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George Steiners Essays sind ein Plädoyer für die Kunst der intensiven, kenntnisreichen Lektüre, die in der Euphorie über die Errungenschaften der sogenannten Informationsgesellschaft in Vergessenheit zu geraten droht. Das mag manchem altmodisch, wenn nicht anmaßend vorkommen. Aber vielleicht bietet diese kompromisslose Haltung die letzte Chance, das Unterscheidungsvermögen zu bewahren und den großen Texten der Weltliteratur gewachsen zu bleiben.

Produktbeschreibung
George Steiners Essays sind ein Plädoyer für die Kunst der intensiven, kenntnisreichen Lektüre, die in der Euphorie über die Errungenschaften der sogenannten Informationsgesellschaft in Vergessenheit zu geraten droht. Das mag manchem altmodisch, wenn nicht anmaßend vorkommen. Aber vielleicht bietet diese kompromisslose Haltung die letzte Chance, das Unterscheidungsvermögen zu bewahren und den großen Texten der Weltliteratur gewachsen zu bleiben.
Autorenporträt
George Steiner, geb. 1929 in Paris, hat seit 1994 den Lord-Weidenfeld-Lehrstuhl für Komparatistik an der Universität Oxford inne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Verächter des amerikanischen Adam
George Steiner führt durch die Archive von Eden / Von Gerhard Neumann

Realpräsenz" ist ein Begriff aus der Theologie. Er meint die leibliche Gegenwart Gottes in Brot und Wein auf dem Tisch der Eucharistie. Als George Steiner 1989 ein Buch mit dem Titel "Real Presences" veröffentlichte, konfrontierte er die Literaturwissenschaft mit der These, daß die Zeichen, die die Kunst setzt, den gleichen Gesetzen gehorchen, wie die Eucharistie sie gestiftet hat.

Mit seiner These hatte Steiner in ein Wespennest gestochen. Die Welt der Literaturwissenschaft stand im Zeichen der Dekonstruktion - der Thesen eines Roland Barthes, eines Foucault, eines Derrida oder Paul de Man, die von der Überzeugung getragen sind, daß ein definitiver Sinn in einem literarischen Text nicht auszumachen, daß Werkeinheit, Autorschaft und Textkonsistenz nicht mehr gewährleistet, daß, spätestens seit Mallarmé, der Kontrakt zwischen Sprache und Welt aufgekündigt sei. Das Merkwürdige an diesem literaturtheoretischen Streit war, daß im Hintergrund beider konkurrierenden Auffassungen der gleiche Kronzeuge sichtbar wurde: Martin Heidegger.

Auf Heideggers Philosophie, die von der Verborgenheit der Wahrheit in der Geschichte und deren Entbergung durch die Arbeit der Sprache handelt und in der die Begriffe Identität und Differenz eine zentrale Rolle spielen, ließ sich Steiners ,Realpräsenz' ebenso zurückführen wie der von Steiner so genannte ,Nihilismus' der Dekonstruktion. Im Spiel zwischen Identität und Differenz, so Heidegger, ereigne sich allererst Sprache, der Prozeß der Entstehung und Gestaltung von Kultur. Der Unterschied zwischen Steiner und den "Meistern der Leere", die er attackierte, bestand darin, daß jede Partei - im Rückgriff auf Heidegger - eine eigene regulative Idee erfand: Jacques Derrida setzte auf den Prozeß der "différence", der, als ein nicht arretierbares rhetorisches Ereignis, unendliche Verschiebung und Verwandlung des literalen Sinnes bewirkt; George Steiner berief sich dagegen auf den (theologischen) Begriff der Identität: "Ich bin, der ich bin." Zwar nimmt auch dieser die kulturelle Differenzierung in seinen Dienst, aber als stetige Annäherung an einen authentischen Sinn des Wortes in der Geschichte.

Der Essayband Steiners mit dem Titel "Der Garten des Archimedes", der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, enthält als Kernstück einen Text, der dem Buch "Von realer Gegenwart" vorausgegangen war - pointierter noch als dieses und zu einer umfassenden Verknüpfung von Kulturtheorie und Poetologie ausholend. Die Erfahrung von Realpräsenz sei die intuitive Quelle aller Kultur; der Literaturwissenschaft komme es zu, den authentischen Sinn solcher Ikonen der Bedeutung zu erhellen. In einer - freilich nie abschließbaren - Kette von Deutungen werde jene Stabilität des literarischen Kanons geschaffen, der überzeitliche Geltung besitzt: die magistralen Werke eines Platon und Sophokles, eines Dante, Racine oder Goethe, eines Joyce, Kafka oder Paul Celan. Dabei beleihe der literarische Text die Bank der Theologie fortgesetzt um das lebensnotwendige Kapital. "Gott, der andere Künstler!" habe Picasso einmal ausgerufen. Aus dem Akt der Symbiose von Autor und Leser erwachse die Hervorbringung textueller Bedeutung.

Dieser Frage nach dem Lesen als fundamentalem kulturellem Ritual gilt der einleitende Essay dieses Bandes. Er bezieht sich auf ein Gemälde Chardins: "Le philosophe lecteur" von 1734. In einer bewundernswerten Mikroanalyse - nach der Aby-Warburgschen Devise "Gott steckt im Detail" - beleuchtet Steiner die Kulturtechnik des Lesens in einem Vergleich zwischen den Zivilisationen des achtzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Lektüre, als ein Ordnung stiftender Spiegel, ist für Steiner das kulturelle Verstehensmodell schlechthin: sich äußernd in stiller Konzentration, in Randnotizen und Kommentaren des Lesenden, in Abschriften und Übersetzungen, in einer hermeneutischen Osmose zwischen Leser und Schriftzeichen also, in der der Sprachsinn zu sich selbst kommt. Ganz anders der Leser unserer Tage: Sein Tun ereignet sich nicht in Andacht und Stille, sondern vor dem Hintergrund lärmerfüllter, von dröhnender Musik und Geschrei beschallter Räume; kulturelles Wissen, das ihn leiten könnte, ist zwar in den Speichern der Computer verfügbar, aber nicht erwünscht.

Der Mikroanalyse des Chardin-Bildes zugeordnet ist der längste (und polemischste) Aufsatz des Bandes. Er bietet - unter dem Namen "Die Archive von Eden" - einen kulturkritischen Rundumschlag, in dem Steiner eine Bilanz der intellektuellen und künstlerischen Leistung Nordamerikas im Vergleich mit Europa zieht. Führte der Weg der Pilgerväter mit der "Mayflower" in die Neue Welt auch zur Stiftung eines neuen kulturellen Paradigmas? Steiners Antwort ist ein lautes Nein. Die Neuerungen, die die "Väter" in Neu-England ins Werk setzten, vollzogen sie mit den Mitteln der Sprache und der Denkformen ebenjener Alten Welt, die sie hinter sich gelassen hatten. Ist dies der Grund, warum die Vereinigten Staaten keine bedeutenden Künstler, keine Musiker, Mathematiker oder Philosophen von höchstem Rang hervorgebracht haben? Schöpferische Kräfte, so Steiner, sind nur durch Auswanderer, namentlich die jüdischen Emigranten während der Greuel der Nazizeit, nach Amerika gelangt. Der plötzliche Sprung, der eine positive Mutation des "feigen, mörderischen Knäuels von Begierden", das die alltäglichen Menschen bilden, zum Genie hätte bewirken können, sei in der Subventions- und Konsumkultur der Vereinigten Staaten ausgeblieben. Inbegriff und Emblem der sterilen Situation in den Vereinigten Staaten sind für Steiner die in Vitrinen aufgereihten Stradivaris in der Kongreßbibliothek: Geigen, Bratschen und Celli, die bestenfalls einmal im Jahr einem Quartett für ein Beethovenkonzert zur Verfügung gestellt werden.

Steiners kulturpolitischer Essay läuft auf die provokative Frage zu, welche Konstellation die Kunst in der Zivilisation am meisten bedroht: die politische Unterdrückung, wie sie im Rußland Stalins geherrscht hatte (und die zahlreiche große Künstler hervorbrachte); die Sklerose der Meritokratie, wie sie das alte Europa bestimmt; oder das allgemein akzeptierte System spiritueller und sozialer Werte im amerikanischen Bildungssystem. Die Diagnose lautet: Es gibt keine kulturellen Bedingungen für das Wunder des Schöpferischen. Das Genie opfert sein Leben für die Tat, die es vollbringt. Archimedes zog es vor, sich in seinem Garten in Syrakus weiterhin mit konischen Sektoren zu beschäftigen, anstatt vor den in die Stadt eindringenden Römern zu flüchten. Im "Garten des Archimedes" sind Theorem und Barbarei unlösbar ineinander verkeilt. Es ist der Ort, an dem das Genie, apolitisch und asozial, in tragischem Solipisismus, verweilt. Eine Alternative ist nicht in Sicht.

Der letzte Aufsatz in Steiners Essayband, "Zwei Nachtmahle", aus den Priestley Lectures 1995 in Toronto hervorgegangen, ist explizit weder ein Beitrag zur literaturtheoretischen Diskussion der Gegenwart noch eine kulturpolitische Kampfschrift - implizit aber vielleicht beides zugleich. Steiner unternimmt, was Erich Auerbach, der jüdische Gelehrte im Exil, in seinem Buch "Mimesis" vor fünfzig Jahren gewagt hatte: den kühnen Versuch, die geistige Geschichte des Abendlands aus zwei kulturellen Ritualen, zwei "Nachtmahlen" zu entwickeln, die in zwei für die europäische Literatur grundlegenden Texten überliefert sind: im Platonischen "Symposion" und im Evangelium des Johannes. Hier das letzte Abendmahl Christi, das er mit seinen Jüngern feierte; dort das Bankett zu Ehren des Agathon, an dem Sokrates kurz vor seinem Tod durch den Schierlingsbecher teilnahm. Steiner versteht diese beiden Texte als Geburtsorte zweier kultureller Muster, die aus den Städten Athen und Jerusalem als den Zentren des Juden- und des Griechentums in der Alten Welt hervorgehen. In beiden Fällen geht es um den Tod eines exemplarischen Menschen - des Sokrates vor seiner Hinrichtung und Jesu vor der Kreuzigung -, und Steiner fragt, was geschehen wäre, wenn es Geschichten nicht zweier Hinrichtungen, sondern zweier Geburten gewesen wären. Die beiden "Abendmahle" stehen im Zeichen von Eros und Agape (irdischer und himmlischer Liebe), von Eros und Thanatos (Liebe und Tod). Die Liebe zeigt dabei ein Doppelgesicht: als Quelle des Lebens oder als anarchische Krankheit. Der Dialog, das "Tischgespräch", das über sie geführt wird, handelt von Körper und Seele, von Fleisch und Geist.

Im Mittelpunkt von Steiners Argumentation steht die Frage nach dem historischen Orientierungsmuster, das durch die beiden Rituale, ihre Analogie und ihren Kontrast, gestiftet wird. Sokrates, der den freien Entschluß zum Sterben gefaßt hat, tritt, aus dem Dunkel des nächtlichen Banketts kommend, in die Helle der selbstgewählten Freiheit, in das "mittägliche Leuchten seiner Weisheit". Judas dagegen, der von Jesus durch ein negatives Sakrament der Ausschließung zur ewigen Verdammnis Auserwählte, schreitet in die niemals endende Nacht kollektiver Schuld hinaus. "Sein Abgang öffnet die Tür zur Shoah: das ist nichts anderes als die nüchterne Wahrheit." Mit seiner Deutung der beiden gründenden Paradigmen Athen und Jerusalem ("nach Auerbach") gibt George Steiner der Kulturgeschichte, die das Abendland bestimmt, einen neuen und eigenen Sinn. Er ist bestimmt durch die Frage nach der Geschichte des jüdischen Volkes im Abendland; es ist zugleich die Frage, in welcher Weise Gott in der Geschichte wohnt.

Dieser doppelten Erkundung der Rolle der jüdischen Kultur in der Geschichte und des Wohnens Gottes in dieser gelten die übrigen in Steiners Sammelband vereinigten Essays. Als Schlüsselargument erweist sich die uranfängliche Weigerung der Juden, der "Frohen Botschaft" des Christentums zu folgen. "Wir werden die hartnäckige Psychose des Christentums, das heißt, den Haß auf die Juden, nicht durchschauen, wenn wir nicht in dieser dynamischen Pathologie die unverheilten Narben ausfindig machen, die das ,Nein' des Juden zu dem gekreuzigten Messias hinterlassen hat." Diese "Wunden der Negativität", wie Kierkegaard sagt, erweisen sich als Markierungen der Kulturgeschichte Europas. Sie sind ablesbar an der Konstruktion der religiösen, ethnischen und nationalen "Identität" des Juden aus den totemistischen Archaismen "Nation", "Rasse" und "Religion" und aus dem Tabu, das jedes Gespräch über sie überschattet.

George Steiner entwickelt aus einem dezidiert konservativen Gesichtspunkt heraus eine Theorie der Kultur, die einer binären Gegenüberstellung von Christentum und Judentum entspringt und aus der Beobachtung von deren Differenz den Prozeß der europäischen Zivilisation beleuchtet. Sein Kulturkonzept steht im Zeichen einer rückwärts gewandten Idee: daß Kunst und Genialität des "großen Subjekts" ein und dasselbe seien. Dieser Standpunkt erlaubt es Steiner, radikale Verwerfungen zu statuieren und ganze historische Formationen von Kunstproduktion wie von Kunstverständnis auszuschließen. Was es dennoch schwermacht, ihm umstandslos zu widersprechen, ist der Umstand, daß er sein Kulturmodell in seinem persönlichen Schicksal verankert und aus der Geschichte des Judentums und seines unsäglichen Leidens seit zweitausend Jahren ästhetisch und politisch zu beglaubigen sucht.

George Steiner: "Der Garten des Archimedes". Essays. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Müller. Carl Hanser Verlag, München 1997. 353 Seiten, br., 39,80 DM.

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