Peter Härtlings letztes Buch: ein bewegender Roman über das Alter, die Freundschaft und die Einsamkeit.
Johannes Wenger, ein achtzigjähriger alleinstehender Architekt, ist gestürzt und seither auf den Rollstuhl und Pflege angewiesen. Das kratzt an seinem Selbstbild, macht den Alltag mühsam und lässt viel Raum für Einsamkeit und Wehmut. Sein junger Hausarzt Dr. Mailänder jedoch hält dagegen und Wenger am Leben, holt ihn zurück in die Welt und lädt ihn mit seiner Familie zu einem gemeinsamen Osterurlaub ein. Wie der grantige Alte auf diese Einladung reagiert, ist meisterhaft erzählt. Und was alles geschehen kann, wenn man mit einem kauzigen Rollstuhlfahrer, der gedanklich in ständigem Austausch steht mit historischen Figuren wie den Architekten Karl Friedrich Schinkel oder Mies van der Rohe, an den Strand von Travemünde reist, ist ein großes Leseerlebnis voller Komik und Melancholie.
Mit viel Gefühl, genauem Blick und voller Selbstironie nimmt Härtling seine Leser mit in die Mühsal des Alters, die sich auch in seinen Träumen spiegelt, um deutlich zu machen, welch großes Glückspotenzial auch diese Lebensphase besitzt.
Johannes Wenger, ein achtzigjähriger alleinstehender Architekt, ist gestürzt und seither auf den Rollstuhl und Pflege angewiesen. Das kratzt an seinem Selbstbild, macht den Alltag mühsam und lässt viel Raum für Einsamkeit und Wehmut. Sein junger Hausarzt Dr. Mailänder jedoch hält dagegen und Wenger am Leben, holt ihn zurück in die Welt und lädt ihn mit seiner Familie zu einem gemeinsamen Osterurlaub ein. Wie der grantige Alte auf diese Einladung reagiert, ist meisterhaft erzählt. Und was alles geschehen kann, wenn man mit einem kauzigen Rollstuhlfahrer, der gedanklich in ständigem Austausch steht mit historischen Figuren wie den Architekten Karl Friedrich Schinkel oder Mies van der Rohe, an den Strand von Travemünde reist, ist ein großes Leseerlebnis voller Komik und Melancholie.
Mit viel Gefühl, genauem Blick und voller Selbstironie nimmt Härtling seine Leser mit in die Mühsal des Alters, die sich auch in seinen Träumen spiegelt, um deutlich zu machen, welch großes Glückspotenzial auch diese Lebensphase besitzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2018Ein schwefelgelbes Endspiel
Aus dem Nachlass von Peter Härtling erscheint der Roman "Der Gedankenspieler". Er zeigt einen Autor, dem die Treue zu seiner Figur über alles geht.
Von Steffen Martus
Der Gedankenspieler" ist Peter Härtlings letzter Roman. Er verknüpft darin Leitmotive seines erzählerischen Werks, das sich seit einiger Zeit zu einem Alterswerk entwickelt hat und die körperliche Gebrechlichkeit des Schriftstellers reflektiert. Und es ist ein Glück, dass der große Kinderbuchautor, einfühlsame Biograph und engagierte Erzähler noch einmal die Begegnung von Alter und Kindheit auf Augenhöhe schildert, an die eminente Bedeutung der Kunst für ein gelungenes Leben erinnert und einen kritischen Blick auf die Gegenwart wirft, unter deren zunehmender "Dummheit und Mordlust" er nicht weniger leidet als sein Protagonist.
Johannes Wenger, ein kultivierter älterer Herr von Anfang achtzig, ist schon in jungen Jahren zum einsamen Mann geworden. "Die Einsamkeit, selbst gewählt, fraß sich als Alter ins Fleisch, in die Muskeln." Er hatte sich ganz gut in der unüberbrückbaren Distanz zu seiner Umgebung eingerichtet. Nach einem Unfall sitzt Wenger jedoch im Rollstuhl. Der Misanthrop konnte immer für sich allein sorgen, nun ist er auf seine Mitmenschen angewiesen. Das "Elend", von Ärzten und Pflegepersonal abhängig zu sein und ihren Anweisungen Folge leisten zu müssen, verbittert den nicht gerade grundheiteren Wenger zusätzlich. In den Fängen von Rollatoren, Sauerstoffgeräten, Essen auf Rädern, Medikamenten und Windeln bieten sich viele Gelegenheiten zum Lebensverdruss. Nüchternheit, Selbstironie und gute Manieren sorgen gleichwohl für Fasson und ein Mindestmaß an Sozialverträglichkeit.
Dabei kann es natürlich nicht bleiben. Die Verlagsankündigung des Romans stellt einen Glückswechsel für den Pflegefall in Aussicht: "Sein junger Hausarzt Dr. Mailänder", so heißt es dort, "hält dagegen und Wenger am Leben, holt ihn zurück in die Welt und lädt ihn mit seiner Familie zu einem gemeinsamen Osterurlaub ein." Wie wird es dem "grantigen Alten" dort ergehen? Wird die sechsjährige Stieftochter des Arztes das Herz des "kauzigen Rollstuhlfahrers" erweichen, bevor es mit ihm zu Ende geht? Lernt Wenger also endlich zu leben, auf dass sein Leiden einen Sinn habe? Hinter der Handlung lauert ein populäres Muster: ein traurig-komischer ARD-Fernsehfilm für den frühen Abend. Die Hauptrolle des knoddernden Alten würde vermutlich mit Günther Maria Halmer besetzt, die des jüngeren Arztes mit Oliver Mommsen oder Heio von Stetten.
Die Dramaturgie eines solchen traurig-vergnüglichen Fernsehfilms kalkuliert verlässlich damit, dass ein Menschenfeind, der mit seinem Leben eigentlich schon abgeschlossen und es vielleicht sogar nie gelebt hat, zu einem Menschenfreund mutiert. Mit einem Wort: Es gehört fest zu dieser Dramaturgie, den Charakter der Hauptfigur zu verraten, weil sich aus der üblen Schale eine ganz andere Person herauspellen muss. Die sieht dann auf Anhieb besser aus, irgendwie lebendiger und frischer. Maske und Kostüm sorgen für plötzliche Verjüngung und eröffnen neue Spielräume für Zuneigung und Liebe.
Härtling plaziert tatsächlich diverse Szenen in seinem Roman, die sich für diese Weichenstellung in Richtung "neues Leben" anbieten, und gönnt sich durchaus einige Günther-Maria-Halmer-Wohlfühlmomente. Seine Hauptfigur aber befindet sich auf einer gnadenlos abschüssigen Linie. Das Gefälle nimmt allenfalls für eine bestimmte Strecke ab, die Todesfahrt in den Abgrund verlangsamt sich, ohne jemals bergauf zu führen. Der Autor bleibt seiner Figur treu.
Der Verlag hat sich für den ARD-Fernsehfilmtitel "Der Gedankenspieler" entschieden. Johannes Wenger aber ist kein spielerischer Typ. Einmal bezeichnet er sich als "Gedankenspieler", um seinen Freund in trügerischer Sicherheit zu wiegen und von seinen Selbstmordplänen abzulenken, das andere Mal, als sich eine Liebesbeziehung mit einer jüngeren Frau anbahnt. Das schmeichelhafte Interesse einer anderen Person, das elektrisierende Gefühl einer zarten Berührung von fremder Hand, die ungewohnte alltägliche Zuneigung - von Beginn an sieht Wenger darin allenfalls einen vermeintlichen "Anfall von Liebe".
Bereits die erste Annäherung provoziert bei ihm die Überlegung, wie er "diese abwegige Lust nach jüngerer Haut loswerden könne". Sehr schnell verschiebt er die Beziehung daher ins Reich der Kunst, indem er die realen Figuren mit dem Personal von Beethovens "Fidelio" überblendet. So mündet diese riskante Passage dann auch nicht in ein romantisches Tête-à-tête. Stattdessen legt Wenger ganz für sich allein Schuberts f-Moll-Fantasie auf, deren künstlerische Perfektion ihn emotional mehr als jeder mitmenschliche Kontakt rührt. Denn dies ist und bleibt der Kern seiner Existenz: die tiefe Dankbarkeit für unsterbliche Kunst.
Peter Härtling selbst führte die Arbeitsfassung seines Romans unter dem Titel "Schwefelgelbes Endspiel". Die Motti der Kapitel sind entsprechend düster. Beginnend mit Goethes Diktum "Die Summa Summarum des Alters ist eigentlich niemals erquicklich", führen die Zitate ins "Inferno" von Dantes Göttlicher Komödie. Zunächst lernt sich Wenger nach seinem Unfall als gealterter Mann kennen, weil seine Konzentrationsfähigkeit nachlässt, die Müdigkeit ihn "von innen auffrisst" und Schamgrenzen doch recht umstandslos fallen. Am Ende haben die Behandlungen seinen Leib zerschunden. Die Dialyse verzehrt seine Lebenskraft und nimmt ihm den Mut. Härtling, der diese Prozeduren selbst über sich hat ergehen lassen, schildert das alles ebenso genau wie lakonisch. Fast noch erschütternder aber ist, wie sehr dieser kranke Mann, der genug mit sich selbst zu tun hat, unter dem politischen Chaos der Gegenwart leidet, besonders unter der terroristischen Menschenverachtung. Johannes Wenger schämt sich dafür, jemals an eine friedliche Zukunft geglaubt zu haben. "Eine kindliche Hoffnung, die das fatale Wesen des Menschen, seine Unbelehrbarkeit, nicht zur Kenntnis nahm". Wenn selbst Peter Härtling alle Zuversicht fahren lässt, dann muss man sich um die Welt ernsthaft Sorgen machen.
Peter Härtling: "Der Gedankenspieler". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Nachlass von Peter Härtling erscheint der Roman "Der Gedankenspieler". Er zeigt einen Autor, dem die Treue zu seiner Figur über alles geht.
Von Steffen Martus
Der Gedankenspieler" ist Peter Härtlings letzter Roman. Er verknüpft darin Leitmotive seines erzählerischen Werks, das sich seit einiger Zeit zu einem Alterswerk entwickelt hat und die körperliche Gebrechlichkeit des Schriftstellers reflektiert. Und es ist ein Glück, dass der große Kinderbuchautor, einfühlsame Biograph und engagierte Erzähler noch einmal die Begegnung von Alter und Kindheit auf Augenhöhe schildert, an die eminente Bedeutung der Kunst für ein gelungenes Leben erinnert und einen kritischen Blick auf die Gegenwart wirft, unter deren zunehmender "Dummheit und Mordlust" er nicht weniger leidet als sein Protagonist.
Johannes Wenger, ein kultivierter älterer Herr von Anfang achtzig, ist schon in jungen Jahren zum einsamen Mann geworden. "Die Einsamkeit, selbst gewählt, fraß sich als Alter ins Fleisch, in die Muskeln." Er hatte sich ganz gut in der unüberbrückbaren Distanz zu seiner Umgebung eingerichtet. Nach einem Unfall sitzt Wenger jedoch im Rollstuhl. Der Misanthrop konnte immer für sich allein sorgen, nun ist er auf seine Mitmenschen angewiesen. Das "Elend", von Ärzten und Pflegepersonal abhängig zu sein und ihren Anweisungen Folge leisten zu müssen, verbittert den nicht gerade grundheiteren Wenger zusätzlich. In den Fängen von Rollatoren, Sauerstoffgeräten, Essen auf Rädern, Medikamenten und Windeln bieten sich viele Gelegenheiten zum Lebensverdruss. Nüchternheit, Selbstironie und gute Manieren sorgen gleichwohl für Fasson und ein Mindestmaß an Sozialverträglichkeit.
Dabei kann es natürlich nicht bleiben. Die Verlagsankündigung des Romans stellt einen Glückswechsel für den Pflegefall in Aussicht: "Sein junger Hausarzt Dr. Mailänder", so heißt es dort, "hält dagegen und Wenger am Leben, holt ihn zurück in die Welt und lädt ihn mit seiner Familie zu einem gemeinsamen Osterurlaub ein." Wie wird es dem "grantigen Alten" dort ergehen? Wird die sechsjährige Stieftochter des Arztes das Herz des "kauzigen Rollstuhlfahrers" erweichen, bevor es mit ihm zu Ende geht? Lernt Wenger also endlich zu leben, auf dass sein Leiden einen Sinn habe? Hinter der Handlung lauert ein populäres Muster: ein traurig-komischer ARD-Fernsehfilm für den frühen Abend. Die Hauptrolle des knoddernden Alten würde vermutlich mit Günther Maria Halmer besetzt, die des jüngeren Arztes mit Oliver Mommsen oder Heio von Stetten.
Die Dramaturgie eines solchen traurig-vergnüglichen Fernsehfilms kalkuliert verlässlich damit, dass ein Menschenfeind, der mit seinem Leben eigentlich schon abgeschlossen und es vielleicht sogar nie gelebt hat, zu einem Menschenfreund mutiert. Mit einem Wort: Es gehört fest zu dieser Dramaturgie, den Charakter der Hauptfigur zu verraten, weil sich aus der üblen Schale eine ganz andere Person herauspellen muss. Die sieht dann auf Anhieb besser aus, irgendwie lebendiger und frischer. Maske und Kostüm sorgen für plötzliche Verjüngung und eröffnen neue Spielräume für Zuneigung und Liebe.
Härtling plaziert tatsächlich diverse Szenen in seinem Roman, die sich für diese Weichenstellung in Richtung "neues Leben" anbieten, und gönnt sich durchaus einige Günther-Maria-Halmer-Wohlfühlmomente. Seine Hauptfigur aber befindet sich auf einer gnadenlos abschüssigen Linie. Das Gefälle nimmt allenfalls für eine bestimmte Strecke ab, die Todesfahrt in den Abgrund verlangsamt sich, ohne jemals bergauf zu führen. Der Autor bleibt seiner Figur treu.
Der Verlag hat sich für den ARD-Fernsehfilmtitel "Der Gedankenspieler" entschieden. Johannes Wenger aber ist kein spielerischer Typ. Einmal bezeichnet er sich als "Gedankenspieler", um seinen Freund in trügerischer Sicherheit zu wiegen und von seinen Selbstmordplänen abzulenken, das andere Mal, als sich eine Liebesbeziehung mit einer jüngeren Frau anbahnt. Das schmeichelhafte Interesse einer anderen Person, das elektrisierende Gefühl einer zarten Berührung von fremder Hand, die ungewohnte alltägliche Zuneigung - von Beginn an sieht Wenger darin allenfalls einen vermeintlichen "Anfall von Liebe".
Bereits die erste Annäherung provoziert bei ihm die Überlegung, wie er "diese abwegige Lust nach jüngerer Haut loswerden könne". Sehr schnell verschiebt er die Beziehung daher ins Reich der Kunst, indem er die realen Figuren mit dem Personal von Beethovens "Fidelio" überblendet. So mündet diese riskante Passage dann auch nicht in ein romantisches Tête-à-tête. Stattdessen legt Wenger ganz für sich allein Schuberts f-Moll-Fantasie auf, deren künstlerische Perfektion ihn emotional mehr als jeder mitmenschliche Kontakt rührt. Denn dies ist und bleibt der Kern seiner Existenz: die tiefe Dankbarkeit für unsterbliche Kunst.
Peter Härtling selbst führte die Arbeitsfassung seines Romans unter dem Titel "Schwefelgelbes Endspiel". Die Motti der Kapitel sind entsprechend düster. Beginnend mit Goethes Diktum "Die Summa Summarum des Alters ist eigentlich niemals erquicklich", führen die Zitate ins "Inferno" von Dantes Göttlicher Komödie. Zunächst lernt sich Wenger nach seinem Unfall als gealterter Mann kennen, weil seine Konzentrationsfähigkeit nachlässt, die Müdigkeit ihn "von innen auffrisst" und Schamgrenzen doch recht umstandslos fallen. Am Ende haben die Behandlungen seinen Leib zerschunden. Die Dialyse verzehrt seine Lebenskraft und nimmt ihm den Mut. Härtling, der diese Prozeduren selbst über sich hat ergehen lassen, schildert das alles ebenso genau wie lakonisch. Fast noch erschütternder aber ist, wie sehr dieser kranke Mann, der genug mit sich selbst zu tun hat, unter dem politischen Chaos der Gegenwart leidet, besonders unter der terroristischen Menschenverachtung. Johannes Wenger schämt sich dafür, jemals an eine friedliche Zukunft geglaubt zu haben. "Eine kindliche Hoffnung, die das fatale Wesen des Menschen, seine Unbelehrbarkeit, nicht zur Kenntnis nahm". Wenn selbst Peter Härtling alle Zuversicht fahren lässt, dann muss man sich um die Welt ernsthaft Sorgen machen.
Peter Härtling: "Der Gedankenspieler". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Härtlings letzter Roman ist ein Abschiedswerk, das die große Menschenfreundlichkeit erkennen lässt, die wir an diesem Autor immer geschätzt haben.« Wolf Scheller Schwäbische Zeitung 20180321