Nach"Homo cerebralis"und"Geniale Gehirne"nun der abschließende Teil einer Trilogie zur Geschichte des modernen Gehirns.
Nach »Homo cerebralis« und »Geniale Gehirne« nun der abschließende Teil einer Trilogie zur Geschichte des modernen Gehirns.»Geist und Bewußtsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet« - dies manifestierten Hirnforscher im Jahr 2004.Auch diese Erkenntnis ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer 200jährigen Geschichte. Dabei waren die Theorien der Hirnforscher, mit denen sie versuchten, Sprache, Denken, Einbildungskraft, Moral und Gefühle im Gehirn zu lokalisieren, zu keinem Zeitpunkt unabhängig von den kulturellen, sozialen und politischen Umständen, unter denen sie ihre Forschungen betrieben. Die Cerebralisierung des Menschen ist ein unvollendetes und möglicherweise unvollendbares Projekt der Moderne. Neben faszinierenden Einsichten birgt es stets auch die Gefahr in sich, »Gehirn« mit Symbolen, Deutungen und Werten zu überfrachten und dadurch überzogene Erwartungen zu wecken, die nicht zu erfüllen sind oder zu heiklen biopolitischen Forderungen führen. Anthropologische Ansprüche an die Hirnforschung bewegen sich eher an der Grenze zwischen Science und Fiction. Vor dem Hintergrund dieser Debatten plädiert Michael Hagner für einen gelassenen und (selbst-)kritischen Umgang mit ihren Ergebnissen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Nach »Homo cerebralis« und »Geniale Gehirne« nun der abschließende Teil einer Trilogie zur Geschichte des modernen Gehirns.»Geist und Bewußtsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet« - dies manifestierten Hirnforscher im Jahr 2004.Auch diese Erkenntnis ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer 200jährigen Geschichte. Dabei waren die Theorien der Hirnforscher, mit denen sie versuchten, Sprache, Denken, Einbildungskraft, Moral und Gefühle im Gehirn zu lokalisieren, zu keinem Zeitpunkt unabhängig von den kulturellen, sozialen und politischen Umständen, unter denen sie ihre Forschungen betrieben. Die Cerebralisierung des Menschen ist ein unvollendetes und möglicherweise unvollendbares Projekt der Moderne. Neben faszinierenden Einsichten birgt es stets auch die Gefahr in sich, »Gehirn« mit Symbolen, Deutungen und Werten zu überfrachten und dadurch überzogene Erwartungen zu wecken, die nicht zu erfüllen sind oder zu heiklen biopolitischen Forderungen führen. Anthropologische Ansprüche an die Hirnforschung bewegen sich eher an der Grenze zwischen Science und Fiction. Vor dem Hintergrund dieser Debatten plädiert Michael Hagner für einen gelassenen und (selbst-)kritischen Umgang mit ihren Ergebnissen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2006Der Feind im Labor
Michael Hagner schließt seine großartige Hirn-Trilogie ab
Von der Philosophie hin zu einer Biologie des Geistes - so stellt sich manch einem heute die Bahn des Fortschritts in der Selbstaufklärung des Menschen dar. Das bisherige, bloß spekulative Wissen über menschliches Fühlen, Denken und Handeln soll endlich einer illusionslosen, sprich: naturwissenschaftlichen Forschung Platz machen. Mit solchen Wachablösungsphantasien freilich ist es so eine Sache. Denn wer die Tradition beerbt, erbt auch ihre Probleme. "So wie von Descartes einst die Zirbeldrüse wegen ihrer Einzigartigkeit zum Sitz der Seele erklärt worden war, scheint heute das Gehirn eine Einheit stiften zu sollen, die in der Forschungspraxis obsolet geworden ist." Der kühne Anspruch einer vollständigen Biologisierung des Menschen muß sich daher die Frage gefallen lassen, "ob das Gehirn zum letzten Stützpunkt der abendländischen Metaphysik geworden ist".
Mit Fragen dieser Art fährt Michael Hagner, Wissenschaftsforscher an der ETH Zürich, in seinem jüngsten Buch den großen Vereinfachern in der Debatte um Gehirn und Geist in die Parade. Es stellt den Abschluß einer eindrucksvollen Trilogie dar, die an verschiedenen Stadien und anhand einer Fülle von Exempeln die Karriere des Gehirns als eines Zentralorgans der modernen Selbstverständigung erzählt. Nach "Homo Cerebralis" (1997) und "Geniale Gehirne" (2004) legt Hagner nun mit "Der Geist bei der Arbeit" zehn weitere, vorzüglich geschriebene Kapitel aus der Geschichte der Cerebralisierung des Menschen vor.
Oder zumindest: der versuchten Cerebralisierung. Denn gerade dieser Versuch steht in Hagners Studien auf dem Prüfstand - welchem Thema sie auch immer gewidmet sind: ob nun dem Verhältnis von Gehirn und Sprache, dem medizinischen und kulturellen Status der Migräne, gruseligen Deformationen des Kopfes als Folge von Kriegsverletzungen, Vsevolod Pudovkins Filmexperiment Mechanik des Gehirns aus dem Jahr 1925, dem Menschen als museales Objekt oder den neuesten wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Konsequenzen der bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung.
Das sieht nach einem Gemischtwarenladen aus, in dem sich jeder nach Gusto bedienen kann (und warum auch nicht?). An allen diesen Themen jedoch verfolgt Hagner ein zentrales Motiv, das die Studien des Bandes miteinander verbindet. Aus der Tiefe des erkundeten historischen Raums lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Fallstricke und Verblendungen der aktuellen Diskussion zwischen Philosophie und Neurowissenschaften. An verschiedenen Stoffen schult er das Gespür seiner Leser dafür, wie sich Wahn und Wirklichkeit auf diesem Terrain zueinander verhalten.
Dem Geist zusehen?
Dies liegt zum einen an Hagners Haltung. Als Wissenschaftshistoriker liegt es ihm fern, in vorderster Front die neuesten Schlachten um das Verhältnis von Geist und Gehirn zu schlagen. Ihn interessiert es, wie - und mit welcher Absicht - sie seit gut 200 Jahren geschlagen werden. Dabei aber werden Konturen sichtbar, deren Kenntnis gerade für die gegenwärtige Debatte folgenreich ist. Ein Muster, auf das er immer wieder mit Lust zu sprechen kommt - diesem Forscher bereitet seine Arbeit sichtlich Vergnügen -, ist das Wechselspiel von Fiction, Science-fiction und Science im neurophysiologischen Gelände. Weit entfernt davon, in einer geraden Bahn vom dichterischen Mythos zum szientifischen Logos zu verlaufen, mischen sich diese Komponenten nach wie vor in einem munteren Reigen. Im Labor wie in der öffentlichen Darstellung wird überprüfbare wissenschaftliche Erkenntnis heute wie gestern mit mal dreisten, mal ingeniösen Fiktionen vermischt, die die tatsächliche Leistungsfähigkeit der verfügbaren Analyseverfahren oft weit überschreiten.
Hagner beweist hier einen scharfen Blick für wiederkehrende Figuren in der Rhetorik der neurowissenschaftlichen Forschung, etwa wenn er das Neuroimaging als "neuen ikonischen Götzen" bezeichnet, mit dessen Hilfe "Legitimation durch Illusion" betrieben werde. Dabei wird deutlich, wie mit dem Gehirn seit der Wende zum neunzehnten Jahrhundert immer wieder buchstäblich Politik gemacht wird, man denke nur an die Debatte um den moralischen und rechtlichen Schuldbegriff, die jüngst von Wissenschaftlern wie Gerhard Roth und Wolf Singer angestoßen wurde. Die Ergebnisse der Hirnforschung, so weist Hagner nach, stammen nicht allein aus der Abgeschiedenheit des Labors, sie sind aufs engste mit kulturellen Deutungen verbunden, in denen ihnen ein Stellenwert zugemessen wird, der durch Messungen nicht zu rechtfertigen ist.
Gerade die computergenerierten Gehirnbilder sind hierfür ein Beleg. Hagner deutet sie als eine nach "innen gewendete Physiognomik", die wie ihre nach außen gewendete Vorläuferin nur höchst vage Anhaltspunkte darüber zu liefern vermag, wie es um den geistigen oder charakterlichen Zustand der betreffenden Personen steht. Wäre es anders, müßte man sich ernsthaft Sorgen darüber machen, "daß die Hirnforschung am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts Instrumente in die Hand gespielt bekommen hat, mit denen der Traum von einer umfassenden Biologie des Geistes zum Alptraum menschlicher Selbstfesselung werden könnte".
So könnte es kommen, wenn es den Neurowissenschaften eines Tages gelänge, unsere Gedanken zu lesen und damit "dem Geist bei der Arbeit" zuzusehen. Mit der hergebrachten Lebensform des Menschen wäre es dann vorbei. Denn "um von einer Situation in die nächste zu gelangen, orientieren wir uns an Gedanken, nicht an cerebralen Aktivitätsmustern. Doch folgt man einigen Hirnforschern, so müßte sich das Verhältnis mit der Visualisierung der Hirnvorgänge beim Denken umkehren. Das neuronale Geschnatter ist das Reale, der Gedanke das Phantastische."
Vollmundige Spekulationen
Natürlich ist auch das wieder ein Übergang von Science zu Fiction. Er markiert aber sehr genau die systematische Frage, um die es in den mit Verve propagierten Fiktionen der heutigen Neuroscience geht: ob es denn denkbar ist, eines nahen oder fernen Tages in dem Gehirn eines Menschen auf eine Weise zu lesen, daß man sich den Umweg über das Verstehen des Geists der Äußerungen der betreffenden Personen sparen kann.
Nun, wenn Gehirn und Geist geradewegs dasselbe wären, sollte dies keine unüberwindliche Schwierigkeit darstellen. Aber sind sie es? Halten wir uns der Einfachheit halber an das Verhältnis von Gehirnzuständen und Gedanken. Wer den Gedanken hat, daß Schnee weiß ist, befindet sich in einem bestimmten Gehirnzustand - soviel dürfte gewiß sein. Nur ist deswegen dieser bestimmte Gedanke kaum mit einem bestimmten Gehirnzustand identisch. Denn daß unterschiedliche Personen denselben Gedanken haben, heißt noch lange nicht, daß sie denselben Gehirnzustand aufweisen; jede von ihnen mag diesen Gedanken mit jeweils anderen Gedanken, Assoziationen und Emotionen verbinden.
Wie also lassen sich Gedanken als Gedanken individuieren? Nicht durch das Starren auf bildlich oder sonstwie repräsentierte Gehirnzustände, sondern allein durch das Erfassen seines jeweiligen Gehalts im Medium einer handelsüblichen intersubjektiven Sprache. Das bedeutet: Der Beobachter von Gehirnprozessen muß den Gedanken, dessen neurophysiologisches Korrelat er in einem beobachteten Gehirn ausmachen will, selbst bereits auf die gewöhnliche Weise verstanden haben, bevor er seine Realisierung im Kopfe dieses oder jenes Mitmenschen ausmachen kann.
Nur hier, in der sozialen Praxis des wechselseitigen Verstehens, lassen sich Gedanken überhaupt identifizieren. Nur hier gewinnt die Rede von Gedanken und allem, was mit ihnen zusammenhängt - und also vom "Geist" des Menschen -, überhaupt einen Sinn. Daß Gedanken, wenn sie jeweils gedacht werden, auch Gehirnzustände sind, bedeutet nicht, daß sie Gehirnzustände sind. Sie sind Inhalte des Denkens von Lebewesen, die im Zuge ihrer natürlichen und kulturellen Evolution die Gehirne entwickelt haben, die sie befähigen, sich im Medium sprachlich artikulierter Gedanken zu orientieren. Die "Cerebralisierung des Menschen" muß den Menschen verkennen, weil sie den Sinn seiner gedanklichen und sonstigen Lebensäußerungen zu neutralisieren versucht.
Es sind Gründe dieser Art, die Hagner in Sachen einer angeblich bevorstehenden Lesbarkeit des Geistes vermöge einer Observation an Gehirnen von einem "Irrtum" sprechen lassen. "Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist im Labor ein notorischer Feind ausgemacht worden, und das ist der Mensch selbst", notiert er anläßlich eines Kommentars zu den Deutungen der berühmten Experimente von Benjamin Libet. Mit ihren subjektiven Reaktionen, so die Befürchtung, verunreinigen die Probanden die Resultate der erstrebten objektiven Messungen am Gehirn. Würde dieser Feind aber aus den Laboren vertrieben, so hätte sich die Gehirnforschung ihres aufregendsten Gegenstands beraubt. Sie könnte über geistige Prozesse gar nichts mehr ermitteln, denn sie wüßte nicht länger, nach welchen Spuren welcher Gehalte sie im Feuer des neuronalen Geschehens sucht.
Das lebensweltlich erlernte und erprobte Verstehen von Gedanken, Gefühlen und Handlungen nämlich stellt den Schlüssel auch und gerade zu einer naturwissenschaftlichen Erschließung des menschlichen Geistes dar. Wird dieser Schlüssel weggeworfen, bleiben der Hirnforschung in Sachen Geist und Gehirn nur vollmundige Spekulationen, deren Haltbarkeitsdatum, wie Hagner nüchtern bemerkt, "nicht wesentlich länger als das des Joghurts im Kühlregal" ist.
MARTIN SEEL
Michael Hagner: "Der Geist bei der Arbeit". Untersuchungen zur Hirnforschung. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 284 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Hagner schließt seine großartige Hirn-Trilogie ab
Von der Philosophie hin zu einer Biologie des Geistes - so stellt sich manch einem heute die Bahn des Fortschritts in der Selbstaufklärung des Menschen dar. Das bisherige, bloß spekulative Wissen über menschliches Fühlen, Denken und Handeln soll endlich einer illusionslosen, sprich: naturwissenschaftlichen Forschung Platz machen. Mit solchen Wachablösungsphantasien freilich ist es so eine Sache. Denn wer die Tradition beerbt, erbt auch ihre Probleme. "So wie von Descartes einst die Zirbeldrüse wegen ihrer Einzigartigkeit zum Sitz der Seele erklärt worden war, scheint heute das Gehirn eine Einheit stiften zu sollen, die in der Forschungspraxis obsolet geworden ist." Der kühne Anspruch einer vollständigen Biologisierung des Menschen muß sich daher die Frage gefallen lassen, "ob das Gehirn zum letzten Stützpunkt der abendländischen Metaphysik geworden ist".
Mit Fragen dieser Art fährt Michael Hagner, Wissenschaftsforscher an der ETH Zürich, in seinem jüngsten Buch den großen Vereinfachern in der Debatte um Gehirn und Geist in die Parade. Es stellt den Abschluß einer eindrucksvollen Trilogie dar, die an verschiedenen Stadien und anhand einer Fülle von Exempeln die Karriere des Gehirns als eines Zentralorgans der modernen Selbstverständigung erzählt. Nach "Homo Cerebralis" (1997) und "Geniale Gehirne" (2004) legt Hagner nun mit "Der Geist bei der Arbeit" zehn weitere, vorzüglich geschriebene Kapitel aus der Geschichte der Cerebralisierung des Menschen vor.
Oder zumindest: der versuchten Cerebralisierung. Denn gerade dieser Versuch steht in Hagners Studien auf dem Prüfstand - welchem Thema sie auch immer gewidmet sind: ob nun dem Verhältnis von Gehirn und Sprache, dem medizinischen und kulturellen Status der Migräne, gruseligen Deformationen des Kopfes als Folge von Kriegsverletzungen, Vsevolod Pudovkins Filmexperiment Mechanik des Gehirns aus dem Jahr 1925, dem Menschen als museales Objekt oder den neuesten wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Konsequenzen der bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung.
Das sieht nach einem Gemischtwarenladen aus, in dem sich jeder nach Gusto bedienen kann (und warum auch nicht?). An allen diesen Themen jedoch verfolgt Hagner ein zentrales Motiv, das die Studien des Bandes miteinander verbindet. Aus der Tiefe des erkundeten historischen Raums lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Fallstricke und Verblendungen der aktuellen Diskussion zwischen Philosophie und Neurowissenschaften. An verschiedenen Stoffen schult er das Gespür seiner Leser dafür, wie sich Wahn und Wirklichkeit auf diesem Terrain zueinander verhalten.
Dem Geist zusehen?
Dies liegt zum einen an Hagners Haltung. Als Wissenschaftshistoriker liegt es ihm fern, in vorderster Front die neuesten Schlachten um das Verhältnis von Geist und Gehirn zu schlagen. Ihn interessiert es, wie - und mit welcher Absicht - sie seit gut 200 Jahren geschlagen werden. Dabei aber werden Konturen sichtbar, deren Kenntnis gerade für die gegenwärtige Debatte folgenreich ist. Ein Muster, auf das er immer wieder mit Lust zu sprechen kommt - diesem Forscher bereitet seine Arbeit sichtlich Vergnügen -, ist das Wechselspiel von Fiction, Science-fiction und Science im neurophysiologischen Gelände. Weit entfernt davon, in einer geraden Bahn vom dichterischen Mythos zum szientifischen Logos zu verlaufen, mischen sich diese Komponenten nach wie vor in einem munteren Reigen. Im Labor wie in der öffentlichen Darstellung wird überprüfbare wissenschaftliche Erkenntnis heute wie gestern mit mal dreisten, mal ingeniösen Fiktionen vermischt, die die tatsächliche Leistungsfähigkeit der verfügbaren Analyseverfahren oft weit überschreiten.
Hagner beweist hier einen scharfen Blick für wiederkehrende Figuren in der Rhetorik der neurowissenschaftlichen Forschung, etwa wenn er das Neuroimaging als "neuen ikonischen Götzen" bezeichnet, mit dessen Hilfe "Legitimation durch Illusion" betrieben werde. Dabei wird deutlich, wie mit dem Gehirn seit der Wende zum neunzehnten Jahrhundert immer wieder buchstäblich Politik gemacht wird, man denke nur an die Debatte um den moralischen und rechtlichen Schuldbegriff, die jüngst von Wissenschaftlern wie Gerhard Roth und Wolf Singer angestoßen wurde. Die Ergebnisse der Hirnforschung, so weist Hagner nach, stammen nicht allein aus der Abgeschiedenheit des Labors, sie sind aufs engste mit kulturellen Deutungen verbunden, in denen ihnen ein Stellenwert zugemessen wird, der durch Messungen nicht zu rechtfertigen ist.
Gerade die computergenerierten Gehirnbilder sind hierfür ein Beleg. Hagner deutet sie als eine nach "innen gewendete Physiognomik", die wie ihre nach außen gewendete Vorläuferin nur höchst vage Anhaltspunkte darüber zu liefern vermag, wie es um den geistigen oder charakterlichen Zustand der betreffenden Personen steht. Wäre es anders, müßte man sich ernsthaft Sorgen darüber machen, "daß die Hirnforschung am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts Instrumente in die Hand gespielt bekommen hat, mit denen der Traum von einer umfassenden Biologie des Geistes zum Alptraum menschlicher Selbstfesselung werden könnte".
So könnte es kommen, wenn es den Neurowissenschaften eines Tages gelänge, unsere Gedanken zu lesen und damit "dem Geist bei der Arbeit" zuzusehen. Mit der hergebrachten Lebensform des Menschen wäre es dann vorbei. Denn "um von einer Situation in die nächste zu gelangen, orientieren wir uns an Gedanken, nicht an cerebralen Aktivitätsmustern. Doch folgt man einigen Hirnforschern, so müßte sich das Verhältnis mit der Visualisierung der Hirnvorgänge beim Denken umkehren. Das neuronale Geschnatter ist das Reale, der Gedanke das Phantastische."
Vollmundige Spekulationen
Natürlich ist auch das wieder ein Übergang von Science zu Fiction. Er markiert aber sehr genau die systematische Frage, um die es in den mit Verve propagierten Fiktionen der heutigen Neuroscience geht: ob es denn denkbar ist, eines nahen oder fernen Tages in dem Gehirn eines Menschen auf eine Weise zu lesen, daß man sich den Umweg über das Verstehen des Geists der Äußerungen der betreffenden Personen sparen kann.
Nun, wenn Gehirn und Geist geradewegs dasselbe wären, sollte dies keine unüberwindliche Schwierigkeit darstellen. Aber sind sie es? Halten wir uns der Einfachheit halber an das Verhältnis von Gehirnzuständen und Gedanken. Wer den Gedanken hat, daß Schnee weiß ist, befindet sich in einem bestimmten Gehirnzustand - soviel dürfte gewiß sein. Nur ist deswegen dieser bestimmte Gedanke kaum mit einem bestimmten Gehirnzustand identisch. Denn daß unterschiedliche Personen denselben Gedanken haben, heißt noch lange nicht, daß sie denselben Gehirnzustand aufweisen; jede von ihnen mag diesen Gedanken mit jeweils anderen Gedanken, Assoziationen und Emotionen verbinden.
Wie also lassen sich Gedanken als Gedanken individuieren? Nicht durch das Starren auf bildlich oder sonstwie repräsentierte Gehirnzustände, sondern allein durch das Erfassen seines jeweiligen Gehalts im Medium einer handelsüblichen intersubjektiven Sprache. Das bedeutet: Der Beobachter von Gehirnprozessen muß den Gedanken, dessen neurophysiologisches Korrelat er in einem beobachteten Gehirn ausmachen will, selbst bereits auf die gewöhnliche Weise verstanden haben, bevor er seine Realisierung im Kopfe dieses oder jenes Mitmenschen ausmachen kann.
Nur hier, in der sozialen Praxis des wechselseitigen Verstehens, lassen sich Gedanken überhaupt identifizieren. Nur hier gewinnt die Rede von Gedanken und allem, was mit ihnen zusammenhängt - und also vom "Geist" des Menschen -, überhaupt einen Sinn. Daß Gedanken, wenn sie jeweils gedacht werden, auch Gehirnzustände sind, bedeutet nicht, daß sie Gehirnzustände sind. Sie sind Inhalte des Denkens von Lebewesen, die im Zuge ihrer natürlichen und kulturellen Evolution die Gehirne entwickelt haben, die sie befähigen, sich im Medium sprachlich artikulierter Gedanken zu orientieren. Die "Cerebralisierung des Menschen" muß den Menschen verkennen, weil sie den Sinn seiner gedanklichen und sonstigen Lebensäußerungen zu neutralisieren versucht.
Es sind Gründe dieser Art, die Hagner in Sachen einer angeblich bevorstehenden Lesbarkeit des Geistes vermöge einer Observation an Gehirnen von einem "Irrtum" sprechen lassen. "Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist im Labor ein notorischer Feind ausgemacht worden, und das ist der Mensch selbst", notiert er anläßlich eines Kommentars zu den Deutungen der berühmten Experimente von Benjamin Libet. Mit ihren subjektiven Reaktionen, so die Befürchtung, verunreinigen die Probanden die Resultate der erstrebten objektiven Messungen am Gehirn. Würde dieser Feind aber aus den Laboren vertrieben, so hätte sich die Gehirnforschung ihres aufregendsten Gegenstands beraubt. Sie könnte über geistige Prozesse gar nichts mehr ermitteln, denn sie wüßte nicht länger, nach welchen Spuren welcher Gehalte sie im Feuer des neuronalen Geschehens sucht.
Das lebensweltlich erlernte und erprobte Verstehen von Gedanken, Gefühlen und Handlungen nämlich stellt den Schlüssel auch und gerade zu einer naturwissenschaftlichen Erschließung des menschlichen Geistes dar. Wird dieser Schlüssel weggeworfen, bleiben der Hirnforschung in Sachen Geist und Gehirn nur vollmundige Spekulationen, deren Haltbarkeitsdatum, wie Hagner nüchtern bemerkt, "nicht wesentlich länger als das des Joghurts im Kühlregal" ist.
MARTIN SEEL
Michael Hagner: "Der Geist bei der Arbeit". Untersuchungen zur Hirnforschung. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 284 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit großen Gewinn hat der Hirnforscher Ernst Pöppel die historischen Untersuchungen zur Hirnforschung von Michael Hagner gelesen. Auch wenn er nicht in jeder Frage derselben Meinung ist wie der Autor kann er das Buch vor allem seinen Zunft-Kollegen nur ans Herz legen, helfe es doch, die eigene Tätigkeit im gesellschaftlichen Rahmen besser zu verstehen. Zudem hat Pöppel viel über die historischen Wurzeln seines Fachs gelernt. Er hebt hervor, dass der Autor eine Vielzahl von Themen aufgreift, etwa Sprache und Sprechen, das Leib-Seele-Problem, die Lokalisation von Funktionen im Gehirn, Hirnforschung und Psychoanalyse, Gesichts- und Gehirnverletzungen, Restitution von Funktionen nach Hirnschädigungen, Menschenbilder und Bilder von Menschen, Aufmerksamkeit und Film usw. Er teilt insbesondere Hagners Kritik an der Theoriearmut der heutigen kognitiven Neurowissenschaften und deren Bildversessenheit. Zudem begrüßt er die Ausführungen über die enorme Öffentlichkeitswirksamkeit der Hirnforschung, die zu einer Art "pop science" geworden sei. Allerdings sieht Hagner die Konsequenzen der modernen Hirnforschung in Pöppels Augen ein wenig zu negativ. Natürlich kann sie die "großen Probleme der Menschheit" nicht lösen. Im Kleinen aber leistet sie nach Pöppels Ansicht durchaus wertvolle Arbeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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