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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Karl-Markus Gauß stellt in einer Doppelrezension zweier Bücher von und über Leopold von Andrian diesen österreichischen Schriftsteller eingehend vor, der ein "Schlüsselwerk des fin de siecle" geschrieben hat und dem, wie Gauß schreibt, ein "Ehrenplatz" in einer noch zu schreibenden "Literaturgeschichte des Scheiterns" zusteht. Die Erzählung "Der Garten der Erkenntnis" des 20-jährigen Andrian, in dem es um eine unglückliche Jugend eines Adligen im Internat und um seine als "schuldhaft" erlebte Homosexualität geht, war schon zu seiner Entstehungszeit gleichzeitig "verstaubt und modern", meint der Rezensent. Während die Handlung eher etwas "akademisch" anmutet, sind die Erfahrungen des Protagonisten von den "krisenhaften" Veränderungen der Moderne bestimmt, so Gauß, der meint, dass diese Erzählung auch heute noch Leser erreicht, die sich bereitwillig auf "nach innen gewandte lyrische Prosa" einlassen. Dass Andrian ansonsten außer zwei Texten über Österreich nichts mehr publiziert hat und sein lebenslang geplantes Opus magnum nicht zustande kam, lag nicht zuletzt an Andrians Konflikt, "Kunst und Leben" zu vereinbaren und an seiner Homosexualität, die er mit seiner reaktionären Religiosität nicht vereinbaren konnte, so der Rezensent mitfühlend.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2003

Ein Bruder des Lord Chandos
Im Garten der Erkenntnis: Eine Werkausgabe Leopold Andrians

Nie hat eine Generation mehr vom unerreichbaren Leben geträumt als die jungen Geistesaristokraten in Wien um 1900. Alles besaßen sie und zugleich nichts. Denn ihre vornehme Herkunft, der materielle Reichtum und die erlesene Bildung brachten sie der fremden Lebenswirklichkeit um nichts näher. Claudio vermag in Hofmannsthals "Der Tor und der Tod" seine "tiefste Lebenssehnsucht" nur im Sterben zu erfüllen, und der Kaufmannssohn im "Märchen der 672. Nacht" wird unaufhörlich von der "tödlichen Angst vor der Unentrinnbarkeit des Lebens" gepeinigt. Ähnlich geht es Erwin, einem zutiefst unglücklichen Fürstensohn. Wie viele Figuren der Décadence haust er "einsam und sich selbst genug" in einem geschlossenen "Garten der Erkenntnis" - so lautet der Titel seiner Geschichte. Sie ist so traurig und beklemmend schön, daß man sich ihr kaum entziehen kann. Nur ein "unmusischer Mensch", meinte Stefan George, der sie auswendig konnte, wisse damit "nichts anzufangen".

Erwins Schicksal ähnelt dem seiner Generation und seines Schöpfers Leopold Reichsfreiherr Ferdinand von Andrian zu Werburg. Andrian verkörpert den mit Kultur und Kunst legierten alten österreichischen Adel: Sein Vater ist ein berühmter Anthropologe, sein Großvater mütterlicherseits der jüdische Komponist Giacomo Meyerbeer. Während seine Eltern ständig in der mondänen Welt umherschweifen, wird er auf dem elitären Jesuitenstift Kalksburg und von seinem Privatlehrer Oskar Walzel erzogen. Aus seinen Tagebüchern und Briefen, besonders der intimen Korrespondenz mit dem ein Jahr älteren Hofmannsthal, lernt man die Nöte dieses einsamen Menschen kennen.

Im "traumartigen Lebenslauf" der Erzählung, so Hofmannsthal, wird all das ins "Märchenartige" gewendet. Zum Außerordentlichen und Einmaligen, von dem Hofmannsthal weiter spricht, trägt das fast gänzliche Fehlen einer Handlung bei. Felix von Salten sieht sie ersetzt durch ein "staunendes Verweilen bei den wichtigen Augenblicken der Seele". Die damit verbundene literarische Innovation haben die Zeitgenossen deutlich erkannt. Hermann Bahr, der populäre Theoretiker der neuen Wiener "Nervenkunst", feiert sogleich die Ablösung des allwissenden Erzählers durch einen "esprit fureteur" als "Protokollführer", den wir heute als personalen Erzähler kennen. Andrian hat ihm 1895 im "Garten der Erkenntnis" entscheidende Geburtshilfe geleistet.

Um den ungeheuren Erfolg des Textes zu verstehen, muß man sich diese poetische Revolution vergegenwärtigen. Auf Zeitgenossen wie Ferdinand von Saar wirkt das im Jahr des Erscheinens noch sehr "fremd und ungewohnt", etwa "wie die Klänge einer räthselhaften Musik". Ohne den Grund zu erkennen, zeigt er sich jedoch von der enthaltenen "Fülle der Stimmungen und Empfindungen, der Farben und Töne" sofort verzaubert. So geht es vielen Lesern. Bahr hält den Text für "unsäglich tief und schön" und empfiehlt ihn als "bestes Werk der europäischen Moderne" an den Fischer Verlag. 1919 erscheint die vierte Auflage, zusammen mit einigen Gedichten.

Dank zweier Neuausgaben von 1970 und 1990 ist die Erzählung als Seitenstück zu Hofmannsthals "Märchen", Richard Beer-Hofmanns "Der Tod Georgs" und Musils "Törleß" in Erinnerung geblieben. Die früheren Gedichte, einige sogar aus Georges "Blättern für die Kunst", sind hingegen vergessen. Dieter Sudhoff fügt sie jetzt dem "Garten der Erkenntnis" bei und legt sie zusammen mit etlichen Stücken aus dem Nachlaß erstmals geschlossen vor. Dazu zählt auch die kuriose Romanzenreihe "Hannibal", die der geltungsbedürftige Dreizehnjährige als Geschenk für seine Mutter in Venedig drucken läßt.

Interessanter als diese Drechseleien der "Frühvollendung" ist der Fragment gebliebene erotische Zyklus "Erwin und Elmire". Darin besingt Andrian in beinahe siebzig Gedichten die unglückliche Liebe zu seinem Mitschüler Erwin Slamecka: "Ich gab das Einzige was mein, Dir hin. / Mein Freund was kann ich Dir noch geben? / Denn alles was ich hatte lag darin / Mit meiner Liebe nahmst Du auch mein Leben." Seine von starken Schuldgefühlen belastete homoerotische Neigung versucht Andrian in solchen Versen zu verarbeiten. In die Erzählung findet sie nur diskret Eingang: Clemens trägt hier Züge Erwins, während der Name des Freundes auf den Fürstensohn selbst übergeht. Andrian litt unter seiner Veranlagung, die er in seiner späteren Laufbahn als Diplomat durch Scheinehen und ein besonders konformes Verhalten zu verbergen suchte.

Der jähe Abbruch der frühen literarischen Karriere mit Erscheinen der Erzählung mag damit zusammenhängen. Dem krisenhaften Versiegen aller poetischen Kräfte könnte man ein höchst prominentes Nachspiel zuschreiben. Wenn Andrian sich im März 1900 bei George entschuldigt, daß ihm "der Drang oder die Gabe, in Worten zu schaffen, insofern ich sie je hatte, verloren gegangen" sei, klingt das verdächtig nach Hofmannsthals zwei Jahre später erschienenem Chandos-Brief. Hugo übersendet ihn Poldy mit der Versicherung, daß dieser Arbeit "das Persönliche stark anhaftet". Auf welche Person es sich bezieht, sagt er jedoch nicht. Einiges spricht dafür, Andrian und nicht Hofmannsthal als Vorbild für den "Fall" des Lord Chandos anzunehmen, dem "völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen". Hofmannsthal ist dem schönen Garten da schon entkommen und nach dem Realitätsschock während der Militärzeit längst wieder produktiv. "Ich glaube" - meldet er Poldy Jahre zuvor vom schmutzigen galizischen Stützpunkt - "das schöne Leben verarmt einen."

In diesem Sinne bleibt Andrian als Autor die Flucht aus dem Garten des Ästhetizismus versagt. Auf die Abwendung von der Dichtung folgen hypochondrische Nervenleiden und schwere Depressionen. Auf den vielen diplomatischen Posten zwischen Rio und Sankt Petersburg wahrt er konservativ bürgerliche Haltung. Den letzten Satz der Erzählung: "So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben", wird man nicht leichtfertig auf den Verfasser beziehen. Besonders glücklich scheint sein Leben aber nicht verlaufen zu sein. Bis hoffentlich noch ungedruckte Tagebücher und Briefe Andrians erscheinen, bleibt Sudhoffs - leider "behutsam modernisierte" - Werkausgabe die maßgebliche Grundlage für jede künftige literarische und biographische Auseinandersetzung.

ALEXANDER KOSENINA

Leopold Andrian: "Der Garten der Erkenntnis und andere Dichtungen". Herausgegeben von Dieter Sudhoff. Igel Verlag, Oldenburg 2003. 238 S., br., 21,- [Euro].

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