein von deutschen Instanzen verbindlich gesetztes Deutsch gerechtfertigt.
Andrian war überzeugt, die explosive Region Ost- und Südosteuropas könne sich nur dann in Frieden entwickeln, wenn ihren Völkern Gleichberechtigung, freilich unter einer zentralen Herrschaft gewährt würde. Er verfasste etliche Studien über die ethnische und nationale Vielfalt des Raumes, der er nur dann eine Zukunft gab, wenn sich diese geordnet im Rahmen eines Reiches und unter der Herrschaft des einen Kaiserhauses der Habsburger entwickeln würde.
Die „ethnische Gerechtigkeit” bedeutete drittens keineswegs, dass Andrian von der Gleichberechtigung der Bürger dieses Reiches ausgegangen wäre. Im Gegenteil, er war durchaus antidemokratisch, autoritär gesonnen. Giftig ätzt er in den zwanziger Jahren in seinen Tagebüchern darüber, dass jetzt „in der Hofburg Fleischhacker-Kränzchen, Köche-Bälle und Productionen von Tanzschulen” veranstaltet würden, und das kleine Österreich von 1918 war ihm nicht mehr als die „Parodie einer Republik”.
Im Jahr 1918 demissionierte Andrian von seinem Posten. Er wollte nicht der Republik Österreich dienen. Er war immer noch wohlhabend, veräußerte dennoch sein Haus in Alt-Aussee, das ein paar Jahre später Jakob Wassermann erwerben sollte, lebte abwechselnd in Wien, in der Schweiz und in Nizza, stets besorgt, man würde seine sowohl sittenwidrigen als auch nicht standesgemäßen Beziehungen zu Kerlen, die schlichte Namen hatten wie jener jahrelang angehimmelte „Sepp”, entdecken, und stetig mit dem Gedanken beschäftigt, ein Werk zu schaffen, das den „Garten der Erkenntnis” übertreffen werde.
Land ohne Bürger
Verfasst und veröffentlicht hat er nur noch zwei Werke einer absonderlichen Österreich-Mystik, 1930 „Die Ständeordnung des Alls”, das die österreichische Ordnung der Dinge gewissermaßen kosmisch festgelegt sah, und 1937 „Österreich im Prisma der Idee”. Dieses merkwürdige Buch, das im Untertitel nicht weniger versprach als einen „Katechismus der Führenden”, fasst alle Stärken und Schwächen des um Harmonie besorgten, gleichwohl widersprüchlichen Autors. Da wird eine schwelgende Österreich-Mythologie betrieben, die sich weit von der sozialen Realität der dreißiger Jahre entfernte und die beschworene Vergangenheit zur ewigen Idylle der Völker und Klassen verklärte. Zugleich ist die ideologisch überfrachtete Studie jedoch voll von klugen Beobachtungen und bedenkenswerten Einsichten – und zudem von dem Pathos getragen, die Unabhängigkeit Österreichs gegen den nationalsozialistischen Sturmangriff zu sichern.
Die Besonderheit Österreichs leitet Andrian aus der Tatsache ab, dass das Bürgertum hier niemals seine kulturelle Hegemonie zu errichten vermochte und die Kultur wesentlich von vorbürgerlichen Merkmalen geprägt geblieben sei. Daran ist viel Richtiges, übrigens bis heute. Andrian zeigt dies an der österreichischen Sprache auf, bei der sich Aristokraten und Bauern dialektal nahe sind, während sich Bürger- und Kleinbürgertum auch sprachlich vollkommen an die für fortschrittlich gehaltene protestantisch-norddeutsche Kultur angeglichen haben.
Bis zu seinem Tod in Fribourg 1951 hat Andrian immer in komfortablen Verhältnissen gelebt, immer auch unglücklich, über den Lauf der Welt, das Verhängnis seiner sexuellen Orientierung, das Unglück, ein Dichter zu sein, der mit zwanzig sein Bestes schon gegeben hatte. Seine Literatur musste sich gewissermaßen gegen ihren Verfasser behaupten, und das gilt heute mehr denn je: Um zu seinen luziden Gedanken vorzustoßen, muss man die ideologischen Schutzwälle überqueren, die Andrian selbst errichtet hat. In der der ungeschriebenen Literaturgeschichte des Scheiterns steht ihm ein Ehrenplatz zu.
KARL-MARKUS GAUSS
LEOPOLD ANDRIAN: Der Garten der Erkenntnis und andere Dichtungen. Mit einem Nachwort herausgegeben von Dieter Sudhoff. Igel Verlag, Oldenburg 2003. 238 Seiten, 32,40 Euro.
URSULA PRUTSCH/KLAUS ZEYRINGER (HRSG.): Leopold von Andrian (1875-1951). Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte. Böhlau-Verlag, Wien/Köln/Weimar 2003, 910 Seiten, 99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2003

Ein Bruder des Lord Chandos
Im Garten der Erkenntnis: Eine Werkausgabe Leopold Andrians

Nie hat eine Generation mehr vom unerreichbaren Leben geträumt als die jungen Geistesaristokraten in Wien um 1900. Alles besaßen sie und zugleich nichts. Denn ihre vornehme Herkunft, der materielle Reichtum und die erlesene Bildung brachten sie der fremden Lebenswirklichkeit um nichts näher. Claudio vermag in Hofmannsthals "Der Tor und der Tod" seine "tiefste Lebenssehnsucht" nur im Sterben zu erfüllen, und der Kaufmannssohn im "Märchen der 672. Nacht" wird unaufhörlich von der "tödlichen Angst vor der Unentrinnbarkeit des Lebens" gepeinigt. Ähnlich geht es Erwin, einem zutiefst unglücklichen Fürstensohn. Wie viele Figuren der Décadence haust er "einsam und sich selbst genug" in einem geschlossenen "Garten der Erkenntnis" - so lautet der Titel seiner Geschichte. Sie ist so traurig und beklemmend schön, daß man sich ihr kaum entziehen kann. Nur ein "unmusischer Mensch", meinte Stefan George, der sie auswendig konnte, wisse damit "nichts anzufangen".

Erwins Schicksal ähnelt dem seiner Generation und seines Schöpfers Leopold Reichsfreiherr Ferdinand von Andrian zu Werburg. Andrian verkörpert den mit Kultur und Kunst legierten alten österreichischen Adel: Sein Vater ist ein berühmter Anthropologe, sein Großvater mütterlicherseits der jüdische Komponist Giacomo Meyerbeer. Während seine Eltern ständig in der mondänen Welt umherschweifen, wird er auf dem elitären Jesuitenstift Kalksburg und von seinem Privatlehrer Oskar Walzel erzogen. Aus seinen Tagebüchern und Briefen, besonders der intimen Korrespondenz mit dem ein Jahr älteren Hofmannsthal, lernt man die Nöte dieses einsamen Menschen kennen.

Im "traumartigen Lebenslauf" der Erzählung, so Hofmannsthal, wird all das ins "Märchenartige" gewendet. Zum Außerordentlichen und Einmaligen, von dem Hofmannsthal weiter spricht, trägt das fast gänzliche Fehlen einer Handlung bei. Felix von Salten sieht sie ersetzt durch ein "staunendes Verweilen bei den wichtigen Augenblicken der Seele". Die damit verbundene literarische Innovation haben die Zeitgenossen deutlich erkannt. Hermann Bahr, der populäre Theoretiker der neuen Wiener "Nervenkunst", feiert sogleich die Ablösung des allwissenden Erzählers durch einen "esprit fureteur" als "Protokollführer", den wir heute als personalen Erzähler kennen. Andrian hat ihm 1895 im "Garten der Erkenntnis" entscheidende Geburtshilfe geleistet.

Um den ungeheuren Erfolg des Textes zu verstehen, muß man sich diese poetische Revolution vergegenwärtigen. Auf Zeitgenossen wie Ferdinand von Saar wirkt das im Jahr des Erscheinens noch sehr "fremd und ungewohnt", etwa "wie die Klänge einer räthselhaften Musik". Ohne den Grund zu erkennen, zeigt er sich jedoch von der enthaltenen "Fülle der Stimmungen und Empfindungen, der Farben und Töne" sofort verzaubert. So geht es vielen Lesern. Bahr hält den Text für "unsäglich tief und schön" und empfiehlt ihn als "bestes Werk der europäischen Moderne" an den Fischer Verlag. 1919 erscheint die vierte Auflage, zusammen mit einigen Gedichten.

Dank zweier Neuausgaben von 1970 und 1990 ist die Erzählung als Seitenstück zu Hofmannsthals "Märchen", Richard Beer-Hofmanns "Der Tod Georgs" und Musils "Törleß" in Erinnerung geblieben. Die früheren Gedichte, einige sogar aus Georges "Blättern für die Kunst", sind hingegen vergessen. Dieter Sudhoff fügt sie jetzt dem "Garten der Erkenntnis" bei und legt sie zusammen mit etlichen Stücken aus dem Nachlaß erstmals geschlossen vor. Dazu zählt auch die kuriose Romanzenreihe "Hannibal", die der geltungsbedürftige Dreizehnjährige als Geschenk für seine Mutter in Venedig drucken läßt.

Interessanter als diese Drechseleien der "Frühvollendung" ist der Fragment gebliebene erotische Zyklus "Erwin und Elmire". Darin besingt Andrian in beinahe siebzig Gedichten die unglückliche Liebe zu seinem Mitschüler Erwin Slamecka: "Ich gab das Einzige was mein, Dir hin. / Mein Freund was kann ich Dir noch geben? / Denn alles was ich hatte lag darin / Mit meiner Liebe nahmst Du auch mein Leben." Seine von starken Schuldgefühlen belastete homoerotische Neigung versucht Andrian in solchen Versen zu verarbeiten. In die Erzählung findet sie nur diskret Eingang: Clemens trägt hier Züge Erwins, während der Name des Freundes auf den Fürstensohn selbst übergeht. Andrian litt unter seiner Veranlagung, die er in seiner späteren Laufbahn als Diplomat durch Scheinehen und ein besonders konformes Verhalten zu verbergen suchte.

Der jähe Abbruch der frühen literarischen Karriere mit Erscheinen der Erzählung mag damit zusammenhängen. Dem krisenhaften Versiegen aller poetischen Kräfte könnte man ein höchst prominentes Nachspiel zuschreiben. Wenn Andrian sich im März 1900 bei George entschuldigt, daß ihm "der Drang oder die Gabe, in Worten zu schaffen, insofern ich sie je hatte, verloren gegangen" sei, klingt das verdächtig nach Hofmannsthals zwei Jahre später erschienenem Chandos-Brief. Hugo übersendet ihn Poldy mit der Versicherung, daß dieser Arbeit "das Persönliche stark anhaftet". Auf welche Person es sich bezieht, sagt er jedoch nicht. Einiges spricht dafür, Andrian und nicht Hofmannsthal als Vorbild für den "Fall" des Lord Chandos anzunehmen, dem "völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen". Hofmannsthal ist dem schönen Garten da schon entkommen und nach dem Realitätsschock während der Militärzeit längst wieder produktiv. "Ich glaube" - meldet er Poldy Jahre zuvor vom schmutzigen galizischen Stützpunkt - "das schöne Leben verarmt einen."

In diesem Sinne bleibt Andrian als Autor die Flucht aus dem Garten des Ästhetizismus versagt. Auf die Abwendung von der Dichtung folgen hypochondrische Nervenleiden und schwere Depressionen. Auf den vielen diplomatischen Posten zwischen Rio und Sankt Petersburg wahrt er konservativ bürgerliche Haltung. Den letzten Satz der Erzählung: "So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben", wird man nicht leichtfertig auf den Verfasser beziehen. Besonders glücklich scheint sein Leben aber nicht verlaufen zu sein. Bis hoffentlich noch ungedruckte Tagebücher und Briefe Andrians erscheinen, bleibt Sudhoffs - leider "behutsam modernisierte" - Werkausgabe die maßgebliche Grundlage für jede künftige literarische und biographische Auseinandersetzung.

ALEXANDER KOSENINA

Leopold Andrian: "Der Garten der Erkenntnis und andere Dichtungen". Herausgegeben von Dieter Sudhoff. Igel Verlag, Oldenburg 2003. 238 S., br., 21,- [Euro].

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