Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.04.2017Unter Spitzeln
Joseph Conrad hat den modernen Terrorismus sehr früh literarisch entdeckt. Ein Hörspiel nach
seinem Roman „Der Geheimagent“ vergegenwärtigt die Welt der Selbstmordattentäter
VON LOTHAR MÜLLER
Die Schritte klingen, als habe ein mechanischer Taktzähler sie auf den Weg geschickt. Unauffällig schleichen sie sich in den Hallraum der elektronischen Musik ein, die bisweilen von knisternden technischen Störgeräuschen wie von einem nervösen Schluckauf befallen wird. „Verloc verlässt um halb elf vormittags sein Haus und begibt sich auf den Weg ins Westend. Diese Stunde ist ungewöhnlich früh für ihn“, sagt eine Männerstimme. Als könne sie ihn beobachten, begleitet sie Mr. Verloc im Präsens auf seinem Weg ins vornehme Knightsbridge. Sie weiß viel über ihn und kann ihn detailliert beschreiben.
Wenige Sekunden später gesellt sich ihr eine zweite Männerstimme zu. An der Behaglichkeit, mit der sie sich im Imperfekt bewegt, ist sie leicht als Erzählerstimme zu erkennen. Als Duo gehen die beiden durch das Hörspiel, in das der Regisseur Martin Zylka für den WDR den Roman „Der Geheimagent“ verwandelt hat. Wenn eine der Stimmen über die Schritte Mr. Verlocs die Ansage legt „Ein Hörspiel in zwei Teilen. Von Joseph Conrad“, lässt sie die Mühe allzu sehr verschwinden, die in dieser Verwandlung steckt. Der Textbearbeiter Steffen Moratz und die Dramaturgin Isabel Platthaus haben, um die Vorgabe von zwei Sendungen von jeweils gut
50 Minuten einzuhalten, eine Extraktversion des Romans erstellt. Dessen Erzähler nimmt sich viel Zeit, zu Beginn des ersten Kapitels das obskure Ladengeschäft des Mr. Verloc in Soho ins Auge zu fassen. Auch lässt er sich Details wie das Verwirrspiel der Hausnummern am Chesham Square nicht entgehen, dem Domizil der Gesandtschaft, auf die Mr. Verloc, Anarchist und Instrument der Macht in Personalunion, zusteuert.
Dafür, wie für viele andere Details, hat das Hörspiel keine Zeit. Seine eigenen Gesetze weisen dem Erzähler-Duo die Rolle des Türöffners zu, der den Blick auf das szenische Geschehen öffnet. Und so zieht sich Peter Frickes Erzählerstimme zurück, nachdem sie beobachtet hat, wie der Portier der Gesandtschaft hastig in den linken Ärmel seines Livreerocks schlüpft. In der Gesandtschaft werden der Geheimrat Wurmt und der neue Botschaftssekretär, Mr. Vladimir, das Wort führen, Mr. Verloc mangelnden Diensteifer vorhalten und von ihm die Beweise der Nützlichkeit verlangen, die den Schreckensmechanismus der Handlung in Bewegung setzen werden. Aber das szenische Geschehen ist hier nicht illusionistisch inszeniert, immer wieder meldet sich die charakterisierende Erzählerinstanz zurück. Das Hörspiel präpariert, dem düsteren Geschehen nicht ganz unangemessen, das Skelett des Romans heraus, sein Knochengerüst.
Der Schädel und die Extremitäten erzählen vom neuen, auf das Selbstmordattentat zulaufenden Typus des Terrorismus, für dessen literarische Entdeckung Conrads Roman zu Recht berühmt ist. Die Gesandtschaft, für die Mr. Verloc arbeitet, ist von russischem Flair umgeben, aber das russische Modell, in dem der Staat nach Attentaten gegen Zaren und hohe Funktionsträger den Repressionsapparat immer weiter ausbaut, erhält in London einen unheimlichen Nachfolger. Der Mangel an Repression, so sieht es Mr. Vladimir, begünstigt in England das Treiben der Anarchisten und Revolutionäre, es muss ein Anschlag her, der die Gesellschaft wie ein blinder Zufall trifft, erschüttert und zur Repressionspolitik bekehrt. Greenwich, wo das Zeitmaß gesetzt wird, ist dafür der rechte Ort. Die Schlüsselfigur im Londoner Anarchistenmilieu, die dem zynischen Machtkalkül zuarbeitet, ist der bombenbastelnde Chemie-„Professor“, in dessen Stimme Wolf-Dietrich Sprenger Gnadenlosigkeit und Eitelkeit mischt.
Aus dem Stimmengewirr der Männerwelt aus Spitzeln, Revolutionären, Kommissaren, die mit ihren Gattinnen in Aristokratenkreisen verkehren, sticht die einzige Frauenstimme hervor, Cathlen Gawlich als Mr. Verlocs Gattin, Winnie. Sie steht im Zentrum der Geschichte, die den Brustkorb des Skeletts füllt. Diese Geschichte ist ein Familiendrama, in dem Mr. Verlocs Ehefrau von ihrem jüngeren Bruder, dem verwirrten Stevie, und ihrer Mutter flankiert wird, die sie wie ein Möbelstück mit in die Ehe eingebracht hat.
Dieses Familiendrama ist das pochende Herz im Kriminalroman Joseph Conrads. Wer sich an Cathlen Gawlichs Winnie hält und an Patrick Möllekens Stevie, ahnt dieses Pochen und wird, durch das Hörspiel in Spannung versetzt, zum Roman greifen und dort die gesamte Tiefe des Abgrunds entdecken, in die er seine Figuren stürzt.
Joseph Conrad: Der Geheimagent. Aus dem Englischen von Fritz Lorch. Hörspiel mit Felix Vörtler, Cathlen Gawlich, Peter Groege u.a. Der Audio Verlag, Berlin 2017. 2 CDs, ca. 105 Min., 14,99 Euro.
Ein Familiendrama ist
das pochende Herz
dieses Kriminalromans
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Joseph Conrad hat den modernen Terrorismus sehr früh literarisch entdeckt. Ein Hörspiel nach
seinem Roman „Der Geheimagent“ vergegenwärtigt die Welt der Selbstmordattentäter
VON LOTHAR MÜLLER
Die Schritte klingen, als habe ein mechanischer Taktzähler sie auf den Weg geschickt. Unauffällig schleichen sie sich in den Hallraum der elektronischen Musik ein, die bisweilen von knisternden technischen Störgeräuschen wie von einem nervösen Schluckauf befallen wird. „Verloc verlässt um halb elf vormittags sein Haus und begibt sich auf den Weg ins Westend. Diese Stunde ist ungewöhnlich früh für ihn“, sagt eine Männerstimme. Als könne sie ihn beobachten, begleitet sie Mr. Verloc im Präsens auf seinem Weg ins vornehme Knightsbridge. Sie weiß viel über ihn und kann ihn detailliert beschreiben.
Wenige Sekunden später gesellt sich ihr eine zweite Männerstimme zu. An der Behaglichkeit, mit der sie sich im Imperfekt bewegt, ist sie leicht als Erzählerstimme zu erkennen. Als Duo gehen die beiden durch das Hörspiel, in das der Regisseur Martin Zylka für den WDR den Roman „Der Geheimagent“ verwandelt hat. Wenn eine der Stimmen über die Schritte Mr. Verlocs die Ansage legt „Ein Hörspiel in zwei Teilen. Von Joseph Conrad“, lässt sie die Mühe allzu sehr verschwinden, die in dieser Verwandlung steckt. Der Textbearbeiter Steffen Moratz und die Dramaturgin Isabel Platthaus haben, um die Vorgabe von zwei Sendungen von jeweils gut
50 Minuten einzuhalten, eine Extraktversion des Romans erstellt. Dessen Erzähler nimmt sich viel Zeit, zu Beginn des ersten Kapitels das obskure Ladengeschäft des Mr. Verloc in Soho ins Auge zu fassen. Auch lässt er sich Details wie das Verwirrspiel der Hausnummern am Chesham Square nicht entgehen, dem Domizil der Gesandtschaft, auf die Mr. Verloc, Anarchist und Instrument der Macht in Personalunion, zusteuert.
Dafür, wie für viele andere Details, hat das Hörspiel keine Zeit. Seine eigenen Gesetze weisen dem Erzähler-Duo die Rolle des Türöffners zu, der den Blick auf das szenische Geschehen öffnet. Und so zieht sich Peter Frickes Erzählerstimme zurück, nachdem sie beobachtet hat, wie der Portier der Gesandtschaft hastig in den linken Ärmel seines Livreerocks schlüpft. In der Gesandtschaft werden der Geheimrat Wurmt und der neue Botschaftssekretär, Mr. Vladimir, das Wort führen, Mr. Verloc mangelnden Diensteifer vorhalten und von ihm die Beweise der Nützlichkeit verlangen, die den Schreckensmechanismus der Handlung in Bewegung setzen werden. Aber das szenische Geschehen ist hier nicht illusionistisch inszeniert, immer wieder meldet sich die charakterisierende Erzählerinstanz zurück. Das Hörspiel präpariert, dem düsteren Geschehen nicht ganz unangemessen, das Skelett des Romans heraus, sein Knochengerüst.
Der Schädel und die Extremitäten erzählen vom neuen, auf das Selbstmordattentat zulaufenden Typus des Terrorismus, für dessen literarische Entdeckung Conrads Roman zu Recht berühmt ist. Die Gesandtschaft, für die Mr. Verloc arbeitet, ist von russischem Flair umgeben, aber das russische Modell, in dem der Staat nach Attentaten gegen Zaren und hohe Funktionsträger den Repressionsapparat immer weiter ausbaut, erhält in London einen unheimlichen Nachfolger. Der Mangel an Repression, so sieht es Mr. Vladimir, begünstigt in England das Treiben der Anarchisten und Revolutionäre, es muss ein Anschlag her, der die Gesellschaft wie ein blinder Zufall trifft, erschüttert und zur Repressionspolitik bekehrt. Greenwich, wo das Zeitmaß gesetzt wird, ist dafür der rechte Ort. Die Schlüsselfigur im Londoner Anarchistenmilieu, die dem zynischen Machtkalkül zuarbeitet, ist der bombenbastelnde Chemie-„Professor“, in dessen Stimme Wolf-Dietrich Sprenger Gnadenlosigkeit und Eitelkeit mischt.
Aus dem Stimmengewirr der Männerwelt aus Spitzeln, Revolutionären, Kommissaren, die mit ihren Gattinnen in Aristokratenkreisen verkehren, sticht die einzige Frauenstimme hervor, Cathlen Gawlich als Mr. Verlocs Gattin, Winnie. Sie steht im Zentrum der Geschichte, die den Brustkorb des Skeletts füllt. Diese Geschichte ist ein Familiendrama, in dem Mr. Verlocs Ehefrau von ihrem jüngeren Bruder, dem verwirrten Stevie, und ihrer Mutter flankiert wird, die sie wie ein Möbelstück mit in die Ehe eingebracht hat.
Dieses Familiendrama ist das pochende Herz im Kriminalroman Joseph Conrads. Wer sich an Cathlen Gawlichs Winnie hält und an Patrick Möllekens Stevie, ahnt dieses Pochen und wird, durch das Hörspiel in Spannung versetzt, zum Roman greifen und dort die gesamte Tiefe des Abgrunds entdecken, in die er seine Figuren stürzt.
Joseph Conrad: Der Geheimagent. Aus dem Englischen von Fritz Lorch. Hörspiel mit Felix Vörtler, Cathlen Gawlich, Peter Groege u.a. Der Audio Verlag, Berlin 2017. 2 CDs, ca. 105 Min., 14,99 Euro.
Ein Familiendrama ist
das pochende Herz
dieses Kriminalromans
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de