Lemuel Falk, ein preisgekrönter Chaos- und Zufallsforscher, reist als Gastprofessor in die USA. Aber statt paradiesischer Zustände erwartet den weltfremden Mittvierziger im Gelobten Land des Westens nur eine Reihe merkwürdiger Ereignisse. Und alsbald suchen ihn auch "alte Bekannte" vom KGB und "neue Freunde" von CIA, Mafia und diversen arabischen Geheimdiensten auf. Sie interessieren sich brennend für ein Codiersystem aus Lemuels Forschungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.1995Fußabdruck eines Falters
Das Buch zum Chaos: "Der Gastprofessor" von Robert Littell
Das Chaos lauert überall. Zuerst versteckte es sich nur dort, wo die Forscher es aufspürten: als geheimnisvolle Kraft innerhalb nichtlinearer Systeme, die sich aufgrund kleinster Störungen unberechenbar, unregelmäßig, chaotisch verändern können. Solche Systeme erkannten enthusiasmierte Wissenschaftler plötzlich in allen Lebensbereichen. Der chaotische Siegeszug hatte damit jedoch erst begonnen. Chaos-Forscher avancierten zu Chaos-Managern; etliche Chaos-Bücher erschienen; ein Fernsehsender widmete dem Chaos einen Themenabend, ein Nachrichtenmagazin eine Titelserie. Die Lehre galt als neuartig, phantastisch und in höchstem Maße kompatibel mit dem wahren Leben - ein Sujet, wie geschaffen für die Unterhaltungsliteratur. Einer, der dies erkannt hat, ist der Amerikaner Robert Littell. Der Beweis ist sein Buch "Der Gastprofessor", das nun auf deutsch vorliegt. Es hätte auch heißen können: "Chaos - der Roman".
Littell, einst Osteuropa-Korrespondent von "Newsweek" und mit Polit- und Spionagethrillern bekannt geworden, wäre seinem Ruf nicht gerecht geworden, hätte er eine spröde akademische Abhandlung fabriziert. Sein Roman, in dem das Chaos Kernthema und Kulisse zugleich ist, enthält Elemente einer Liebesgeschichte, eines Krimis und einer Satire über amerikanische Provinznester. In ein solches nämlich verschlägt es den Russen Lemuel Falk, der am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung in Backwater bei New York eine Gastprofessur antritt.
Falk ist einer jener Antihelden, wie sie gerade das Thrillergenre gerne in den Mittelpunkt stellt: Ein schüchterner, sich in Wachträumen verlierender Mann von 46 Jahren, der sich in einer neuen Welt orientieren muß, ängstlich bemüht, nicht anzuecken, so daß er sich im Schnellimbiß lieber zwei Tassen Kaffee servieren läßt als nachzufragen, was "Mit oder ohne?" bedeutet. Doch nur dem Gehirn dieses Außenseiters, der zum Zeitvertreib über sechs Milliarden Dezimalstellen von Pi berechnet, ist die Aufklärung einer unheimlichen Serie scheinbar zufälliger Morde möglich.
Littell läßt seinen Protagonisten von einer grotesken Situation in die nächste tappen - und das, wo Falk alles Zufällige nur als unerkannte Vorhersehung einstuft. Sein Heiliger Gral ist der wahrhaftige, reine Zufall, dem er voll verzweifelter Hoffnung und der traurigen Gewißheit nachspürt, daß es ihn nicht gibt. In den "Pseudo-Zufälligkeiten" sieht er "Fußabdrücke des Chaos", welches er, da es auch auf einer Ordnung basiert, insgeheim verachtet.
Auch der vom Chaosforscher Edward Lorenz erfundene brasilianische Schmetterling, der mit leichtem Flügelschlag einen gewaltigen Orkan in Texas auslöst, flattert über die Buchseiten. In der Phantasie Lemuel Falks ist das Insekt zum sibirischen Nachtfalter mutiert und verantwortlich für den apokalyptischen Eisregen, der Backwater heimgesucht hat. Kurze Zeit später findet Falk unter der rechten Brust der jungen Studentin Rain eine Schmetterlingstätowierung - Sinnbild der Verschmelzung von Wissenschaft und Erotik, an der sich Littell in seinem Roman versucht.
Die subtile Ironie des Autors, der bekennt, Stilistisches höher zu achten als die Story, entschädigt für den starken Tobak, der dem Leser mitunter zugemutet wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe, über eine Mordserie mit nicht weniger als zwanzig Toten zu schreiben, ohne sich die Mühe zu machen, etwas über die näheren Umstände oder die Opfer mitzuteilen - ganz zu schweigen von einer Erklärung, wie man in einem Kaff von 1290 Einwohnern zwanzig Morde begehen kann, ohne von Zeugen bemerkt zu werden oder sich irgendwie verdächtig zu machen.
Doch eigentlich dienen die Morde auch nur dazu, Falk eine Möglichkeit zu geben, seine extensiven Diskurse zu Chaos und Zufall praktisch anzuwenden; Chaos und Zufall wiederum dienen als intellektuelle Rettungsringe der gelegentlich in trivialen Untiefen abtauchenden Geschichte. Die obskuren Geheimdienstler aller Herren Länder, die Falk ihre Aufwartung machen, dienen Littell dazu, dem guten alten Spionageroman eine Reminiszenz zu erweisen und, man muß es registrieren, ein paar Seiten mehr zu füllen. Doch die Verknüpfung scheinbar völlig inkohärenter Motive und Genres zu einem gut und schnell lesbaren Stück Unterhaltungsliteratur ist in weiten Teilen gelungen - und dies wohl weniger auf den Zufall zurückzuführen als auf die Routine des Autors. JÖRG THOMANN
Robert Littell: "Der Gastprofessor". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. Goldmann Verlag, München 1995. 316 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch zum Chaos: "Der Gastprofessor" von Robert Littell
Das Chaos lauert überall. Zuerst versteckte es sich nur dort, wo die Forscher es aufspürten: als geheimnisvolle Kraft innerhalb nichtlinearer Systeme, die sich aufgrund kleinster Störungen unberechenbar, unregelmäßig, chaotisch verändern können. Solche Systeme erkannten enthusiasmierte Wissenschaftler plötzlich in allen Lebensbereichen. Der chaotische Siegeszug hatte damit jedoch erst begonnen. Chaos-Forscher avancierten zu Chaos-Managern; etliche Chaos-Bücher erschienen; ein Fernsehsender widmete dem Chaos einen Themenabend, ein Nachrichtenmagazin eine Titelserie. Die Lehre galt als neuartig, phantastisch und in höchstem Maße kompatibel mit dem wahren Leben - ein Sujet, wie geschaffen für die Unterhaltungsliteratur. Einer, der dies erkannt hat, ist der Amerikaner Robert Littell. Der Beweis ist sein Buch "Der Gastprofessor", das nun auf deutsch vorliegt. Es hätte auch heißen können: "Chaos - der Roman".
Littell, einst Osteuropa-Korrespondent von "Newsweek" und mit Polit- und Spionagethrillern bekannt geworden, wäre seinem Ruf nicht gerecht geworden, hätte er eine spröde akademische Abhandlung fabriziert. Sein Roman, in dem das Chaos Kernthema und Kulisse zugleich ist, enthält Elemente einer Liebesgeschichte, eines Krimis und einer Satire über amerikanische Provinznester. In ein solches nämlich verschlägt es den Russen Lemuel Falk, der am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung in Backwater bei New York eine Gastprofessur antritt.
Falk ist einer jener Antihelden, wie sie gerade das Thrillergenre gerne in den Mittelpunkt stellt: Ein schüchterner, sich in Wachträumen verlierender Mann von 46 Jahren, der sich in einer neuen Welt orientieren muß, ängstlich bemüht, nicht anzuecken, so daß er sich im Schnellimbiß lieber zwei Tassen Kaffee servieren läßt als nachzufragen, was "Mit oder ohne?" bedeutet. Doch nur dem Gehirn dieses Außenseiters, der zum Zeitvertreib über sechs Milliarden Dezimalstellen von Pi berechnet, ist die Aufklärung einer unheimlichen Serie scheinbar zufälliger Morde möglich.
Littell läßt seinen Protagonisten von einer grotesken Situation in die nächste tappen - und das, wo Falk alles Zufällige nur als unerkannte Vorhersehung einstuft. Sein Heiliger Gral ist der wahrhaftige, reine Zufall, dem er voll verzweifelter Hoffnung und der traurigen Gewißheit nachspürt, daß es ihn nicht gibt. In den "Pseudo-Zufälligkeiten" sieht er "Fußabdrücke des Chaos", welches er, da es auch auf einer Ordnung basiert, insgeheim verachtet.
Auch der vom Chaosforscher Edward Lorenz erfundene brasilianische Schmetterling, der mit leichtem Flügelschlag einen gewaltigen Orkan in Texas auslöst, flattert über die Buchseiten. In der Phantasie Lemuel Falks ist das Insekt zum sibirischen Nachtfalter mutiert und verantwortlich für den apokalyptischen Eisregen, der Backwater heimgesucht hat. Kurze Zeit später findet Falk unter der rechten Brust der jungen Studentin Rain eine Schmetterlingstätowierung - Sinnbild der Verschmelzung von Wissenschaft und Erotik, an der sich Littell in seinem Roman versucht.
Die subtile Ironie des Autors, der bekennt, Stilistisches höher zu achten als die Story, entschädigt für den starken Tobak, der dem Leser mitunter zugemutet wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe, über eine Mordserie mit nicht weniger als zwanzig Toten zu schreiben, ohne sich die Mühe zu machen, etwas über die näheren Umstände oder die Opfer mitzuteilen - ganz zu schweigen von einer Erklärung, wie man in einem Kaff von 1290 Einwohnern zwanzig Morde begehen kann, ohne von Zeugen bemerkt zu werden oder sich irgendwie verdächtig zu machen.
Doch eigentlich dienen die Morde auch nur dazu, Falk eine Möglichkeit zu geben, seine extensiven Diskurse zu Chaos und Zufall praktisch anzuwenden; Chaos und Zufall wiederum dienen als intellektuelle Rettungsringe der gelegentlich in trivialen Untiefen abtauchenden Geschichte. Die obskuren Geheimdienstler aller Herren Länder, die Falk ihre Aufwartung machen, dienen Littell dazu, dem guten alten Spionageroman eine Reminiszenz zu erweisen und, man muß es registrieren, ein paar Seiten mehr zu füllen. Doch die Verknüpfung scheinbar völlig inkohärenter Motive und Genres zu einem gut und schnell lesbaren Stück Unterhaltungsliteratur ist in weiten Teilen gelungen - und dies wohl weniger auf den Zufall zurückzuführen als auf die Routine des Autors. JÖRG THOMANN
Robert Littell: "Der Gastprofessor". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. Goldmann Verlag, München 1995. 316 S., geb., 39,80 DM.
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